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Hunger, Schulden und die USA

Die neue Regierung in Argentinien

Exakt an dem Tag, an dem sich der Tod des ehemaligen Präsidenten Néstor Kirchner zum neunten Mal jährte, fanden die argentinischen Nationalwahlen statt. Die schon im Voraus bekannten Wahlgewinner*innen Alberto Fernández und Cristina Fernández de Kirchner (letztere ist mit ersterem weder verwandt noch verschwägert) werden bei ihrer Amtsübernahme am 10. Dezember 2019 eine ähnlich desolate Lage vorfinden wie Néstor Kirchner 2003.

Roberto Frankenthal

Am 25. Mai 2003 übernahm Néstor Kirchner sein Amt, nachdem er beim ersten Wahlgang zur Präsidentschaft nur 22 Prozent der Stimmen erhalten hatte. Der Gewinner des ersten Wahlganges, der ehemalige Präsident Carlos Saúl Menem, beschloss beim zweiten Wahlgang, den er mit sehr großer Wahrscheinlichkeit verloren hätte, nicht mehr anzutreten.

Die Wahlgewinner vom 27. Oktober 2019 können sich hingegen auf eine Mehrheit von über 48 Prozent der Stimmen berufen und einen Vorsprung von 8 Prozent gegenüber dem amtierenden Präsidenten Mauricio Macri, der als erster demokratischer Präsident seit 1983 nach seiner ersten Amtszeit nicht wieder-gewählt wird. Bei den parteiinternen Vorwahlen vom 11. August 2019 war der Vorsprung von „Les Fernández“ (wie die beiden Wahl43gewinner*innen in der gendergerechten argentinischen Sprache jetzt genannt werden) sogar noch größer, doch Mauricio Macri konnte in beiden Wahlgängen mehr als zwei Millionen weitere Stimmen mobilisieren („Les Fernández“ nur 200000 Stimmen mehr). Im Unterschied zu 2003 hat die zukünftige Regierung die Unterstützung des gesamten Peronismus, eine heterogene Koalition, die Volkskonservative, Sozialdemokraten, Gewerkschaften und soziale Bewegungen vereint.

In der ila 428 (Sept. 2019) ist dargestellt worden, wie prekär die Lage der argentinischen Wirtschaft ist. Die Weigerung des IWF, den letzten Teil (5,4 Milliarden Dollar) des im Juni 2018 beschlossenen 57 Milliarden Dollar schweren Darlehens an Argentinien auszuzahlen, zwang die Regierung Macri dazu, bestimmte restriktive Maßnahmen im Geldverkehr zu treffen, um die Kapitalflucht zu begrenzen.

Optimist*innen gehen davon aus, dass die neue Regierung nach der Amtseinführung am 10. Dezember 2019 etwa zehn Milliarden Dollar an flüssigen Mitteln in der argentinischen Zentralbank vorfinden wird. Zwangsläufig wird die neue Regierung ein Umschuldungsabkommen mit dem IWF treffen müssen. Allerdings ist die im Juni 2018 beschlossene argentinische Verpflichtung gegenüber dem IWF juristisch anfechtbar, denn die Macri-Regierung hatte sich nicht einmal an die gesetzlichen Bestimmungen gehalten, als sie das Darlehen aufnahm. Alle juristischen Schritte, die von der argentinischen Verfassung vorgeschrieben sind, wurden erst nach der Erteilung des Darlehens eingeleitet, das im Übrigen auch nicht vom argentinischen Parlament beschlossen wurde. Zurzeit liegt die Inflation bei etwa 56 Prozent und der Zinssatz für Kredite der Zentralbank bei etwa 70 Prozent.

Unter diesen finanziellen Rahmenbedingungen muss die zukünftige Regierung auch ihre zwei anderen Ziele erfüllen, die Bekämpfung des Hungers und die Wiederbelebung des Binnenmarktes. Nach den Vorwahlen im August 2019 beschloss das argentinische Parlament, Sondermaßnahmen zur Beseitigung der Hungersnot in der Bevölkerung einzuführen. Aber die dafür notwendige Umsetzung durch die Macri-Exekutive fand nicht statt, ebenso wenig wie viele andere soziale Maßnahmen, die zwar im nationalen Budget auftauchen, dann aber nicht oder nur teilweise umgesetzt werden.

Über 60 Prozent der vorhandenen Produktionsanlagen der Industrie sind vorübergehend stillgelegt wegen der schweren Krise der argentinischen Wirtschaft. Die Wiederbelebung des Binnenmarktes wird nur stattfinden können, wenn der Staat erneut in den Markt eingreift und zum Beispiel die Ausfuhrzölle für Getreide oder Mineralien erhöht.

Mitte November 2019 erschien in der Tageszeitung „Página12“ eine Liste mit den möglichen Minister*innen der kommenden Regierung. Im Allgemeinen kann man sagen, dass sie das breite Spektrum des Peronismus vertreten und relativ wenige Frauen für die Ministerien vorgesehen sind. Malena Galmarini, Ehefrau von Sergio Massa, ehemaliger Kabinettschef von Cristina Fernández de Kirchner (CFK) zwischen 2008 und 2009 und Gründer der eher konservativ peronistischen Partei Frente Renovador, wird die Ministerin des neu gegründeten Ministeriums für Gleichheit und Genderfragen. Die ehemalige Vizegouverneurin der Provinz Santa Fé, María Eugenia Bielsa, soll das Ministerium für Lebensraum und Wohnungsbau führen. Marcela Losardo, ehemalige Partnerin in der Anwaltskanzlei von Alberto Fernández, soll Justizministerin werden.

Eine sehr wichtige Rolle kommt Guillermo Nielsen zu. Der ehemalige argentinische Botschafter in Berlin (2008-2010) war einst unter dem Wirtschaftsminister Roberto Lavagna (2002-2005) mit den Verhandlungen zur ersten Umschuldung der Regierung Néstor Kirchners beauftragt. Eine ähnliche Rolle soll er jetzt als Wirtschaftsminister spielen. Der ehemalige Staatssekretär für kleinere und mittlere Unternehmen und ehemalige Präsident der staatlichen Banco Nación, Matias Kulfas, soll das Produktionsministerium leiten.

Eine große Verantwortung trägt Daniel Arroyo, früher Staatssekretär für soziale Entwicklung unter Néstor Kirchner und Minister für soziale Entwicklung in der Provinz Buenos Aires (2007-2013), der als neuer Minister für soziale Entwicklung die Hungersnot anpacken muss. Das Außenministerium soll von Felipe Sola, früherer Gouverneur der Provinz Buenos Aires (2002-2007) und langjähriger Nationalabgeordneter, geführt werden. Eduardo Wado de Pedro, früher Generalsekretär des Präsidialamtes und Nationalabgeordneter, soll das politisch wichtige Amt des Innenministers übernehmen. Die Koordinierung dieses Regierungsteams obliegt Santiago Cafiero als Kabinettschef. Der Spross einer peronistischen Familie, die schon unter Juan Domingo Perón in den 40er-Jahren öffentliche Ämter bekleidete, ist der engste Wahlkampfberater von Alberto Fernández gewesen.

Zur Zeit der Amtseinführung von Néstor Kirchner 2003 waren die USA mit den selbst verursachten Krisen in Irak und Afghanistan beschäftigt. Im Jahr 2005 konnte gemeinsam mit Brasilien (Lula) und Venezuela (Chávez) der Vorstoß der USA zur Errichtung einer Freihandelszone für ganz Lateinamerika (ALCA) beim Gipfeltreffen von Mar del Plata gestoppt werden. Heute befindet sich die Hegemonialmacht USA auf dem Rückzug im Vorderen Orient und besinnt sich wieder auf ihre Rolle in der westlichen Hemisphäre. Dabei müssen sich die USA mit einem neuen Herausforderer auseinandersetzen: China. Die USA kehren zu der Einstellung zurück, Lateinamerika als ihren eigenen Hinterhof zu betrachten. Und dort muss der Einfluss Chinas begrenzt werden. Die zukünftige argentinische Außenpolitik wird mit dieser Situation leben müssen und dabei den starken Einfluss der USA auf ihren Hauptgläubiger, den IWF, berücksichtigen.

Die Systemkrise in Chile, der Staatsstreich in Bolivien und der knappe Wahlsieg konservativer Kräfte in Uruguay in der Stichwahl vom 24. November 2019 (vgl. Beitrag in dieser ila) bilden nicht gerade einen positiven Rahmen für Argentinien. Dazu gesellt sich die offene Feindschaft zwischen dem ultra-rechten brasilianischen Präsidenten Bolsonaro und „Les Fernández“.

Die traditionelle brasilianische Außenpolitik, die von der Bürokratie des Außenministeriums im Itamaraty-Palast bestimmt wurde, wird von Bolsonaro auf den Kopf gestellt. Keine Rücksicht auf Argentinien, den Mercosur-Vertrag eventuell kündigen, wenn nicht alle nach Bolsonaros Pfeife tanzen, die Vormacht der USA in Lateinamerika anerkennen und gleichzeitig ein Freihandelsabkommen mit China schließen, das sind die Maßnahmen Bolsonaros, die in Buenos Aires auf wenig bis gar kein Verständnis stoßen. Trotzdem müssen die Beziehungen zu Brasilien irgendwie aufrechterhalten bleiben, denn das Nachbarland ist der wichtigste Handelspartner Argentiniens. Ab dem 10. Dezember 2019 werden „Les Fernández“ aus der Casa Rosada in Buenos Aires mit diesen Situationen konfrontiert. Der Sommer 2019/2020 wird sicherlich (und nicht nur klimatisch) heiß werden.