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Moro ohne Moral

Oder: Wie sich der Justizminister Brasiliens endgültig der Ethik entledigt hat

Es war voraussehbar, die brasilianische Regierung des Ex-Hauptmanns Bolsonaro zerlegt sich selbst. Schließlich schlossen sich bereits zu deren Start Machtblöcke zusammen, die untereinander Interessenskonflikte und Widersprüche aufweisen. Nun droht eine der wichtigsten Säulen, auf die sich die Regierung stützt, einzustürzen. Der Sheriff und Superminister Sérgio Moro, von Bolsonaro zum „nationalen Denkmal“ deklariert, ist in einen unglaublichen Justizskandal verwickelt.

Luiz Ramalho

Schauen wir uns das System Bolsonaro genauer an. Es steht auf vier wackligen Füßen: 1. den Militärs; 2. den ideologischen Fundamentalist*innen (einschließlich der Evangelikalen, in Brasilien auch die „Zirkusfraktion“ oder „die Bekloppten“ genannt); 3. den ultraliberalen Chicago Boys um Superwirtschaftsminister Guedes sowie 4. dem „Denkmal“, Ex-Richter und Minister für Justiz und Innere Sicherheit, Sérgio Moro.

Die Militärs wackeln und fallen: Allein in den letzten Wochen hat Ex-Hauptmann Bolsonaro drei Generäle aus hohen Positionen entlassen. Dazu gehörte der Präsident der brasilianischen Post, weil er sich wie „ein Gewerkschafter verhält“, so Bolsonaro. Er hatte sich gegen Privatisierungsmaßnahmen verwahrt. Ebenso fiel der Leiter der Indigenen-Schutzbehörde FUNAI, weil er seine Behörde verteidigte, und last not least der General in Ministerrang im Präsidialamt, Carlos Alberto Santa Cruz, der für die Beziehungen zum Parlament verantwortlich war. Kurz nach seiner Demission erklärte er in einem Interview: in der Regierung herrsche eine show de besteiras e fofocas – eine Schau von Dummheiten und Gerüchten.

Trotzdem sind und bleiben die Militärs jedoch eine zentrale Säule im Machtsystem Bolsonaros, über 200 Generäle und Ex-Offiziere sind in den verschiedenen Ebenen der Verwaltung und in nachgeordneten Behörden untergebracht. Nachfolger von General Santa Cruz wurde nun ein General aus dem aktiven Dienst und aus der wichtigsten Militärregion Brasiliens, General Baptista Pereira,  ein persönlicher Freund des Präsidenten.

Nachdem der Guru Bolsonaros, Olavo de Carvalho aus den USA (siehe Beitrag in ila 426), die Militärs, insbesondere den Vizepräsidenten General Hamilton Mourão, schlimm beschimpft hatte („Hosenscheißer“), hält sich Mourão zurück. In der Truppe gibt es Unruhe, nicht nur um Fragen der Außenpolitik, sondern auch um die von Bolsonaro befürwortete Freigabe von Waffen (die aber inzwischen weitgehend vom Kongress kassiert wurde).

Die ideologisch Bekloppten bleiben einigermaßen firm, mussten aber die Entlassung des ersten Bildungsministers Ricardo Vélez, einem Schüler von Olavo de Carvalho, hinnehmen. Vélez hatte Schüler*innen am Morgen zum Fahnenappell zusammenrufen wollen, die Schuldirektor*innen sollten sie dabei filmen und das Filmmaterial an das Ministerium senden. Das war nicht nur illegal, sondern wegen der schlechten Presse schlicht zu viel für die Bolsonaro-Regierung. Sein Nachfolger, Abraham Weintraub, beschimpfte ganze Universitäten (er behauptete, dort herrsche „Sodom und Gomorrha“, Menschen würden nackt herumliegen etc.). In der Folge kürzte er brutal die Mittel für Forschung und Lehre um bis zu 70 Prozent und bescherte der Regierung damit den ersten Massenprotestaufmarsch der Studierenden.

Außenminister Araújo hielt es trotz Einladung nicht für nötig, nach Deutschland zu kommen, dafür besuchte er Ungarn und Polen; Umweltminister Ricardo Salles, in erster Instanz wegen  administrativen Fehlverhaltens bereits verurteilt, cancelte in letzter Minute aus Angst vor kritischen Nachfragen zu seiner skandalösen Umweltpolitik und vor allem zu der rasant wachsenden Entwaldung in Amazonien eine Reise in die skandinavischen Länder und nach Berlin. Und Agrarministerin Teresa Cristina macht ihrem Titel als „Giftkönigin“ alle Ehre und legalisierte Dutzende von Pestiziden, die nachweislich gesundheitsschädlich und außerhalb Brasiliens verboten sind. Die Reihe der Missetaten und Skandale lässt sich leider täglich verlängern.

Die Ultraliberalen wackeln und fallen zum Teil. Der erste Chicago-Boy, Joaquim Levy, musste seinen Posten als Chef der mächtigen Entwicklungsbank BNDES räumen und der Golden Boy Guedes hat große Schwierigkeiten, seine Rentenreform im Parlament durchzubringen, so dass er schon mal mit Rücktritt gedroht hat. Der Wirtschaft geht es schlecht, die Arbeitslosigkeit steigt und die Rentenreform, die zurzeit im Parlament besprochen und wahrscheinlich beschlossen wird, entspricht nicht mehr ganz seinen im Übrigen grausigen Vorstellungen.

Und nun schließlich ein Skandal rund um die vierte Säule: Ex-Bundesrichter Moro, der Mann, der Ex-Präsident Lula zu einer hohen Gefängnisstrafe verurteilt und alles getan hat, damit er nicht wieder kandidieren kann. Schließlich hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit Lula, und nicht Bolsonaro, die Wahl gewonnen. Moro ist der Mann, der zum Justizminister Bolsonaros ernannt wurde und dem ein Sitz im Obersten Verfassungsgericht versprochen wurde.

Was ist geschehen? Moro geriet in arge Schwierigkeiten, als seine Nachrichten zwischen ihm und Staatsanwalt Dallagnol, einem militanten Evangelikalen, der als Ankläger in den Prozessen gegen Lula auftrat, über die Messenger-App Telegram ab 2014 geleakt wurden. Sie werden durch das Netzwerk „The Intercept Brasil“, das von dem Journalisten Glenn Greenwald journalistisch geführt wird, peu à peu veröffentlicht. Greenwald war derjenige Journalist, der seinerzeit mit Edgar Snowden dessen Enthüllungen aufbereitet und veröffentlicht hatte. Er lebt in Brasilien und ist mit dem brasilianischen Bundesabgeordneten und LGBT-Aktivisten David Miranda verheiratet.

Was wurde nun veröffentlicht? Die Dialoge, die bei Telegram geführt wurden, zeigen, dass Richter Moro mit dem Staatsanwalt Dallagnol – rechtlich mehr als fragwürdig – ganz eng alle Verfolgungsschritte der Anklage gegen Lula abgesprochen hatte. Zwischendurch meldete sogar der Hardliner Dallagnol Zweifel an den Beweisen für den Prozess an, Moro ermunterte ihn aber weiterzumachen und gab konkrete Tipps, wie er vorgehen solle. Der Austausch der Botschaften zwischen den beiden enthüllt eine verheerende Missachtung rechtsstaatlicher Prinzipien. Zwischendurch schlägt Moro auch mal vor, eine viel zu schwache Staatsanwältin („könntet ihr sie nicht besser schulen?“) aus dem Prozess auszuschließen, oder er schmiedet Pläne mit seinem Verbündeten Dallagnol, wie ein Interview mit Lula, das bereits von einem Verfassungsrichter genehmigt war, verhindert werden soll. Es hätte vor dem zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahl stattgefunden und wäre eventuell wahlentscheidend gewesen. Das Interview fand nicht statt. Oder sie besprachen, dass eine Anklage gegen den Ex-Präsidenten Fernando Henrique Cardoso der Partei PSDB nicht weiter verfolgt werden sollte („wir wollen Verbündete nicht vor dem Kopf stoßen“).

„The Intercept Brasil“ veröffentlicht nun weiterhin täglich portionsweise den Austausch zwischen Richter Moro und Staatsanwalt Dallagnol, demnächst sollen auch Audiobotschaften hinzu kommen. Moro (und Dallagnol) hatten zunächst den Inhalt nicht bestritten, sondern nur die „kriminelle Art“ der Beschaffung. Inzwischen versuchen sie den Vorgang zu relativieren, indem sie behaupten, die Inhalte könnten ja auch manipuliert worden sein. „The Intercept Brasil“ hat der Zeitung „Folha de São Paulo“ Zugang zum Material verschafft und deren Journalist*innen konnten anhand von Plausibilitäten den Wahrheitsgehalt der Aussagen bestätigen.

Glenn Greenwald wird heute offen mit dem Tod bedroht, seine Ausweisung (er ist US-Amerikaner) wird gefordert und als Fake News wird etwa verbreitet, dass sein Mann („Dein sexueller Partner“ so ein Abgeordneter der Regierungspartei PSL) nur deswegen im Parlament sitzt, weil ein russischer Oligarch Jean Wyllys für dessen Mandatsverzicht (David Miranda ist der Nachrücker) Millionen bezahlt habe.

Moro musste sich inzwischen im Senat und bald auch im Abgeordnetenhaus erklären. Seine Aussagen dazu haben sich im Laufe der Tage verändert. Zunächst bezogen sie sich auf die Tatsache, dass er kriminell gehackt worden sei. Dann hieß es, es sei ein ganz normaler Austausch zwischen Prozessbeteiligten gewesen (was sofort juristisch widerlegt wurde). Dann änderte er die Taktik und zweifelte an der Authentizität der Aussagen: die könnten ja manipuliert worden sein. Inzwischen ist er auch hier vorsichtig geworden, denn „The Intercept" gab bekannt, dass genug Enthüllungsmaterial für die nächsten Monate vorhanden ist, auch Audios mit Originalton.

Bolsonaro hielt sich zunächst zurück, ging dann in die Offensive und verteidigte seinen Minister. Fällt Moro, wäre er empfindlich getroffen. Schon jetzt wird die Personaldecke immer dünner: Zuletzt hat er ins Präsidialamt einen Ex-Militärpolizisten aus Rio berufen sowie einen völlig unbekannten 38-jährigen Ökonomen zum Chef der BNDES ernannt, zwei bedeutungslose Figuren, aber beide auch Freunde seiner Söhne.

Die möglichen Folgen dieses Skandals sind klar: Die Annullierung der Verurteilung Lulas gehört dazu. In jedem funktionierenden Rechtsstaat würden solche, mit Manipulationen und Irregularitäten zustande gekommenen Urteile aufgehoben und der Minister müsste gehen. Aber hier ist die Rede von Brasilien, das von Ex-Hauptmann Bolsonaro regiert wird. Der Moro-Gate geht also weiter.