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Wer zahlt für die Krise?

Nach drei Jahren Macri-Regierung zugunsten der Konzerne steht Argentinien wirtschaftlich erneut am Abgrund

Seit dem Amtsantritt von Präsident Mauricio Macri Ende 2015 ist die Bevölkerung Argentiniens mit einer nicht endenden Serie von Angriffen auf ihre Lebensbedingungen konfrontiert. Preiserhöhungen, Entlassungen, Rentenkürzungen, sinkende Löhne und nun auch wieder Sparmaßnahmen nach Maßgaben des IWF führen zu zunehmender Verarmung. Macris neoliberaler Kahlschlag stößt jedoch auf starken Widerstand. Es gab bereits vier Generalstreiks und in Buenos Aires gehen trotz heftigster Repression immer wieder Hunderttausende auf die Straße.

Alix Arnold

Die Marschrichtung war von Anfang an klar. In sein Kabinett berief Macri ehemalige CEOs (Vorstände) von Banken und Konzernen, er kündigte Massenentlassungen an und strich Subventionen für den öffentlichen Nahverkehr sowie für Wasser, Strom und Gas. Die Gebührenerhöhungen bedeuteten für viele Haushalte eine untragbare Verteuerung der Lebenshaltungskosten. Schon in den ersten zwei Regierungsmonaten wurden mehr als 21 000 Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes entlassen.

Gegen die zu erwartenden Proteste verschärfte Sicherheitsministerin Patricia Bullrich das Demonstrationsrecht. Wer bei Blockaden nicht in fünf Minuten von der Straße ist, muss mit brutaler Räumung rechnen. So erging es bereits Ende 2015 den Arbeiter*innen des Geflügelbetriebes Cresta Roja, die gegen ihre Entlassung demonstrierten und mit Knüppeln, Gummigeschossen und Wasserwerfern vertrieben wurden. Im Februar 2016 wurde gegen diese Regierungspolitik zu einem ersten, noch kleineren, landesweiten Streik- und Aktionstag aufgerufen.

Gemeinsame Mobilisierungen von Arbeiter*innen sind in Argentinien durch die herrschenden Gewerkschaftsapparate erschwert. Diese sogenannte Gewerkschaftsbürokratie verwaltet die Obras Sociales, die Krankenversicherungen und weitere Sozialleistungen mit staatlichen Zuschüssen, und verfügt dadurch über eine enorme materielle Macht. Die meisten Gewerkschaften setzen auf sozialpartnerschaftliche Verhandlungen, Erhalt der eigenen Machtpöstchen und Verwaltung der Mitglieder. Basismobilisierungen sind da eher störend. Außerdem haben sich die beiden großen Verbände CGT und CTA während der Kirchner-Regierung mehrfach gespalten. Angesichts des zunehmenden Unmuts in den Betrieben kam es nun doch wieder zu größeren gemeinsamen Aktionen. Hierzu haben auch die oppositionellen, zumeist trotzkistisch orientierten Strömungen in vielen Betrieben und Gewerkschaften beigetragen, die zwar zahlenmäßig in der Minderheit sind, aber mit ihrer beharrlichen Mobilisierung und ihren Vereinigungsversuchen immer wieder für Bewegung sorgen.

Gegen die allgegenwärtigen Entlassungen riefen CGT und CTA für den 29. April 2016 zu einer Großdemonstration in Buenos Aires auf, die mit 350 000 Demonstrant*innen durchaus eindrucksvoll war. Die von vielen erhoffte Steigerung der Kampagne durch weitere Mobilisierungen und landesweite Streiks blieb jedoch aus. Als die Regierung gegen ein vom Parlament beschlossenes Gesetz zur Eindämmung der Entlassungen ihr Veto einlegte, beschränkten sich die CGTs mal wieder auf eine Protestnote.

Um wieder Zugang zu den internationalen Finanzmärkten zu bekommen und ausländische Investitionen anzuziehen, zahlte Macri im April 2016 9,3 Milliarden Dollar an die Hedge-Fonds, die sich 2005 der von Néstor Kirchner betriebenen Umschuldung widersetzt und Argentinien verklagt hatten. Während diese sogenannten Geierfonds nun ihre Superprofite einstreichen konnten, kämpfte die Bevölkerung mit Kaufkraftverlusten durch die Abwertung des Peso um 40 Prozent, steigende Inflation, erhöhte Lebensmittelpreise und die drastischen Gebührenerhöhungen von mehr als 900 Prozent bei Gas und Strom und 200 Prozent im öffentlichen Nahverkehr.

Im Juli 2016 kam es wieder zu Streiks und Demonstrationen gegen diese Politik. Ölarbeiter forderten eine Lohnerhöhung und LKW-Fahrer streikten gegen die Erhöhung der Preise für Diesel und Maut. Über soziale Netzwerke wurde zu Cacerolazos aufgerufen, zum Krachschlagen auf der Straße mit Kochtöpfen und anderen Lärmgerätschaften. Diese verbreiteten sich im Juli und August über das ganze Land und kulminierten in einem Sternmarsch aus den Provinzen, bei dem am 2. September wieder Hunderttausende zur Plaza de Mayo zogen.

Im Dezember 2016 beschloss der Senat endlich die Enteignung des 2003 besetzten Hotel Bauen in Buenos Aires zugunsten der Belegschaft. Macri legte jedoch sofort sein Veto ein, wie er es vorher in seiner Zeit als Bürgermeister von Buenos Aires auch schon mehrfach getan hatte. Insgesamt haben er und seine Partei PRO in über dreißig Fällen verhindert, dass die Arbeiter*innen ihre Betriebe in Selbstverwaltung legal weiterführen können. Stattdessen häufen sich die Strafanzeigen wegen Betriebsbesetzungen. Aber trotz aller Schwierigkeiten wurden seit dem Amtsantritt Macris 37 Betriebe neu von den Arbeiter*innen übernommen, und die Räumung des Hotel Bauen konnte bis heute verhindert werden.

Im Januar 2017 wurde die Druckerei AGR des Medienkonzerns Clarín, der Macris Wahlkampf massiv unterstützt hatte, zu einem Bezugspunkt der kämpferischen Arbeiter*innen. Als die 400 Kolleg*innen eines Morgens vor verschlossener Tür standen, besetzten sie ihren Betrieb, um zu verhindern, dass sie durch eine neue und billigere Belegschaft ersetzt würden. Die Gewerkschaftsbürokratie hielt sich in diesem Konflikt mal wieder zurück, aber zahlreiche oppositionelle Strömungen unterstützten die Besetzung mit Solidaritätsdemonstrationen, Spenden und Aktionstagen, und sie verhinderten zweimal durch massive Präsenz am Werkstor die Räumung. Beim dritten unerwarteten Räumungsangriff am 7. April, einen Tag nach dem Generalstreik, gaben die Arbeiter*innen die Besetzung jedoch nach 82 Tagen auf.

Dem Generalstreik vorausgegangen waren im März zwei 48-stündige Streiks der Lehrer*innen im ganzen Land, die sich gegen die Einschränkung des Bildungssystems und ein Lohndiktat unterhalb der Inflationsrate, also eine faktische Lohnsenkung, wehrten (siehe ila 415). Bei den Kundgebungen wurde die Gewerkschaftsbürokratie immer wieder lautstark aufgefordert, endlich einen Termin für einen Generalstreik festzusetzen, wozu sie sich dann nach einem landesweiten „Marsch des Erziehungswesens“, bei dem alleine in Buenos Aires 400 000 Menschen auf der Straße waren, endlich genötigt sah. Der Aufruf zum Generalstreik am 6. April wurde massiv befolgt und legte große Teile des Landes lahm. Es war ein aktiver Streik mit Demonstrationen und Straßenblockaden.

Im Juni kam es zu einer weiteren viel beachteten Fabrikbesetzung in Buenos Aires. Die Belegschaft der Snackfabrik PepsiCo wehrte sich gegen die Verlagerung des Betriebes, bei der mehr als 500 der 700 Arbeitsplätze wegfallen würden (siehe ila 408). Von der zuständigen Lebensmittelgewerkschaft bekam sie keine Unterstützung, aber die Solidarität von Aktivist*innen aus anderen Betrieben war enorm. Am 13. Juli wurde die Fabrik von 500 Polizist*innen nach stundenlanger Auseinandersetzung mit brennenden Barrikaden geräumt. Die Kolleg*innen bauten daraufhin ein großes Zelt vor dem Kongress auf, das bis Ende des Jahres als Treffpunkt, Ausgangspunkt für Aktionen und Versammlungsort diente. Sie organisierten eigene Protesttage und waren bei sämtlichen Mobilisierungen von Arbeiter*innen aktiv.

Bei den Parlamentswahlen im Oktober 2017 konnte Macris Regierungsbündnis Zugewinne verzeichnen. Gleich nach diesem Wahlerfolg stellte er Pläne für ein neues Arbeitsgesetz vor. Hiermit soll ein Teil des informellen Sektors in formale Arbeitsverhältnisse umgewandelt werden, allerdings zu ungünstigen Bedingungen für die Beschäftigten. Vor allem aber sollen weitere Flexibilisierung, Prekarisierung und Lohnsenkungen durchgesetzt werden. Vorgezogen wurde dann jedoch die Entscheidung über die „Rentenreform“, mit dem Ziel, den 17 Millionen Rentner*innen, von denen die Mehrheit sowieso schon in ärmsten Verhältnissen lebt, durch Erhöhung des Rentenalters und eine geringere Anpassung der Renten an die Inflation 4,9 Milliarden Euro abzunehmen.

Die Ankündigung dieses erneuten Angriffs auf die Lebensbedingungen führte dazu, dass zu der Demo gegen die WTO, die gerade in Buenos Aires tagte, am 13. Dezember 250 000 Menschen kamen. Die Parlamentsdebatte am nächsten Tag wurde wegen der massiven Proteste rund um den Kongress abgebrochen. Das Gebäude war mit hohen Gittern umstellt, dahinter tausend Militärpolizisten der Gendarmerie, die ununterbrochen mit Gummigeschossen und Tränengas auf die Demonstrant*innen schossen. Später rückte die städtische Polizei mit Motorrädern aus und attackierte Rentner*innen aus nächster Nähe mit Knüppeln und Tränengas.

Bei der Fortsetzung der Debatte am folgenden Montag war die Auseinandersetzung eher noch härter, obwohl die Gendarmerie nach Kritik an diesen martialischen Bildern zunächst im Hintergrund gehalten wurde. Wieder umzingelten Hunderttausende den Kongress, diesmal waren mehr und größere Blöcke von Arbeiter*innen dabei, obwohl die CGT nicht zur Teilnahme aufgerufen hatte und sich auch erst drei Stunden vorher zu einem Streikaufruf entschließen konnte. Trotz vieler und teils schwerer Verletzungen gingen die Proteste den ganzen Tag weiter. Abends zirkulierten Aufrufe zu Cacerolazos, zu Blockaden und Lärmdemonstrationen in den Stadtteilen, die sich auf andere Städte ausweiteten.

Nach einer langen, bewegten Nacht wurde das Gesetz doch noch verabschiedet, da Macri zwischenzeitlich einige peronistische Gouverneure überzeugen konnte, für die „Reform“ zu stimmen.

Nach der Weihnachtspause gingen die Proteste gegen die Lohnverluste weiter, mit einer erneuten Großkundgebung im Februar dieses Jahres, zu der die beiden Gewerkschaftsverbände aufgerufen hatten. Als bekannt wurde, dass Argentinien doch wieder Kredite beim Internationale Währungsfonds (IWF) aufnehmen will, gingen im Mai und Juni wieder Hunderttausende auf die Straße. Dass IWF-Kredite für die Bevölkerung Einschnitte und Kürzungen bedeuten, ist noch nicht in Vergessenheit geraten. Mit einem Sternmarsch mehrerer Provinzen „für Brot und Arbeit“ kamen 300 000 Demonstrant*innen aus dem informellen Sektor nach Buenos Aires, und am 25. Juni legte der dritte Generalstreik das Land lahm. Angesichts der Massenproteste kündigte Macri im Juli an, das Militär wieder im eigenen Land einsetzen zu wollen. Dazu bräuchte er zwar die Zustimmung des Kongresses, aber dass er diese Ankündigung ausgerechnet auf dem Militärstützpunkt Campo de Mayo machte, der in der Diktatur ein Folterzentrum und 1987 Ausgangspunkt der Militärmeuterei der Carapintadas war, hat hohen Symbolwert.

Macri war mit dem Versprechen angetreten, die Armut zurückzudrängen. Laut offiziellen Angaben lebten im September immer noch elf Millionen Menschen (27,3 Prozent der Bevölkerung) unter der Armutsgrenze, und die Tendenz ist wieder steigend. Durch die weitere Abwertung der Landeswährung und die Inflation werden die Lebensmittel immer teurer. Der IWF wird Argentinien bis 2021 56 Milliarden US-Dollar leihen. Die Regierung hat dafür weitere Sparmaßnahmen zugesagt. Am 24. und 25. September fand dagegen der vierte Generalstreik statt, bei dem allein in Buenos Aires eine halbe Million Menschen auf der Straße waren. Als das IWF-Sparbudget für 2019 mit weiteren Einschnitten bei Gesundheit und Bildung im Parlament verabschiedet wurde, bot sich das inzwischen schon übliche Bild: Der Kongress mit Gittern abgeschirmt, von Demonstrant*innen umzingelt, die von brutal agierender Polizei auf Abstand gehalten werden.

Die derzeitige Krise in Argentinien wird oft mit dem Kriseneinbruch verglichen, der im Dezember 2001 zum Aufstand und zum Sturz der Regierung führte. Im Vergleich zu damals ist die Bevölkerung in Argentinien jedoch um einiges besser organisiert. Dieser Rückblick beinhaltet nur einen Teil der Mobilisierungen von Arbeiter*innen und Marginalisierten in den letzten drei Jahren. Zu weiteren beeindruckenden Großdemonstrationen kam es auch wegen Menschenrechtsthemen (wie dem Verschwinden des Aktivisten Santiago Maldonado oder dem geplanten Strafnachlass für Täter*innen der Diktatur „2x1“), an den Universitäten entstand wieder Bewegung, und vor allem die Frauen sind mit der Parole #NiUnaMenos und der grünen Flut für das Recht auf Abtreibung massiv auf den Plan getreten (siehe ila 417 und 420).

Aus der Aufstandszeit gibt es noch solidarische Beziehungen, die reaktiviert, und Erfahrungen, an die angeknüpft werden kann. Hier liegt ein großes Potenzial für Veränderung. Werden die Bewegungen in der Lage sein, durchzusetzen, dass nicht weiterhin die Ärmsten für die Krise bezahlen, während die Konzerne Gewinne machen? Wird es den Arbeiter*innen gelingen, die Lähmung durch die Gewerkschaftsapparate zu durchbrechen? Gerade hat Macri es wieder geschafft, einen von der CGT für November angekündigten Generalstreik durch ein Gespräch mit den Gewerkschaftsführern und ein paar kleine Zugeständnisse abzuwenden. Ob er sich aber noch lange an seinem letzten Wahlerfolg erfreuen kann, das ist nicht ausgemacht.