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Nächster Halt: American Dream?

Als Freiwillige in einer Migrantenherberge im Süden Mexikos

Als ich am späten Nachmittag die Herberge für Geflüchtete „Hermanos en el Camino“ erreiche, ist das massiv gesicherte Tor geschlossen. Um Tor und Mauern ist Nato-Stacheldraht gewickelt. Ich befinde mich in Ixtepec, einer Kleinstadt im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca, rund 450 Kilometer von der guatemaltekischen Grenze entfernt. Nach mehrmaligem Klingeln öffnet sich ein kleines Fenster und strenge Augen blicken durch den Spalt. „Wer bist du?“, werde ich vom Pförtner gefragt. „Ich bin die neue Freiwillige“, antworte ich verschüchtert. Nach einem weiteren prüfenden Blick öffnet sich das Tor und ich darf eintreten. Sofort fällt mir ein großer Polizei-Pick-Up auf, der direkt hinter dem Tor parkt. Warum das Gelände so hermetisch abgeriegelt werden muss, soll mir erst später klar werden.

Annuschka Eckhardt

Schwester Lupita, eine resolute Frau Mitte vierzig, schüttelt meine Hand und beginnt prompt mich herumzuführen. Die Ordensschwester ist eine von sieben festen Mitarbeiter*innen. Sie zeigt mir ein winziges, einstöckiges Häuschen, in dem sie die Verwaltungsaufgaben erledigt. Dann führt sie mich zu einem offenen, kaum überdachten Konstrukt, das nur schwer als Kapelle zu identifizieren ist, sowie zu einem zweistöckigen Wohnhaus für Frauen, Kinder und die Freiwilligen. Vom staubigen Fußballplatz tönen laute Schreie, die Honduraner liefern sich gerade ein Match gegen die Freiwilligen. Ein Mädchen zerrt aufgeregt an meiner Hand: „Komm schnell, die Messe beginnt!“ Wir setzen uns in der improvisierten Kapelle auf den Boden, zusammen mit mehr als hundert anderen. An den Wänden hängen Dutzende Fotos von Vermissten. Pater Solalinde tritt nach vorne und begrüßt die Anwesenden mit einem fröhlichen Lied.

Der Pater, der die Albergue de Migrantes 2007 eröffnete, ist in ganz Mexiko durch seine humanitäre Arbeit bekannt. Doch seine Bekanntheit als Menschenrechtler und Aktivist wurde ihm zum Verhängnis. Im Jahr 2012 musste er ins Exil gehen, da die Bedrohungen der Narcos, also der Drogenmafia, zu heftig wurden. Laut eigenen Angaben erhielt er sechs Morddrohungen innerhalb von zwei Monaten, bevor er Mexiko für eine Zeit lang verließ. Sein Engagement verärgerte nicht nur die in Mexiko allseits präsenten Drogenkartelle, für die Entführungen mit anschließenden Lösegelderpressungen nur eine der lukrativen Einnahmequellen auf Kosten der Schutzsuchenden ist. Auch erboste seine humanitäre Tätigkeit lokale Regierungsmitglieder und Polizisten. Am 24. Juni 2008 drangen 50 Personen unerlaubt in die Herberge ein, darunter der Bürgermeister und mehr als ein Dutzend Polizisten, die damit drohten, das Gelände niederzubrennen, wenn es nicht innerhalb von zwei Tagen geräumt werden werde.

Nach dem Eröffnungssong ruft Pater Solalinde ins Mikrofon: „Wer ist alles aus El Salvador?“ Mit lautem Klatschen und Pfeifen machen sich die Salvadorianer*innen bemerkbar. „Wer von euch kommt aus Honduras? Aus Guatemala? Aus Nicaragua?“ Als das Johlen verklungen ist, erzählt Solalinde von seinen Reisen in die zentralamerikanischen Länder. Wunderschön sei es dort, das Schönste sei die Wärme der Menschen. Er schaut ernst in die Runde: „Und warum seid ihr jetzt hier? Wohin wollt ihr?“ Die Menge antwortet mit einem Murmeln. Die meisten Anwesenden sind männlich und zwischen 16 und 40 Jahre alt. Viele Gesichter sehen erschöpft und abgekämpft aus, einige haben auffällige Gesichtstätowierungen.
Jedes Jahr machen sich Hunderttausende Zentralamerikaner*innen auf den Weg durch Mexiko zur US-amerikanischen Grenze. Die Gründe für ihre Flucht sind vielfältig. „Ihr denkt vielleicht, es gäbe keine Perspektiven in eurer Heimat, sondern nur Armut, Gewalt, Ungleichheit. Aber macht euch bewusst: Der American Dream ist weiter entfernt, als ihr denkt!“

Es mag paradox klingen: Auf der einen Seite schenkt Pater Solalinde jedes Jahr rund 20 000 Menschen Schutz auf dem Weg in die USA, der voll mit Gefahren ist. Seine Herberge für Geflüchtete ist eine der ersten Anlaufstellen für die zahlreichen Zentralamerikaner*innen, die sich auf den Weg in den Norden machen. Es ist ein konstanter Strom, der im November 2018 mit der „Karawane“ seinen vorläufigen Höhepunkt erlangte, die Bilder gingen um die Welt. Auf der anderen Seite predigt Solalinde, sie sollen von der Flucht absehen. Zwischen den Zeilen will er den Flüchtenden wohl mitteilen: Das Paradies, das ihr euch versprecht, ist nur eine Illusion. Wenn der Pater das sagt, weiß er auch, dass er damit am Lebenstraum seiner Zuhörer*innen kratzt. Viele haben alles aufgegeben, um in den USA ein neues Leben zu beginnen.

Menschen aus aller Welt fühlen sich von der Arbeit des aufgeschlossenen Geistlichen so inspiriert, dass sie sie als Freiwillige unterstützen. Ich selbst habe zehn Wochen in der Herberge verbracht. Dabei ist einiges passiert.

Die Schutzsuchenden und Transmigrant*innen sind ein Quer-schnitt der Gesellschaften, in die sie hineingeboren wurden. Ein großer Teil flieht vor Bandenkriminalität. Die zwei größten Gangs in Zentralamerika heißen Mara Salvatrucha (MS-13) und 18th Streetgang (Mara 18) und leben in blutiger Feindschaft. Ex-Gangmitgliedern ist ihre ehemalige Bandenzugehörigkeit meist auf den ersten Blick anzusehen, da sie auffällige Tattoos mit der jeweiligen Gangsymbolik tragen. Tätowierte Tränen unter den Augen symbolisieren die bereits begangenen Morde an Mitgliedern der gegnerischen Gang.

Rodrigo, 22, aus El Salvador erzählt mir eines Tages beim Holzhacken, dass er mit elf Jahren in die MS-13 eingetreten sei. Seine älteren Brüder und Cousins wären schon lange Mitglieder gewesen. Als Aufnahmeritual musste er ein Mitglied der Mara 18 erschießen, ein Kind in seinem Alter. Seitdem hat er noch vier weitere Menschen getötet. Keine Minute später zeigt er mir ein Foto seiner sieben Monate alten Tochter. Unschuldige dunkle Knopfaugen blicken unter einer roten Schleife aus dem kleinen Gesicht. Zu seiner eigenen Mutter hat er keinen Kontakt mehr, er weiß nicht mal, ob sie noch lebt. Denn vor vier Jahren verliebte sie sich in einen Mann von der Mara 18. Seinen Vater hat er nie kennengelernt. Sein Traum ist es, mitsamt seiner Familie ein „neues Leben“ in Los Angeles aufzubauen, in Sicherheit und Wohlstand. Ihm ist sehr wohl bewusst, dass er seine Familie die nächsten Jahre kaum wiedersehen kann, seine Tochter wird ohne Vater aufwachsen. Sein für kurze Zeit geöffneter Blick verschließt sich wieder und er fährt fort, die Holzscheite mit einer Axt zu zersplittern. Für mich ist es emotional kaum fassbar, dass ein junger Mann, der so liebevoll von seinem Baby erzählt, fünf Menschen das Leben geraubt hat.

Besonderen Schutz bietet die Albergue Menschen mit Transidentität. In zentralamerikanischen Ländern sind Trans*Personen oft von Diskriminierung und Verfolgung betroffen. Fer lerne ich an meinem ersten Tag in der Albergue kennen, sie kocht in der Küche, lächelt, schäkert, tanzt. Als ich mich für das leckere Abendessen bedanke, fragt sie schelmisch grinsend: „Welches Gemüse bevorzugst du, Gurken oder Chilischoten?“, und zeigt mit zwei Fingern die Größe einer MincChili und danach mit den Händen eine fiktive Riesengurke, die sie sich lasziv in den Mund schiebt. So gelöst wie Fer lacht und tanzt, so traurig weint sie in anderen Momenten. Aus ihrer Heimat Honduras musste sie fliehen, da ihre Familie aufgrund ihrer Transidentität massiv bedroht wurde. Seit ihrer Kindheit weiß sie, dass sie als Frau angenommen werden möchte. Als sie älter wird, vergewaltigt sie ein Mann aus ihrem Viertel mehrfach mit einer Waffe. Als dieser Mann beginnt, ihre jüngeren Geschwister zu bedrohen, beschließt Fer zu fliehen. Auf dem Weg nach Mexiko versuchen Narcos sie zur Prostitution zu zwingen. Wie sie es geschafft hat, die Albergue zu erreichen, bleibt mir unklar. Fer schläft in den Schlafräumen mit den anderen Frauen und Kindern. Sie träumt von einem Leben in einer gender-offenen, liberalen Gesellschaft, in der sie nicht stigmatisiert wird. Hoffnungsvoll fantasiert sie von einem glücklichen Leben voller Glamour in den Vereinigten Staaten. Auch nachdem ich die Albergue verlassen habe, bleibe ich in Kontakt mit Fer. Heute lebt sie in der Nähe von San Francisco und arbeitet als Stripperin. In den sozialen Medien wirkt Fer glücklich.

Wenn Alex, der schon seit einigen Jahren im mexikanischen Touristenort Puerto Escondido arbeitet und in der Albergue sein Visum verlängern möchte, nicht gerade die Freiwilligen bei ihrer Arbeit unterstützt, rezitiert er Tolstoi und Dostojewski auf Spanisch. Wie viele andere Migrant*innen sieht er in uns Vertrauenspersonen, mit denen er offen über seine Gefühle, Hoffnungen und Ängste sprechen kann. Eines Abends begleitet er mich aus Sicherheitsgründen ins Dorf, um unsere selbst gestalteten Flyer „Asylrecht in Mexiko und den USA“ zu kopieren. Vor dem Copyshop werden wir von einigen Männern anzüglich angesprochen, einer hebt sein T-Shirt und auf seinem Bauch wölbt sich ein gigantisches tätowiertes Selbstporträt. Auf dem Rückweg wird Alex plötzlich panisch, hält ein vorbeifahrendes Taxi an und schreit: „Wir werden von Narcos verfolgt! Schnell zur Albergue bitte!“ Ein auffälliges Auto hatte uns viermal umkreist. Nach einigen schweißgebadeten Minuten erreichen wir das stacheldrahtgesäumte Tor und mir wird zitternd bewusst, warum die Albergue so stark gesichert ist.

Am nächsten Tag machen wir uns mit einer Motorsäge ausgestattet auf, um in einem benachbarten Waldstück Holz zu sammeln. Als ich nach einigen Stunden im Pick-Up auf mein Handy schaue, zeigt es acht verpasste Anrufe von Alex und von einer unbekannten Nummer. Meine Rückrufversuche bleiben erfolglos, seit diesem Tag wurde Alex nicht mehr gesehen. Wir suchen ihn im Dorf, fragen seine Bekannten, verfolgen seine sozialen Medien – nirgendwo eine Spur.

In Mexiko gelten bis zu 30 000 Menschen als „verschwunden“. In Busbahnhöfen hängen Hunderte Vermisstenanzeigen. Dass jemand, der vor gefühlten fünf Minuten noch die lebhafte Parodie eines Argentiniers aus Buenos Aires vorführte, plötzlich auf Nimmerwiedersehen verschwindet, trifft mich persönlich sehr hart. Plötzlich bekommt jedes der verpixelten Gesichter, die mich von den Fotos an den Wänden der Bushaltestellen anstarren, eine Geschichte, eine Familie, ein Profil. Nun kann ich die Gratwanderung von Pater Solalinde verstehen, einerseits von der Flucht in die glorifizierten Estados Unidos abzuraten, andererseits jedem Menschen Fürsorge und Obdach anzubieten. Mit seiner Unterkunft für Migrierende hat er einen selbstverwalteten Ort des Schutzes innerhalb eines brodelnden Gefahrenkessels geschaffen. Hinter den bewachten Mauern können die Menschen Kraft für die nächste Etappe ins Ungewisse sammeln.