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Ein Gesundheitssystem, das krank macht

Chiles Klassenmedizin und die aktuellen Proteste

Die Protestwelle in Chile (vgl. ila 430) dauert an und umfasst inzwischen alle Bereiche des öffentlichen Lebens. Die Ursprünge der Bewegung für Reformen im Gesundheitswesen liegen dabei schon weit zurück, können sich nun nahtlos in den breiten Aufstand einfügen und mit den Protesten in anderen Gesellschaftsbereichen verbinden.

Sarah Moldenhauer

Wer in Chile krank wird, hat ein ernsthaftes Problem. Ohne gehöriges Eigenkapital ist die Versorgung als schlichtweg mangelhaft zu beschreiben, und das im reichsten Land Südamerikas.

Für besonderes Aufsehen sorgte der Fall Amelia 2018 in Valparaíso. Amelia war ein Jahr und neun Monate alt, als sie einen schweren Grippeinfekt bekam. Ihre Eltern gingen mit ihr in die Notaufnahme des Van-Buren-Hospitals, des größten Krankenhauses in Valparaíso. Dort war allerdings kein Bett frei und auch in keinem anderen Krankenhaus in der Gegend und die Familie wurde wieder nach Hause geschickt. Amelia starb wenig später an einer Lungenentzündung. Auch wenn die diensthabende Ärztin mittlerweile zu fünf Jahren Berufsverbot verurteilt wurde, löst dies natürlich keineswegs die grundlegenden Probleme, die Amelias unnötiger Tod aufzeigt.

Es gibt in Chile ein Zwei-Klassen-Gesundheitssystem: einerseits das öffentliche Gesundheitssystem FONASA, andererseits das private System ISAPRE. Zudem gibt es noch eine dritte Klasse, die particular, die etwa auf Menschen zutrifft, die nicht über eine chilenische Personalnummer (RUT) verfügen und daher für jede einzelne medizinische Dienstleistung den Höchstsatz bezahlen müssen.

Auf der Website der Superintendencia de Salud, etwa gleichzusetzen mit dem chilenischen Gesundheitsministerium, ist dieses komplexe System der Gesundheitsvorsorge erklärt.1 Danach entspricht FONASA (Fondo Nacional de Salud) einer öffentlichen Gesundheitsvorsorge. Das ist jedoch nicht gleichzusetzen mit einer gesetzlichen Versicherung in Deutschland. FONASA teilt sich wiederum in vier Unterklassen auf. Zuunterst diejenigen, die an der Armutsgrenze leben, weniger als 276000 Chilenische Peso im Monat (etwa 320 Euro) verdienen oder die Mindestrente beziehen (im schlechtesten Fall 75000 Pesos, also etwa 88 Euro). Diese beiden Gruppen müssen für medizinische Konsultationen keine Eigenleistung aufbringen. Gruppen C und D umfassen diejenigen, die mehr als 276000 Pesos beziehungsweise mehr als 403000 Pesos verdienen. Sie müssen zehn beziehungsweise 20 Prozent Eigenleistung erbringen. All diese Menschen haben kostenlosen Zugang zu Krankenhäusern und Consultorios públicos (Polikliniken). Dies schließt allerdings nicht die Finanzierung evtl. nötiger Medikamente oder Operationen ein. Es handelt sich lediglich um die Diagnosen. Zudem müssen vor allen Behandlungen sogenannte bonos gekauft werden, also Behandlungsscheine, die sie berechtigen, eine ärztliche Institution aufzusuchen.

Wer über die privaten, profitorientierten Krankenversicherer Instituciones de Salud Previsional (ISAPREs) versichert ist, muss sich zwischen sieben Anbietern entscheiden. Etwa 20 Prozent der Chilen*innen sind bei einer ISAPRE versichert. Sie unterliegen einer auch in Deutschland bekannten Risikoeinschätzung, die ihren Beitragssatz bestimmt:

„Da es sich bei den ISAPREs um an der Maximierung ihrer Gewinne interessierte Privatunternehmen handelt, richten sie ihre Beitragsstruktur nach einer 'Risikoauswahl' aus, was bedeutet, dass Menschen mit einem niedrigen Krankheitsrisiko niedrigere Beiträge zahlen und Zuzahlungen leisten.“ (https://www.boell.de/de/2013/09/10/spaltung-profit-und-ungleichheit-das-...)

Zudem können die ISAPRE-Anbieter jedes Jahr neu entscheiden, ob sie den Vertrag mit einem Versicherten kündigen oder nicht. „Wird eine chronische Erkrankung festgestellt, wird in aller Regel der Versicherungsvertrag gekündigt. Chilen*innen über 50 Jahre und Schwangere findet man daher kaum unter den Privatversicherten.“ (https://www.dw.com/de/chiles-zwei-klassen-medizin/a-5199421-0)

Im Krankheitsfall und bei Unfällen werden die über FONASA-Versicherten in ein staatliches Krankenhaus (hospital público), die Versicherten der ISAPREs in privaten Kliniken (clínicas) eingewiesen. Gegen einen enormen Aufpreis kann sich eine FONASA-versicherte Person auch in einer Privatklinik behandeln lassen. Für die meisten ist dies allerdings keine Option.

Zur Behebung der Mängel des öffentlichen Gesundheitssystems wurde 2005 das Programm AUGE (Plan de Acceso Universal de Garantías Explícitas) initiiert. Es sollte das Gesundheitssystem von 1980 an „neuen Realitäten“ anpassen. Unter anderem soll es die Behandlung einer Krankheit innerhalb von zwei Monaten nach der Diagnose garantieren. Trotz dieser Ankündigungen sind mit AUGE aber keine wesentlichen Verbesserungen zu beobachten.

Allein zwischen Januar und Juni 2018 starben 9724 Menschen, die auf Wartelisten des öffentlichen Gesundheitssektors standen.2 Viele von ihnen benötigten lediglich einen Termin bei einem Spezialisten oder eine Operation. Ein Teil von ihnen, etwa 480 Menschen, waren auch im AUGE-Programm eingeschrieben. Im gesamten vergangenen Jahr starben in ganz Chile 26000 Menschen, die auf Wartelisten standen3, davon waren rund eintausend im Programm AUGE eingeschrieben.

Angesichts der extremen Ungleichheit, die dem Gesundheitssystem Chiles innewohnt, ist es nicht verwunderlich, dass die aktuellen, tiefgreifenden Proteste in Chile auch eine grundlegende Veränderung des Gesundheitssystem fordern. So ist die Kampagne Justicia para Amelia (https://www.justiciaparaamelia.cl/) in den aktuellen Protesten sehr präsent. Die Forderungen nach grundlegenden Reformen im Gesundheitswesen selbst existieren indessen schon lange und werden nicht als Neuüberlegungen in die Debatten eingebracht.

Beispielsweise gab es bereits im März und April dieses Jahres den IV. Congreso de Salud, der landesweit organisiert wurde und aus dem konkrete Forderungen gegen die zunehmende Privatisierung der Gesundheitsvorsorge, etwa im Rahmen vom sogenannten „FONASA Plus“, hervorgingen.

Der Streik im Gesundheitswesen, der am 22. Oktober 2019 landesweit stattfand und in vielen Institutionen bis heute anhält, war bereits vor Beginn der Aufstände am 18. Oktober ausgerufen worden. Die Forderungen sind so weitreichend wie die Strukturfehler des chilenischen Gesundheitssystems. Die CONFUSAM (Confederación de Funcionarios de la Salud Municipal), der landesweit organisierte Gewerkschaftsdachverband der im Gesundheitswesen Arbeitenden, fordert vor allem eine deutliche Erhöhung der Haushaltsausgaben für den Gesundheitssektor, von derzeit rund fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes auf sechs.4 Dies würde im Übrigen auch den Empfehlungen der Welt-gesundheitsorganisation WHO entsprechen. Zudem fordert die Gewerkschaft, in der Hunderttausende der im Gesundheitswesen Tätigen organisiert sind, eine gesetzlich verankerte und für alle garantierte Gesundheitsversorgung. Die ISAPRE-, also privaten, Anbieter sollen dabei nur eine komplementäre Funktion erfüllen und nicht mehr wie bisher die einzige Option sein, die eine umfassende Gesundheitsversorgung garantiert.

In Valparaíso sind neben Gebäuden der großen Supermarktketten wie dem chilenischen Walmartableger líder vor allem Apotheken Zielscheibe für Plünderungen und Brandsätze geworden. Dass es vor allem diese Geschäfte trifft, ist kein Zufall, stehen sie doch symbolisch für das aktuelle Wirtschaftssystem des Landes und eben auch die neoliberale Gesundheitsvorsorge.