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Von der Studierendenrevolte zur feministischen Fraktion

Interview mit der chilenischen Abgeordneten Camila Vallejo

Vor sieben Jahren gingen in Chile Schüler*innen und Studierende auf die Straßen, um gegen das privatisierte Bildungssystem zu protestieren. In diesem Jahr sind sie wieder massiv da. Diesmal fordern sie eine nichtsexistische Erziehung (vgl. ila 417). 2011 war Camila Vallejo, Studentin und Vorsitzende der FECH (Studierendenorganisation der Universidad de Chile), das wohl bekannteste weibliche Gesicht des Protests. 2013 zog sie auf der Liste der Kommunistischen Partei Chiles ins Parlament, 2017 wurde sie wiedergewählt. Als Abgeordnete macht sie sich für die Anliegen stark, die sie auch als Studentin vertrat. Dass sie sich energisch für Frauenbelange einsetzt, hat aber nicht nur mit der derzeit unüberhörbar lauten Frauenbewegung innerhalb des studentischen Aufbegehrens zu tun, auch wenn dies hilft, sich durchzusetzen. Im Juli war Camila Vallejo zu einem Treffen des Gemeinsamen Parlamentarischen Ausschusses EU-Chile im Brüsseler Europaparlament. Gaby Küppers nutzte die Gelegenheit für ein Gespräch. 

Gaby Küppers

„Die Erziehung ist keine Ware“, rief 2011 eine unerwartet starke und kämpferische Studierendenbewegung auf den Straßen Chiles und rüttelte damit das Land und die Welt auf. Eure Kernforderung war damals kostenloser Bildungszugang für alle. Ging es damals auch schon um nichtsexistische Erziehung, wie ihr sie heute verlangt, oder rückte das Thema erst später ins Zentrum?

Erziehung und Bildung waren radikal privatisiert. Dagegen anzugehen stand damals im Mittelpunkt unserer Auseinandersetzung. Selbstverständlich stellten wir davon ausgehend auch das herrschende neoliberale Gesellschaftsmodell und die Ungleichheiten, die es hervorbrachte, infrage. Die Erziehung wurde also als Konsumgut, als Ware betrachtet. Das ist leider auch heute noch so, trotz der Reformen, die seit kurzem erst eingeführt werden. Ungleichheit wird weiterhin vom Bildungssystem reproduziert. Genderthemen, Frauenthemen hatten viele von uns Frauen in der Studierendenbewegung schon verinnerlicht und sie waren Bestandteil unseres Diskurses, aber daraus wurde damals noch keine Politik für die gesamte Studierendenbewegung. Wenn ich zurückblicke, muss ich ehrlich sagen, es gab auch innerhalb der Organisationen der Studierenden sehr viel Machismo, auch in der Linken, nicht nur bei den übrigen politischen Kräften. Für eine Studentin ist es in einem Kontext, in dem historisch immer die Männer das Sagen hatten, nicht einfach, zur Führungsfigur zu werden. Beispielsweise hatte die chilenische Dachverband aller Studierenden CONFECH sehr wenige weibliche Vorsitzende, ich war gerade mal die zweite, und das im Laufe einer Geschichte von mehr als hundert Jahren.

Wer war die erste?

Das war Marisol Prado gleich nach der Militärdiktatur. Die Führungsriege innerhalb der Föderation ist sehr von Männern beherrscht. Das ändert sich erst seit kurzem, eigentlich erst seit meiner Wahl. Jetzt erst treten allmählich Frauen hervor. Damals war das also noch kein Thema und wird erst jetzt zu einem Politikum.

Wann sind das Thema und die Forderung nach nichtsexistischer Erziehung aufgetaucht?

Der Feminismus an sich ist in Chile schon lange gegenwärtig. Die feministische Bewegung ist schon mindestens 80 Jahre alt. Die Forderung nach nichtsexistischer Bildung rückt aber erst seit ein, zwei Jahren in den Blickpunkt. Sie hat viel mit konkreten Fällen von sexueller Anmache und sexuellen Übergriffen an Studentinnen durch Professoren zu tun, aber auch unter Studierenden.

Wie kam es, dass Studentinnen plötzlich wagen, öffentlich zu denunzieren, wo sie vorher geschwiegen hatten, wenn solche Fälle vorkamen?

Ich glaube, es gab eine Art Notwendigkeit, irgendwann einfach zu sagen: „Es reicht!“ Es waren Jahrzehnte, was sage ich, Jahrhunderte vergangen, in denen die Frau angesichts aller möglichen Formen von Gewalt schweigen musste. Diese Gewalt hat immer auch einen körperlichen Ausdruck, sie betrifft deinen Körper, deine physische und auch psychologische Unversehrtheit, und das ist irgendwann nicht mehr auszuhalten. Es begann mit dem Bekanntwerden von feminicidios (Frauenmorden) und einzelnen Anzeigen, von denen man hörte. Feminicidios werden bis heute in Chile als Verbrechen aus Liebe betrachtet und irgendwie entschuldigt. Dazu kam ein wachsendes Bewusstsein für Gewalt gegen Frauen weltweit. Das alles hat so etwas wie eine weltweite Solidarität unter Frauen und eine Art Mut bewirkt von dem Moment an, wo Frauen überall merkten, dass sie nicht alleine sind. Plötzlich wurde klar, es gibt viele Fälle, wir sind nicht die einzigen. Ab da wächst die Sichtbarkeit und du kannst mit deinem Fall an die Öffentlichkeit gehen.
Für Chile ist in jüngster Zeit die Arbeit einer Frauenorganisation wichtig, die gegen sexuelle Belästigung vorgeht. Durch ihre Aufklärung bildete sich ein Bewusstsein für diese andere Art von Gewalt im öffentlichen Raum. In der Folge konnte sogar ein Gesetzentwurf gegen sexuelle Belästigung auf der Straße ins Parlament eingebracht werden, also gegen etwas, das bis dahin als gleichsam natürlich galt, wo man wegschaute. Sexuelle Belästigung wurde nicht als wirkliches Problem gesehen. Das ändert sich jetzt.
Die bis etwa 2015 inexistente gesellschaftliche Debatte über sexuelle Gewalt gegen Frauen in Chile, nicht nur am Arbeitsplatz und zu Hause, sondern auch im öffentlichen Raum, wurde damit reaktiviert. Das schwappte dann auch auf den Bereich der Erziehung über. 

Du bist 2013 ins Parlament gewählt worden und wolltest dich von Anfang an für die Frauenrechte einsetzen. Wie ist das im einzelnen abgelaufen und wie haben deine parlamentarischen Kollegen reagiert?

Ich glaube, wir Frauen sind alle in einem Prozess des politischen Nachdenkens auf der Basis der je eigenen Erfahrung. Ich habe in meinen ersten Jahren im Parlament angefangen, mich für Feminismus zu interessieren. Vorher hatte ich auch ein Gespür für Frauenfragen, aber ich habe den Einsatz für Frauenrechte und den Kampf gegen Diskriminierung nicht als einen feministischen Kampf angesehen. In meiner Antrittsrede als Vorsitzende der FECH bin ich durchaus darauf eingegangen, das Frauen in den Kampf eingebunden werden müssen und wie sehr wir diskriminiert sind. Aber ich habe erst danach angefangen, den Sachverhalt theoretisch zu untermauern. Erst Jahre später sah ich, dass es weltweit schon einen jahrhundertealten und sehr starken Kampf der Frauen gab. Und ich begriff, dass all diese Diskriminierungen, Kritiken, Vorurteile ein gemeinsames Muster und eine gemeinsame Basis haben, nämlich das machistische, patriarchale System.
Daraufhin habe ich auch mein persönliches Leben Revue passieren lassen, meine Zeit in der Schule, die Gewalt der Jungs gegen Mädchen, die Komplizenschaft des Lehrkörpers, die nichts dagegen machten, dass die Jungs die Mädchen schlugen oder wenn es zu Belästigungen kam.
Dazu kamen die Erfahrungen von Freundinnen, die Erzählungen von Frauen aus der Verwandtschaft. Das Fazit war, alle haben Gewalterfahrungen, alle haben Belästigungen, sexuelle Gewalt erlebt. Man trifft nur ganz selten eine Frau, die keinerlei Erfahrung mit sexueller Gewalt hat und selbstverständlich auch mit allen anderen Formen von Gewalt am Arbeitsplatz, in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht usw.

Wie hast du diese Einsicht dann in deiner Arbeit als Parlamentarierin umgesetzt?

Das war eine enorme Herausforderung, aber nicht nur im Parlament. Ich habe auch aus den Erfahrungen von Compañeras in  der kommunistischen Partei gelernt und wir haben eine Gender-Agenda innerhalb der Partei aufgestellt. Bis dahin wurde das Thema immer in irgendeiner isolierten Arbeitsgruppe behandelt und als zweitrangig, als Nebenwiderspruch angesehen. Es war nie die zentrale Herausforderung, nie war es der richtige Zeitpunkt. Aber viele Frauen in der Partei und in der Geschichte der Kommunistischen Partei, auch weltweit, haben versucht, Feminismus und Marxismus zusammen zu sehen und als einen gemeinsamen Kampf für die Emanzipation des Menschen, des Mannes und der Frau, zu sehen.
Dann haben wir auch beschlossen, eine Gender-Agenda im Kongress aufzustellen. Das war nicht einfach. Jetzt erst, vor dem Hintergrund der feministischen Mobilisierungen auf der Straße, sind wir damit besser vorangekommen und konnten einfacher Entwürfe einbringen. Aber vorher, noch vor einem Jahr, war der Widerstand gegen jedes einzelne Vorhaben sehr groß. Beim Gesetzentwurf gegen sexuelle Gewalt auf der Straße hieß es, wir wollten blödsinnigerweise piropos (Komplimente, mitunter auch anzüglich) verbieten. Beim Gesetzentwurf zur Liberalisierung des Abtreibungsverbots noch unter der vorherigen Präsidentin Bachelet wurde ebenso gemauert. Auch unsere eigenen Vorschläge, zum Beispiel die Schaffung eines Frauenausschusses mit Genderperspektive, war vorher total ausgeschlossen. Jedweder Vorwand war da recht, um diesen zu verhindern.

Jetzt aber gibt es ihn?

Ja, jetzt schon. Wir haben den Vorschlag im Januar dieses Jahres eingebracht, noch bevor die Mobilisierungen auf der Straße begannen, und es passierte erst mal gar nichts. Dann fingen die Demos auf der Straße an, und wir sagten: „Jetzt ist es soweit, wir ziehen den Vorschlag nochmals aus der Tasche“, und auf einmal traute sich niemand mehr, sich dem zu widersetzen.
Aber auch andere Vorhaben schaffen es jetzt in den Kongress, etwa der Entwurf zum Elterngeld, um arbeitende Frauen nicht zu benachteiligen, weil sie angeblich teurer seien, wenn sie kinderbedingt ausfielen. Oder der Gesetzentwurf zu Vergewaltigung und „Nein heißt Nein“. Bislang müssen Frauen richtiggehend beweisen, dass sie wirklich nicht gewollt haben. Wir wissen alle, dass Frauen, die sich angesichts einer bevorstehenden Vergewaltigung weigern, Gefahr laufen, umgebracht zu werden. Und wenn sie sich nicht explizit weigern, wollen sie offenbar Geschlechtsverkehr.
Es gibt aber bei Vergewaltigung auch eine natürliche Reaktion, nämlich die Lähmung. Das ist eine Verteidigungshaltung des Körpers in einer Situation der Angst. All das erkennt das existierende Strafrecht nicht an. Frauen sind demnach allzeit bereit. Da gibt es nun eine Reihe von Ideen, das zu ändern.
Ein weiteres Gesetzesvorhaben betrifft die Bezahlung nichtbezahlter Arbeit im Haushalt. Das wäre wirklich eine radikale Veränderung, wenn das durchkäme. Des Weiteren die Diskriminierung von Frauen im Gesundheitswesen sowie die Diskriminierung im Rentensystem. Bei letzterem gehört auch dazu, dass mit den Rentenbeiträgen keine Geschäfte gemacht werden können. Schließlich habe ich auch einen Vorschlag zur Vereinbarkeit von Studium und Mutter- bzw. Vaterschaft. Viele Oberschüler*innen und Studierende geben das Schuljahr oder das Studium auf, weil sie Eltern werden und keine Unterstützung haben. Da wird das Baby im Winter krank, und das Attest gilt nicht als Entschuldigung für das Fernbleiben vom Studienplatz. Das führt fast immer dazu, dass die Mütter von den Prüfungen ausgeschlossen werden. Sie versuchen, nochmal das Jahr zu wiederholen, und geben dann auf. Da wird einerseits das Thema Mutterschaft gefördert, aber dann wird nichts dafür getan, dies zu ermöglichen. Es gibt da keinerlei Kohärenz zwischen Diskurs und Praxis.

Das sind ja eine Menge Projekte. Welches wird das erste sein, das vom Parlament angenommen werden soll?

(lacht) ... wir haben insgesamt mehr als 40 Gesetzentwürfe mit Genderkomponente, aber sie sind alle noch in der Pipeline. In den jeweiligen Fachausschüssen finden sie sich nicht zufällig immer irgendwo am Ende der Warteliste. 

Da müsste es jetzt doch über den Frauenausschuss Möglichkeiten geben. Sind im Frauenausschuss auch Männer vertreten?

Der Frauenausschuss ist erst in der Phase seiner Konstitution. Im Moment geht es darum, die Vertretung der einzelnen Fraktionen festzulegen und zu sehen, wer konkret Mitglied wird. Aber zweifellos wird es auch männliche Mitglieder geben, davon gehe ich aus.
Momentan ist der einzige Weg, ein Projekt schnell voranzubringen, wenn die Regierung es als Priorität ansieht. So ist es mit der aktuellen Verfassungsreform, ein Projekt der Regierung Sebastián Piñeras. Wir haben viele Änderungswünsche. Es soll darin die Gleichheit zwischen Mann und Frau festgeschrieben werden – das stand in gewisser Weise schon in der Verfassung –, und da sollen jetzt klarer die Pflichten des Staates definiert werden, um die Nichtdiskriminierung sicherzustellen und zudem in die Liste der Rechte in jedem einzelnen Fall die Genderperspektive einzuziehen. Das ist bislang nicht so. Außerdem sollen die Garantien für den Schutz dieser Rechte ausformuliert werden. Wenn in der Verfassung ein Recht keine Schutzgarantien hat, ist es nicht mehr als eine Worthülse. Es soll aber nicht nur einen Frauenausschuss geben, es gibt bereits eine feministische Fraktion.

Sind alle Parteien darin vertreten?

Die Rechte bislang noch nicht. Es gibt allerdings Männer, die in der feministischen Fraktion Mitgliedschaft beantragt haben. Das ist Teil der Diskussion. Meiner Meinung nach sollte das Ziel sein, eine breite und diverse Fraktion zu haben. Wahrscheinlich wird es bei bestimmten Themen zu Differenzen kommen, etwa bei der Abtreibung. Denn auch Frauen, die sehr für Frauenrechte eintreten, sind nicht für die bedingungslose Freigabe der Abtreibung. Bislang sind aber noch alle in der feministischen Fraktion dafür.
Für mich ist bei all den vielen Projekten auch wichtig, das fakultative Protokoll der CEDAW (UN-Konvention gegen Gewalt gegen Frauen) nach sieben Jahren in der Parlamentspipeline endlich voranzubringen. Dessen Annahme wäre sehr wichtig, weil dies ermöglichen würde, internationale Instanzen bei Diskriminierung durch den Staat anzurufen und Verfahren gegen den Staat zu erwirken. Ich denke, das Projekt hängt deswegen, weil all die Fälle von feminicidios in Chile vor internationalen Instanzen neu aufgerollt und diejenigen, die nie behandelt wurden, endlich juristisch aufgearbeitet würden. Dabei geht es um 60, 70 Fälle im Jahr.

Seit diesem Jahr heißt der Präsident nach den Bachelet-Jahren zum zweiten Mal Piñera. Macht das alles schwieriger oder wirkt das wie ein Signal zum Widerstand?

Piñeras Amtübernahme fiel in eine Zeit aufkommender feministischer Bewegung, und er musste sich zwangsläufig damit auseinandersetzen. Ich denke, es war unmöglich für ihn, nicht die eine oder andere von deren Forderungen aufzugreifen und sich zu eigen zu machen. Aber die feministischen Organisationen haben viel von seiner Agenda abgelehnt. Sie besteht bislang hauptsächlich aus Ankündigungen, mit dem einen oder anderen Projekt, das ernsthaft diskutiert wird. Es gibt auch viel Kleingedrucktes, wie wir sagen, beispielsweise die schon lange erhobene Forderung, mit der geschlechtsspezifischen Diskriminierung in Chiles privatem Gesundheitssystem Schluss zu machen. Frauen müssen dort wesentlich mehr bezahlen, solange sie Mutter werden können. Das sei ein Risiko. Piñera schlug anfangs vor, die Beiträge für Männer zu erhöhen. Vom Standpunkt der Solidarität scheint das erst einmal verständlich. Allerdings macht das private Gesundheitssystem Gewinne. Mit anderen Worten, diese sollten nur noch erhöht werden. Wenn im Jahr 70 Prozent Gewinn gemacht werden, ist nicht einzusehen, warum männliche Arbeiter mehr bezahlen und nicht das private System für die Kosten der Mutterschaft einstehen soll. Da denkt Piñera in die falsche Richtung.
Des Weiteren ist Piñeras Gender-Agenda heteronormiert. Lesben zum Beispiel oder transsexuelle Frauen bleiben unerwähnt. Die konservative Koalition hat es viel gekostet anzuerkennen, dass eine Transfrau eine Frau und kein Mann ist.
Ein weiteres Beispiel sind die indigenen Frauen, etwa die Mapuche-Frauen oder Migrantinnen oder die arme Arbeiterin, die eben nicht weiß und nicht verheiratet ist und keinen guten Job hat. Die feministische Bewegung versucht, sie alle sichtbar zu machen und eine öffentliche Politik für sie durchzusetzen. Es ist eben schwierig, eine machistische, patriarchale Agenda zu überwinden. Die Forderung nach einer nichtsexistischen Erziehung greift viel von dem Genannten auf und ist daher fundamental, weil sie geschlechtsspezifische Stereotypen demontiert und Formen angeblich natürlicher, weil männlicher Herrschaft angeht.

Das Interview führte Gaby Küppers im Juli 2018 in Brüssel.