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ohnegeldohnearbeitohnesprache

... und daher ein Roman: „Drei Verräterinnen“ von Esther Andradi
Gaby Küppers

„Berlin ist eine Kurzgeschichte“ (Berlín es un cuento, 2007) heißt das Buch im spanischen Original. Das ist genauso richtig wie der Titel der ein Dutzend Jahre später veröffentlichten deutschen Ausgabe „Drei Verräterinnen“ (2019). Die beiden Überschriften setzen nur an unterschiedlichen Aspekten des Romans an: „Und von wo aus sollte sie ihre Geschichte erzählen?“ (S. 40), fragt Die Schriftstellerin, die zu dem Zeitpunkt noch keine ist, als sie sich entschließt, einen Roman über ... ja, über was? zu schreiben. Irgendetwas mit Berlin.

Wir sind mittendrin. Das Ganze hat Hand und Fuß, aber keinen Anfang und kein Ende. So wie Rayuela, der Roman von Esther Andradis Landsmann Julio Cortázar (man verzeihe mir den Vergleich mit einem Autor, mir fiel gerade keine Autorin ein, G.K.). Er lädt seine Leser*innen ein, die Buchkapitel von Rayuela in jeder beliebigen Reihenfolge zu lesen und daraus einen Sinn zu stiften. So könnte auch eine Anleitung zum vorliegenden Roman lauten.

Bety, die die zitierte Frage stellt, ist nämlich in eine Großstadt hineingeplumpst „ohnegeldohnearbeitohnesprache“ (S. 76) und stellt fest, dass ihre Odyssee von Buenos Aires über Peru nach Europa ganz umsonst war. In Peru hatte sie sich in Jan, Den Deutschen, verliebt, aber Der Deutsche will in Berlin nichts mehr von ihr wissen.

Wir befinden uns in den 80-ern, Berlin ist ein festummauertes Biotop von Alternativen, 68er-Jünger*innen und Lebenskünstler*innen, die in Hinterhof-WGs mit Klos auf halber Treppe leben und sich gerne auf den Psychotrip begeben („Wir müssen reden“). Und dann zu Hausbesetzer*innen werden, weil das „Crack“ genannte Haus, in dem ihre WG liegt, „luxussaniert“ werden soll. Oder direkt abgerissen und als Edelwohn- und Gewerbekomplex wiederauferstehen soll.

Das, was Bety in diesem exotischen Berlin erlebt, hat in der argentinischen Rezeption das meiste Interesse geweckt. Das ist nur zu verständlich, handelt es sich doch um Geschichten einer Stadt, die es so nicht mehr gibt. Aber das dürfte bei deutschen Leser*innen kaum anders sein. Die ständige Auseinandersetzung mit den beiden Welten Lateinamerika und Berlin (pars pro toto), der permanente Vergleich vom Fundus der jeweils meist gebrauchten Schimpfwörter bis zur Zukunft der Arbeit in beiden Kontinenten ziehen nicht nur in Argentinien in den Lektürebann. Die Aufbruchstimmung, durch die sichtbare Systemkonfrontation an der Mauer noch befeuert, mit Rudi-Dutschke-Lektüre am Küchentisch, endlosen WG-Frühstücken und Nacktbaden in Berliner Seen, war wohl etwas Einmaliges. Die vielen kleinen Geschichten, die, kaum entrollt, mit ihrem Personal wieder verschwinden, wecken sicher auch hierzulande Erinnerungen an Selbsterlebtes oder auch nur Selbstgehörtes, gerade, wo ähnliche Lebensentwürfe und -orte Karrieredenken und Glaspalästen gewichen sind. Das weiß auch Bety, als sie am Ende die Geschichte, ihre Geschichte, die Geschichte Berlins, in einem Zug aufschreibt, „damit sie nicht zwischendurch abriss“ (S. 207).

Am Ende? Die Rekapitulation der desillusionierenden Lebensläufe der ehemaligen WG-Genoss*innen auf der vorletzten Buchseite führt zurück zu Motiven des Anfangs, was dann doch die Rayuela-Beliebigkeit in eine Abrundung überführt. In einer linearen Erzählung wäre Bety längst nicht mehr da, ihr Romanprojekt als Grund, in Berlin zu bleiben, sinnlos geworden, denn „die Welt war ein Taschentuch und sie hatte ein gebrauchtes erwischt“ (S. 205). Will sagen: Ihre Aufenthaltserlaubnis lief ab und sie wurde abgeschoben.

Solch ein profaner Grund aber zählt in Esther Andradis Buch nicht. Betys Romanfragmente über „Drei Verräterinnen“ existieren und nehmen auf lineare Logik keine Rücksicht. Eine Schöne im Rollstuhl, eine Dicke und eine Alte unterlaufen zudem jedes herkömmliche Konzept von Weiblichkeit, „verraten“ es – daher der Titel. Sie sind grausam und gewalttätig, vollbringen Unfassbares, für einen traditionellen Roman Unfassbares. Passagen dieser „Drei Verräterinnen“ sind über das gesamte Buch verteilt, brechen ein in Erzählungen, würgen sie ab. Da ist frau froh, auf der nächsten Seite doch wieder alte Bekannte zu treffen, Martín, der einst aus der argentinischen Militärdiktatur floh, El Profeta, der das Folterstadion Pinochets überlebte, oder Sigrid, die durch Lateinamerika trampte, Jan, der von einem dortigen Drogentrip nach Berlin zurückfand, oder Shia, Shantia, Charlie oder Paulinho A. Eine Multikultigesellschaft, die es vor 40 Jahren eben auch schon gab. Und zwar lustvoll.

Multikulti ganz konkret: Zitate und Persönlichkeiten aus dem kulturellen Leben im weiteren Sinne durchziehen den Roman. Nicht einfach für die Übersetzerin Christiane Quandt. Man merkt es dem Text an, dass es schwierig war, dem absichtsvollen Schillern des Originals einigermaßen gerecht zu werden. Ein Glossar am Buchende gibt Auskunft über Quellen, Autor*innen, Sänger*innen. Aber da hat der Verlag wohl gespart. Um Systematik (angefangen von Referenzseitenzahlen), Grammatik und Rechtschreibung hineinzubringen, hätte es einer gründlichen Überarbeitung des Glossars bedurft.