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Oh Deutschland

Literarische Erinnerungsbemühungen aus Argentinien
Patrick Eser

Oh Deutschland, bleiche Mutter!

Wie haben deine Söhne dich zugerichtet

Dass du unter den Völkern sitzest

Ein Gespött oder eine Furcht!

Dieses Zitat ist dem kürzlich in Argentinien erschienenen Roman Mi papá alemán (Mein deutscher Vater) von Mónica Müller vorangestellt, natürlich auf Spanisch, also:

¡Oh Alemania, pálida madre!

¿Qué han hecho tus hijos de ti

para que, entre todos los pueblos,

provoques la risa o el espanto?

Es ist die Erzählung der Tochter einer nach Argentinien ausgewanderten deutschen Familie. Der Schwerpunkt liegt auf der autobiographischen und Familiengeschichte der Autorin und Erzählerin. Die geistreich gestaltete, flüssig erzählte Rekonstruktion der Familiengeschichte setzt ein mit dem Großvater. Dieser kämpfte im Ersten Weltkrieg und verließ in der krisenbelasteten Nachkriegszeit mit seiner Frau und dem noch sehr jungen Sohn, der Vater und „Protagonist“ des Romans, das bayrische Helmbrechts, wo seine Familie seit Jahrhunderten gelebt hatte, in einem der ersten fünf Häuser, die bei der Gründung des Dorfes kurz vor 1300 gebaut wurden. Mit diesem Einstieg sind die zentralen Elemente eingeführt, aus denen der Roman gestrickt ist: die fest in Helmbrechts verwurzelte Familiengeschichte, die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts und das „deutsche“ Leben in Argentinien. Una vida argentina, so lautet der Untertitel der Erzählung vom „deutschen Vater“. Titel und Untertitel setzen das Hin und Her (nicht nur in) der Familiengeschichte treffend ins Verhältnis, das die Spannung des Buches ausmacht.

Im Zentrum der Erzählung steht das Verhältnis der Autorin/Erzählerin zu ihrem eigenartigen Vater, der vor dem Übersiedeln seiner Familie nach Argentinien kaum eine bewusste Sozialisation in Deutschland erfahren hatte und der auch in seiner Erziehungsfunktion als Vater keinen Wert auf die Vermittlung der deutschen Kultur und Sprache legte. Der Roman ist die Geschichte der Kindheit und des Erwachsenwerdens der Erzählerin im Buenos Aires seit den 50er-Jahren und wird stets im Licht des Verhältnisses zum Vater entfaltet. Dabei spielt die eigene Geschichte des Vaters eine große Rolle, Bemerkungen über die deutsche Community in Argentinien und in Buenos Aires, in deren (post-) nationalsozialistische Kreise der Vater wohl nicht integriert war, sind allgegenwärtig. Es geht in der Erzählung um das Leben eines in Argentinien gestrandeten Deutschen und seiner Familie, um den Antisemitismus im Argentinien der 50er-Jahre, um Nazis in Argentinien. Der Roman ist dabei zugleich auch die Geschichte Deutschlands, seiner Verbrechen, seines Umgangs mit seinen Verbrechen.

Die Erzählung schwankt zwischen dokumentarischem Stil, der Zeichnungen, Fotografien und Dokumente aus der Familiengeschichte einbezieht, und einem mutmaßenden, spekulierenden Gestus, der über die Motive und Hintergründe des Handelns des verschwiegenen Vaters grübelt, jenes Vaters, für den der Bezug zu seiner deutschen Herkunft so lange Zeit unbedeutend war, der sein letztes Lebensdrittel aber dann doch in Deutschland verbringt, wo er, in seiner alten Heimat, einer gut entlohnten Arbeit nachgeht (endlich!), noch einmal heiratet. In jenem letzten Lebensabschnitt verändert sich das Verhältnis des Vaters zu Deutschland grundlegend. Auf einem Argentinienbesuch spricht er in höchsten Tönen von seiner „neuen“ Heimat, später, bei einem Besuch seiner Tochter in Bayern, nimmt diese bei ihm mit Erschrecken zunehmend intolerante, chauvinistische und auch fremdenfeindliche Töne wahr. Hat das etwas damit zu tun, dass er sich dem geistigen Milieu seiner neuen Lebensumgebung weltanschaulich angepasst hat?

Die Erzählung weist einige spannende Wendungen auf, dies vor allem in dem erzählerisch dargestellten Verhältnis zum Vater, eine Figur, die zunehmend in einem anderen Licht erscheint. Der sehr persönliche Roman handelt nicht nur von der Wahrnehmung des Nahen, des Fremden, von der eigenen Lokalisierung und Identifizierung in den so zahlreichen Welten (die sich nicht reduzieren lassen auf „Deutschland“ und „Argentinien“) auf den beiden Seiten des Atlantik. Er handelt auch vom „Entdecken“ historischer Wahrheiten über „Deutschland“, über die deutschen Vorfahren, die deutsche „Heimat“. Die Erzählung ist auch das Resultat der akribischen Nachforschungen der Tochter oder auch der Enkelin, die in Buenos Aires lebt und nur sporadisch Kontakt zu ihren Vorfahren im fränkischen Helmbrechts pflegte. Ein Entdecken, das sich durch ein paktiertes Mehrgenerationenschweigen durchfressen musste und das auf dem letzten Schritt dank Google zum Durchbruch gekommen ist.

Gestern Abend haben wir das Buch beendet. Bis zum letzten Kapitel hatte Yanina daraus stets laut vorgelesen, ab einem bestimmten Punkt versagte ihre Stimme allerdings ein wenig, sie bat mich weiterzulesen. In meinem nicht ganz so perfekten Spanisch stellte sich die gemeinsame Lektüre natürlich etwas holpriger dar. Trotzdem blieb es mir überlassen, das letzte Kapitel laut vorzulesen. Es wird, wenn es hoffentlich bald eine deutsche Übersetzung des Romans geben wird, „Der Marsch“ heißen, Marcha in der spanischen Version. Es war unerträglich, das Kapitel auf Spanisch zu lesen, und ich weiß, dass es eine kluge und vorausschauende Intuition von Yanina war, dieses Kapitel nicht weiterlesen zu KÖNNEN: die Todesmärsche vor der Kapitulation der Nazis, das Wegschauen und Nichtreagieren in den fränkischen Dörfern, durch die jener eine Marsch verlief und: das Schweigen der Generationen danach, die, wie die Autorin auf ihren Besuchen dort erfahren musste, teilweise immer noch durch Fremdenhass und Antisemitismus gekennzeichnet sind. Ich musste beim Vorlesen mehrmals mit meiner Stimme kämpfen, eine Pause machen, um dann mit der Lektüre des Textes fortsetzen zu können, der von der Hölle der Todesmärsche handelt. Hölle, die besondere Kommunikationssituation, Hintergrund desjenigen, der liest, und derjenigen, die zuhört (Ihre vier Großeltern hätten die deutsche Vernichtungspolitik nicht überlebt, wären sie oder ihre Familien in Warschau, Wien oder in der Ukraine geblieben und nicht nach Argentinien ausgewandert; der letzte jener vier, Enrique, starb vor knapp zwei Jahren eines natürlichen Todes.), machte die dargestellte Hölle nicht verdaulicher.

Das Buch baut im Laufe der sehr persönlichen Erzählung des Aufwachsens im Buenos Aires der 50er-Jahre und der innerfamiliären Verhältnisse eine Spannung auf, die zum zunächst noch überraschenden, aber tragischerweise auch konsequenten Ende hin einfach unerträglich wird. Die Autorin thematisiert am Beispiel ihrer eigenen Familiengeschichte etwas, das mich als Teil der zweiten Generation nach der Tätergeneration der Shoah auch berührt, erschüttert und etwas, von dem ich trotz all der historischen Neugierde und dem Durst nach Aufklärung nicht klar kriege, was das alles bedeutet. Die Autorin lässt es nicht aus, sich zu fragen, was in diesem Deutschland der Gegenwart los ist, wo auch nun wieder rechtsextreme Parteien im Parlament sitzen, oder auch in diesem Bayern, in dem es die Gemütlichkeit über Generationen hinweg geschafft hat, kollektiv zu schweigen, auszublenden, sich nicht zu konfrontieren und somit die unsäglichen Verbrechen noch zu verlängern.

Gerade waren Wahlen in Bayern. Im Stimmkreis Hof, zu dem Helmbrechts gehört, erzielten mit der CSU und der AfD zwei Parteien, die sich in vielen Dingen so einig sind und in Orban, Kurz und Salvini ihre Weggefährten haben, knapp über 50 Prozent der Stimmen. In der letzten Szene dieses autobiographischen Romans aus der zeitgenössischen argentinischen Literatur zerbricht ein Teller, den der Bürgermeister von Helmbrechts der Autorin einst geschenkt hatte. Ob er der Erzählerin bloß entgleitet oder sie ihn wütend auf den Boden schleudert, soll zunächst offen bleiben. Es wäre schön sich vorzustellen, dass dieser Teller nicht zerbrechen oder zerstört werden müsste.