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„Die Jungs gehören zu mir“

Persönliche Erinnerungen an die Korruption im Mexiko der 60er- und 70er-Jahre
Helmut Schneider

Es fehlten nur noch zehn Minuten bis zur Ankunft der Maschine aus San Antonio, in der sich unsere zwei bestellten Verstärker befanden. Mexiko hatte zum Schutz der eigenen Industrie seit den vierziger Jahren hohe Zölle auf elektronische Geräte verhängt. Unsere damalige Band fand aber weder den Klang noch das Aussehen der heimischen Verstärker gut und wir hatten deshalb über einen Bekannten Geräte aus den USA bestellt. Wie verabredet standen wir an einer unscheinbaren Tür in der Nähe der Ankunftshalle des Flughafens von Mexiko-Stadt. Der Bekannte war nach Houston geflogen, hatte dort die beiden Verstärker gekauft und brachte sie jetzt als Gepäck nach Mexiko. Wir sollten sie mit Hilfe eines „bezahlten Helfers“ am Flughafen abholen, der sie durch den Zoll bringen sollte. Doch weit und breit keine Spur von dem Mann. Langsam wurden wir nervös, denn wir wussten, was nicht sofort abgeholt wurde, landet im Lager, und einmal im Lager, hätten wir ordentlich zahlen müssen. Einer von uns meinte, er kenne ein „hohes Tier“ in der Verwaltung des Flughafens, er habe ihn während des Wahlkampfes des damaligen Präsidenten kennengelernt, den werde er jetzt ansprechen. Der Sohn des besagten Präsidenten ging in seine Parallelklasse. Nach zehn Minuten, das Flugzeug war gerade gelandet, kam er zurück und meinte, das „hohe Tier“ habe gesagt, er habe „unserem Mann“ ausdrücklich darauf hingewiesen, pünktlich zu sein. In dem Moment tauchte unser „Helfer“ doch noch auf. Wir gingen hinter ihm her durch mehrere Türen und fanden uns plötzlich mitten unter den gerade gelandeten Passagieren auf dem Weg zur Gepäckausgabe. Wir nahmen unsere Verstärker und rollten sie in Richtung Ausgang. Während die restlichen Passagier*innen ihre Koffer öffnen mussten, schoben wir die Verstärker an den Zöllnern vorbei, vorneweg unser „Helfer“ mit dunkler Brille und Trenchcoat. Mit seinem knappen „Die Jungs gehören zu mir“ öffnete sich für uns auch die letzte Tür. Einmal auf dem Parkplatz, mussten wir schnell die Geräte im Wagen verstauen und losfahren, denn wären wir auf dem Flughafengelände ohne verzollte Rechnung und „Helfer“ in eine Kontrolle gekommen, wäre es teuer geworden. Ich weiß bis heute nicht, ob unser „Helfer“ ein einfacher Coyote war, das sind Schlepper oder Leute, die bei Behördengängen gegen einen kleinen Betrag behilflich sind, damit die gewünschte Bearbeitung vorankommt, oder ob er direkt vom Zoll oder der Polizei war. Die Art und Weise, wie wir an unsere Verstärker kamen, erschien uns damals normal. Wir waren nur überrascht, wie weit oben in der Flughafenhierarchie unser kleines „Geschäft“ bekannt war.

Ein paar Monate vorher, als ich zur Fahrprüfung zur Verkehrspolizei ging, war ich wie alle vorbereitet, bei einer möglichen verpfuschten Prüfung mit einigen Scheinen nachzuhelfen. Da ich aber von den zwanzig Anwärter*innen am besten einparken konnte – das war die ganze Prüfung –, hatte der Prüfer keinen Grund, bei mir „nachzuhelfen“, sodass ich nur die üblichen Gebühren zahlen musste. Aber kurz darauf erwischte es mich doch. Ich bog mit dem Wagen meiner Eltern falsch ab und im selben Augenblick hörte ich schon die Trillerpfeife und blieb stehen. Ich kurbelte das Fenster herunter, gab sofort meine Schuld zu und zeigte meinen Führerschein. Jetzt kam der übliche Ablauf. Ich erzählte, meine Mutter läge im Krankenhaus (die Mutter muss in Mexiko immer für alles herhalten), deshalb sei ich ein wenig durch den Wind, außerdem hätte ich keine Zeit, in die Zentrale zu fahren (damals musste man in die immer verstopfte Innenstadt, um Geldbußen bei der Verkehrspolizei zu bezahlen), und dann der übliche Abschlusssatz, wie wir uns arrangieren könnten? Er wackelte mit dem Kopf und antwortete, dass er das mir überlassen würde. Daraufhin holte ich vorsichtig meine Geldbörse heraus und zeigte ihm einen Schein, er wackelte noch einmal mit dem Kopf, daraufhin holte ich einen weiteren Schein heraus. Er sagte mir, ich solle die Scheine in meiner Handfläche diskret platzieren und mich per Handschlag verabschieden. Er nahm das Geld und wünschte mir eine gute Fahrt. Ich hätte auch von Anfang an zwei Scheine in den Führerschein stecken können, was manche taten. Aber man wusste ja nie, ob man nicht an einen ehrlichen Beamten geraten war.

Angeblich hat oder zumindest hatte jede Straßenkreuzung in Mexiko einen Preis, den der dort abgestellte Verkehrspolizist seinem Vorgesetzten täglich zahlen muss beziehungsweise musste. Was darüber lag, durfte er behalten, und genauso taten es sein Vorgesetzter und dessen Vorgesetzter und so weiter bis hinauf zum Polizeipräsidenten. Korruption ist ein System.

Mein Vater arbeitete bei einer mexikanischen Firma, die von einem deutschen Unternehmer aus dem Druckereigewerbe gekauft worden war. Bei dessen erstem Besuch ging es um den Verkauf einer großen Anlage an ein staatliches Unternehmen. Bei diesem Treffen mit dem mexikanischen Kunden trat der Deutsche in Gutsherrenart auf. Sein plumpes Vorgehen, als es um die Höhe der „Provision“ ging, fanden die Mexikaner abschätzig und beleidigend. Obwohl sie seine Maschinen gerne gekauft hätten, lehnten sie dankend ab, und andere haben das Geschäft gemacht. Auch die Korruption hat ihre Rituale und wer sich nicht daran hält, kommt nicht sehr weit. Niemand möchte als käuflich dastehen. Jahre später kam er dann doch ins Geschäft und bekam von Mexikos Regierung sogar einen Orden verliehen, scheinbar hatte er dazugelernt. (Bis 2002 konnte man im Ausland gezahlte Schmiergelder in Deutschland von der Steuer absetzen!)

Allerdings waren nicht alle korrupt. Mein bester Freund wohnte bei seinen Großeltern. Sein Opa war General in der mexikanischen Armee, ein wegen seiner Disziplin gefürchteter Mann. Als Kinder gingen wir ihm lieber aus dem Weg. Sein Haus war für einen General recht einfach. Erst später erfuhr ich, dass er der Einkaufschef der Armee war und man ihn ernannt hatte, weil er einer der wenigen war, die nicht auf ihre „Provision“ pochten. Er behielt sein Amt über das Pensionsalter hinaus und als er aufhörte, hat er seine Uniformen im Hof verbrannt und wollte nie wieder etwas von seinen Kollegen hören. Er hatte seinem Land immer ehrlich gedient. Er wurde zu einem lustigen Greis, mit dem man sich gut unterhalten konnte und der abends vor dem Schlafen im Bett mit der Oma und deren Mundharmonika Lieder aus der mexikanischen Revolution sang.