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Kinderarbeit verschwindet nicht durch ein Gesetz

Interview mit Nadia Mendoza Rodríguez, Sprecherin der Organisation arbeitender Kinder von La Paz „Taipy-NATs“

„Gehen sie auch zur Schule?“, hört man immer wieder die skeptische Frage, wenn es darum geht, den sozialen oder bildenden Wert der Erwerbstätigkeit von Kindern sichtbar zu machen. Sei es als Schuhputzer, sei es in der traditionellen Landwirtschaft oder als Verkäuferin von Kleidern wie im Fall von Nadia Mendoza Rodríguez. Um es vorwegzunehmen: Nadia geht nicht zur Schule. Die gerade 17-jährige Sprecherin der Organisation arbeitender Kinder von La Paz „Taipy-NATs“ studiert Jura an der staatlichen Universität. Zum Interview hat sie mich auf die Verkehrsinsel der Plaza Eguino bestellt. Sie ist nach einer der vielen starken Frauen der bolivianischen Geschichte benannt. Das Denkmal zeigt Eguino mit dem symbolischen Schlüssel der Stadt La Paz, den sie 1825 dem Befreier Simón Bolívar übergab. Und am Sockel wird Bartolina Sisa, Anführerin der indigenen Aufstände gegen die spanische Kolonialmacht, geehrt und der Opfer des Gasaufstandes von 2003 gedacht. Inmitten des Straßenlärms des belebten Marktviertels, wo Nadia mit ihrer Mutter arbeitet, reden wir über ihre Organisation und eine von den arbeitenden Kindern als Rückschritt empfundene Entscheidung des bolivianischen Parlaments und der Regierung vom November 2018: die Arbeit von Kindern unter 14 Jahren de facto zu verbieten und die zu-vor für sie im Kinder- und Jugendgesetz verankerten speziellen Schutzmechanismen zu streichen.

Peter Strack

Wie lange bist du schon in der Organisation arbeitender Kinder aktiv?

Seit fünf oder sechs Jahren. Schulfreundinnen hatten mir erzählt, dass es dort kostenlose Kurse gibt, zum Beispiel Blumengebinde. Die Organisation hatte damals noch mehr finanzielle Unterstützung. Es gab 80 aktive Mitglieder. Jetzt kommen nur noch 15 regelmäßig zu den Treffen. Kurse zu unseren Rechten für andere arbeitende Kinder versuchen wir jetzt selbst zu organisieren. Aber die kunsthandwerklichen Fortbildungen oder Rhetorik können wir nicht mehr anbieten. Die Organisation ist geschwächt.

Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) sagt, dass ihr die arbeitenden Kinder nicht repräsentiert.

Das ist ein großes Problem. Gerade weil wir Geld verdienen, haben wir kaum Zeit, uns zu treffen. Es gibt viele Kinder, die auf der Straße arbeiten. Aber die wenigsten sind organisiert. Die ILO sagt, dass Kinder nicht arbeiten sollen. Dass sie nicht mehr in die Schule gehen, wenn sie arbeiten. Wir sagen dagegen: Wir arbeiten, weil wir lernen wollen. Und wir müssen uns genau anschauen, unter welchen Bedingungen diese Kinder arbeiten.

Woran liegt es, dass die Projektmittel für die Organisationen arbeitender Kinder stark zurückgegangen sind?

Vielleicht aus Sorge, etwas zu unterstützen, was im internationalen Rahmen nicht akzeptiert wird. Wegen unserer Position zur Arbeit von Kindern. Bolivien war ein Vorbild in Lateinamerika. Das habe ich letztes Jahr auf dem Lateinamerika-Treffen der Organisationen arbeitender Kinder bei den Delegierten der anderen Länder feststellen können. Wir hatten erreicht, von der Politik ernst genommen zu werden. Dass die bolivianische Wirklichkeit berücksichtigt wird und nicht nur Modelle aus dem Norden, war für uns ein großer Fortschritt: Vor allem, dass die Kinder bei ihrer Arbeit geschützt werden sollen.

Wir in La Paz hatten vergangenes Jahr eine kleine Unterstützung. Einen Teil haben wir für ein Treffen ausgegeben, aber einen anderen Teil haben wir uns noch aufgehoben, um ihn möglichst nutzbringend einzusetzen, wenn viele teilnehmen können.

Was hat euch im letzten Jahr vor allem beschäftigt?

Dass die Artikel 129 bis 138 mit Ausnahme des Artikels 136 des Kinder- und Jugendgesetzes (Gesetz 548) für verfassungswidrig erklärt wurden. Nie sind wir als Hauptbetroffene dazu konsultiert worden. Es sind exakt die Artikel für den Schutz von Kindern unter 14 Jahren bei ihrer Arbeit. Seit 2017 versuchen wir, uns mit den staatlichen Autoritäten zusammenzusetzen: Ombudsbüro, Justizministerium, Arbeitsministerium... aber nur das Erziehungsministerium hat uns empfangen, um über die Umsetzung der Schutzbestimmungen zu reden. Im Juni letzten Jahres haben wir zum Beispiel an das Justizministerium geschrieben (das bei der Umsetzung des Gesetzes 548 federführend ist). „Wir sind gerade in Ferien“, haben sie uns damals geantwortet, „ab dem 20. Juni was immer ihr wollt.“ Aber wir hatten auch nicht die Mittel, um die Vertreter aus den anderen Landesteilen später wieder nach La Paz zu holen. Die Situation der Kinder in Bolivien ist nicht so wie in anderen Ländern, wo die Kinder einzig die Verpflichtung haben, zur Schule zu gehen. Es hat hier wirtschaftlichen Fortschritt gegeben. Aber viele Familien sind immer noch auf die Mitarbeit der Kinder angewiesen. Manche ältere Kinder versorgen auch die kleineren Geschwister, wenn die Eltern gestorben sind.

Trotzdem hat im November 2018 das Parlament dann die Artikel des Gesetzes 548 gestrichen, die die Arbeit von unter 14-Jährigen unter bestimmten Umständen erlaubt hatten.

Von einem Tag auf den anderen, ohne vorher mit unseren nationalen Vertretern gesprochen zu haben. Sie hätten ja Bescheid geben können, damit wir uns treffen können. Gar nichts. Wir haben das aus der Presse erfahren.

Laut Kinder- und Jugendgesetz vertritt das Plurinationale Kinder- und Jugendkomitee die Interessen der Kinder gegenüber den staatlichen Stellen.

Derzeit ist kein arbeitendes Kind in diesem Gremium vertreten. Jedenfalls nicht als Vertretung der Organisation. Vor drei Jahren war das noch anders. Aber danach haben wir keine Einladungen mehr bekommen. Als wir nachgefragt haben, hat man uns gesagt, dass die Wahlen schon vorbei seien. Wir haben das Gefühl, dass da geschummelt wurde.

Als das Gesetz 548 Ende 2015 ohne Berücksichtigung der Vorschläge der arbeitenden Kinder verabschiedet werden sollte, haben die arbeitenden Kinder demonstriert. Ist die Organisation heute zu schwach?

Damals wurde die Demonstration der UNATSBO (Vereinigung der arbeitenden Kinder und Jugendlichen Boliviens) von der Polizei mit Tränengas bekämpft, und das kam international in die Medien.

Auf der deutschen Internetplattform Amerika21 hieß es, das mit dem Tränengas sei eine Falschmeldung gewesen.

Ich war dabei. Die Polizei dachte wohl, dass wir Ärger machen oder Schaden anrichten würden. Aber wir wollten nur, dass das Parlament uns empfängt. Und in Bolivien wirst du ohne Protest wohl nicht gehört. Dank der Aktion hatten wir dann tatsächlich ein Frühstück mit dem Präsidenten, der selbst früher ein arbeitendes Kind war. Es wurde eine Arbeitsgruppe eingerichtet und manche unserer Vorschläge wurden aufgenommen. Die, die jetzt nicht mehr gültig sind. Evo Morales hat eine Kehrtwende gemacht.

Aber auch wenn es damals ein großer Erfolg für uns war: Die Schutzbestimmungen für arbeitende Kinder wurden dann in der Praxis nicht umgesetzt. Jetzt nach der Streichung der Paragraphen ist alles wieder wie früher. Und mit oder ohne Gesetz arbeiten die Kinder. Aber jetzt gibt es keine Bestimmung mehr, die zum Beispiel sagt, dass Kinder die gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit bekommen müssen, dass ein Kind von seinem Arbeitgeber zwei Stunden pro Tag bezahlte Zeit zum Lernen bekommen muss. Man hat die Arbeit der unter 14-Jährigen für verfassungswidrig erklärt und deshalb ist niemand mehr für den Schutz zuständig.

Laut einer jüngst von der Regierung veröffentlichten Statistik gibt es nicht mehr über 800  000 arbeitende Kinder in Bolivien wie beim vorherigen Zensus, sondern nur noch gut die Hälfte.

Wir haben natürlich nicht die Mittel wie das Justizministerium, um solche Studien zu machen. Aber wir erleben die Wirklichkeit der arbeitenden Kinder vor Ort. Und auf den Straßen gibt es gewiss nicht weniger arbeitende Kinder als früher.

Man hat die Definition dessen verändert, was als Kinderarbeit gezählt wird. In den englischen Vertragstexten, auf die sich das bolivianische Verfassungsgericht berufen hat, ist ja gleichfalls von „labour“ und nicht von „work“ die Rede. Und die bolivianische Verfassung erkennt ja auch explizit den bildenden und sozialen Charakter der Arbeit in der Familie und in den Dorfgemeinschaften an.

Das gilt wohl auch noch. Wir sind ja selbst sehr damit einverstanden, dass die ausbeuterische, schädliche Arbeit abgeschafft wird. Da hat sich in Bolivien in den Bergwerken etwas getan. Oder dass sechsjährige Kinder zu späten Tageszeiten Plastiktüten mitten im Straßenverkehr oder auf dem Markt verkaufen. Das ist gefährlich und da sind wir dagegen. Die Arbeit im familiären Kontext, in denen die meisten Kinder tätig sind, wird von den meisten Funktionären dagegen nur als Mithilfe angesehen. Und deshalb bleibt sie wohl auch von der Gesetzesänderung unberührt. Die Autoritäten werden nichts diesbezüglich tun, weil es für sie keine Arbeit ist. Als ich 14 Jahre alt war, arbeitete ich mit meiner Mutter, montags bis samstags, halbtags, sechs Stunden pro Tag. Wenn das keine Arbeit ist...

Nach der Gesetzesänderung gilt der Schutzauftrag an die städtischen Kinderrechtsbüros, der vorher die unter 14-Jährigen betraf, nun für die älteren. Du bist 17. Hilft das wenigstens dir?

Als ich 15 war, wurde ich von einer benachbarten Marktfrau psychisch misshandelt, weil ich für eine Konkurrentin von ihr arbeitete. Meine Arbeitgeberin tauchte aber selbst nicht am Stand auf. So wurde ich fast täglich beschimpft. Sie nahm mir Kunden weg. Ich habe mich dann an das Schutzbüro gewandt. „Hat sie dich geschlagen?“, haben sie gefragt. „Nein, aber ich halte es nicht mehr aus.“ Passiert ist nichts. Und so geht es vielen. Auch in schlimmeren Situationen.

Das Gespräch führte Peter Strack am 9. März 2019 in La Paz.