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Vom Regen in die Traufe

In der kolumbianischen Pazifikregion Guapi ist der Kampf um sauberes Wasser Alltag

Wenn die Pazifikregion im Westen Kolumbiens eines im Überfluss hat, dann Wasser. Unzählige Flussbecken, nebst Unterläufen, Wasserfällen und Bächen dehnen sich über 77309 Quadratkilometer der Region aus, das macht gut 77 Prozent des Gesamtgebietes aus. Jede Sekunde fließen durchschnittlich 116 Liter Wasser durch einen dieser Quadratkilometer. In Bezirken mit einer jährlichen Niederschlagsmenge von 11000 bis 13000 Millimetern sind es sogar 180 Liter. Das macht die Region zu dem Landstrich mit dem meisten Wasseroberflächenabfluss Kolumbiens, trotz Trockenperioden von drei oder vier Monaten pro Jahr.1 Nicht umsonst spricht man hier vom so genannten „Regenwald“. Und doch: Sauberes Trink- und Gebrauchswasser ist in der Pazifikregion keine Selbstverständlichkeit, wie das Beispiel Guapi zeigt.

Juliette Schlebusch

Zur Pazifikregion in Kolumbien zählen die Gebiete Nariño und Chocó, sowie anteilig Cauca, Valle del Cauca und Antioquia. Guapi gehört zum Küstenabschnitt Cauca. Hier leben etwa 30.000 Menschen, 97 Prozent sind afrikanischer Abstammung, Nachfahren entflohener Sklav*innen, die einst in der schwer zugänglichen Pazifikregion unsichtbar werden wollten, um so der Sklaverei und Ausbeutung durch die spanischen Kolonisatoren zu entgehen. Eingeschlossen von Mangroven, Flüssen, dem pazifischen Ozean und ohne Straßenanbindung, der den Bezirk auf dem Landweg mit dem Rest Kolumbiens verbinden würde, ist Guapi heute nach wie vor für den Großteil des Landes unsichtbar. Wer nach Guapi will, kann den Seeweg über die Hafenstadt Buenaventura wählen, das sind entweder vier bis fünf Stunden in einem Motorboot oder 14 Stunden Nachtfahrt mit der Fähre. Die bequemste Variante ist die 40-minütige Anreise per Flug von Cali aus, doch das ist für den Großteil der Bevölkerung kaum erschwinglich. Die prekäre Infrastruktur, sprich Stromausfälle und fehlende oder mangelhafte Leitungen, sorgen darüber hinaus für eine „kommunikative” oder mediale Isolation. In Guapi überleben 97 Prozent der Menschen in extremer Armut, oder anders ausgedrückt, fast allen fehlt es an fast allem: an Ausbildungsmöglichkeiten und Arbeitsplätzen, an einer angemessenen Gesundheitsversorgung, Wohnraum, Lebensmitteln und paradoxerweise auch an Wasser, oder besser gesagt, an sauberem Wasser.

Zum Bezirk Guapi gehört ein Stadtkern, 22.000 Menschen leben hier. Sie versorgen sich größtenteils mit Regenwasser. Die Stadt verfügt zwar über ein Wasserwerk, doch das wird nur bei extrem langen Trockenperioden in Betrieb genommen, und auch nur auf Druck der Bürger*innen, wenn es der Stadtverwaltung gerade passen sollte. Und zwar lediglich dann, wenn der Wasserbedarf nicht gerade auf einen Sonn- oder Feiertag fällt. Wer kann, investiert in Regentonnen und macht sich von der Stadt unabhängig. Diese Unabhängigkeit steht und fällt mit der Größe der Regentonnen und der Länge der Trockenperioden. 1000- oder 2000-Litertonnen sind für eine sechs- bis achtköpfige Familie Luxus. Wenn es wie derzeit im August bereits die dritte Woche in Folge nicht regnet, oder nicht mindestens einen Tag lang wie aus Kübeln geschüttet hat, wird der Wassermangel zum Fixpunkt aller Aktivitäten.

Als erstes bleiben die Schulkinder weg. Entweder suspendiert die Schulverwaltung den Unterricht, weil sie die Hygiene auf den Toiletten und in der Schulküche nicht mehr gewährleisten kann, oder die Schulkinder bleiben von sich aus dem Unterricht fern, aus Scham, weil die tägliche Dusche nicht absolviert werden konnte oder die Schuluniform verschmutzt ist. Und wenn Ärzt*innen beziehungsweise Patient*innen, die die kärglichen Dienste des städtischen Krankenhauses in Anspruch nehmen müssen, sich weder die Hände waschen noch die Toilette spülen können, wird auch die Gesundheitsversorgung zu einem noch größeren Problem.

Es kann sein, dass sich die Stadtverwaltung irgendwann erbarmt, das Wasserwerk in Betrieb nimmt und brackiges, kontaminiertes Wasser durch marode Leitungen schickt, die auf offener Straße durchbrechen. Das geschieht meist ohne Ankündigung und zu keiner vorhersehbaren Uhrzeit. Nur wenige Häuser haben direkten Anschluss an diese Versorgung. Wer das Wasser nicht verpassen will, muss jemanden abstellen, der die Leitungen im Blick hat und dafür sorgt, dass sich die Tonnen füllen. Manchmal schickt die Verwaltung das Wasser für eine Stunde, manchmal sind es lediglich 40 Minuten, meistens bleibt es ganz aus. Selbst in gefiltertem und abgekochtem Zustand ist es ungenießbar und dient allenfalls zum Waschen und für die Toilettenspülung. Dennoch wird es getrunken, und zwar von all denjenigen, die es sich nicht leisten können, aufbereitetes Wasser in Flaschen zu kaufen, das wie all die anderen Lebensmittel und Gebrauchsgüter aus der Hafenstadt Buenaventura angeschifft werden muss. Ein 20-Liter-Kanister Wasser kostet umgerechnet vier Euro, in Trockenzeiten sind es fünf. Das ist mehr, als die Durchschnittsfamilie in Guapi bezahlen kann. Und 20 Liter sind weg wie nichts. Also heißt die Devise: Dreckiges Wasser ist besser als gar kein Wasser.

So ungefähr denken auch all jene, die es nicht bis zu den Leitungen schaffen und daher auf den Fluss Guapi ausweichen müssen, um ihre Wasserkanister zu befüllen, um zu baden oder zu waschen. Das Problem ist der Verschmutzungsgrad des Flusswassers, denn die Stadt besitzt nicht nur keine wirklich funktionierende Wasserversorgung, sie entbehrt auch jeglicher Abwasser- und Aufbereitungssysteme: Sämtliche Abwässer aller 22000 Einwohner*innen, zuzüglich umliegender Gemeinden, landen früher oder später in diesem Fluss. Hinzu kommen Öl- und Benzinreste der Boots- und Motorwerkstätten am Ufer und quecksilberlastige Abwässer der Goldwäscherei aus den flussaufwärts liegenden Gemeinden. Und schließlich gibt es für den ganzen Bezirk kein ordentliches Müllmanagement. Auch das beeinflusst den Verschmutzungsgrad der Grund- und Oberflächenwasser, denn in den Dorfgemeinschaften ist die Müllabfuhr der Fluss. Das Wasser trägt fort, was ihm anvertraut wird. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Bis vor ein paar Jahren war das weniger ein Problem, denn die Abfälle waren hauptsächlich organisch, mittlerweile sind 60 Prozent der Abfälle anorganisch: Plastikverpackungen jeglicher Art, Styropor, Strohhalme, Windeln und Damenbinden sind das Hauptproblem, sie tauchen flussabwärts wieder auf und verbleiben eine halbe Ewigkeit im Wasserkreislauf.

In der Stadt selbst entledigt man sich des Mülls im Straßenbau. Dazu werden 1,50 Meter tiefe Trassen ausgehoben und der Abfall unsortiert, inklusive entsorgungspflichtiger Abfälle wie Krankenhausmüll, hineingekippt. Anschließend wird das Ganze mit einer 20 Zentimeter dicken Erdschicht „versiegelt”. Die Grundstücke an diesen neuen Straßen sind günstig zu haben, denn der Gestank, die Gase und die große Anzahl an Fliegen, Ratten und Schlangen sind unerträglich. Darüber hinaus ist diese Art des Straßenbaus problematisch, da Guapi ein einziges großes Feuchtgebiet ist und früher oder später auch hier alles im Wasser landet.

In Zeiten der Trockenheit tut man gut daran, nicht in den kleinen Restaurants an der Straße oder am Ufer des Flusses zu essen. Denn wenn der Regen ausbleibt, bereiten diese Lokale ihre Mahlzeiten mit Fluss- oder städtischem Wasser zu. Letztendlich weiß man nicht, was besser oder schlechter ist. Krankheiten, die durch kontaminiertes Wasser oder Lebensmittel hervorgerufen werden, gibt es viele: In Guapi ist vor allem Typhus weit verbreitet sowie äußerliche Infektionskrankheiten der Haut und Harnwegsinfekte.

Letztendlich ist dem Regenwasser in Guapi immer der Vorzug zu geben. Das hat der Ort mit dem Rest der Pazifikregion gemein. Doch auch die Regentonnen bergen Risiken sowie Krankheiten, wenn das Wasser nicht abgedeckt und die Tonnen nicht regelmäßig gereinigt werden. Verunreinigungen durch Schmutz, Fliegen oder Mücken lassen die Wasserreservoirs schnell zu Brutstätten von Krankheiten wie Malaria, Chikungunya, Dengue, Zika und dergleichen werden.

In Guapi sind die Probleme grundsätzlich multidimensional und alle hängen miteinander zusammen. Wasser, Abwasser, Müll, Krankheiten, Gesundheitssystem, Bildung, Menschenrechte; das Thema Wasser berührt wesentliche Probleme des guapirenischen Alltags, oder besser gesagt: der gesamten Pazifikregion. Letztendlich führt alles auf den fehlenden politischen Willen und die Unzulänglichkeit der staatlichen Institutionen zurück. Der Staat ist in Guapi in erster Linie abwesend, wenn es um die Bedürfnisse der Menschen geht. Entsprechend ist das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen gleich null. Und wie auch? Die Wasserversorgung ist quasi inexistent, eine nachhaltige Müllentsorgung gibt es nicht, Straßen im eigentlichen Sinne auch nicht. Dennoch kommt vierteljährlich eine Zahlungserinnerung der Stadtverwaltung, die genau diese Dienste in Rechnung stellt, aufgeteilt in angeblichen Konsum und staatliche Subventionen.

Zu Hochzeiten des bewaffneten Konflikts hat Guapi gelitten. Und tut es heute noch, nur anders. Alle Akteure waren oder sind in Guapi präsent: Paramilitärs, Guerillagruppen, Narcos, staatliche Militärs. Der Bezirk Guapi war in erster Linie Einflussgebiet der ehemaligen Guerillagruppe „Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens” (Farc). Seit dem Friedensabkommen zwischen den Rebellen und der Regierung Santos 2016 haben die Gefechte auf offener Straße nachgelassen, doch die Nachwehen der gewalttätigen Jahrzehnte sind in der Region deutlich zu spüren. Der Rückzug der Farc hat ein Machtvakuum geschaffen, das der Staat bisher nicht hat ausfüllen können oder wollen, was die territoriale Expansion anderer Gruppen in der Pazifikregion Cauca begünstigt hat.

Da ist zum einen die Guerillagruppe „Armee der Nationalen Befreiung” (ELN), zum anderen die sich konstant haltenden paramilitärischen Gruppen und die örtlichen Drogenbanden. Es gibt aber auch verhältnismäßig neue Erscheinungen an der bewaffneten Front, dazu gehören die „Vereinigte Guerillagruppe des Pazifik” (GUP) und die „Vereinigte Front des Pazifik” (FUP). Bisher weiß man wenig über diese Zusammenschlüsse, lokale Organisationen vermuten, dass Dissident*innen aus allen möglichen Gruppen hier zusammengekommen sind: aus den Reihen von Farc und ELN, Paramilitärs etc. Dann gibt es noch die so genannte „Erste Front” der Farc (Frente 1), die vor allem im Nariño und an der Grenze zum Cauca, sprich Guapi, aktiv sind. Diese neuen Gruppen scheinen vor allem an territorialer Kontrolle interessiert zu sein, an dem damit zusammenhängenden Zugang zu Bodenschätzen sowie an Transportrouten, die man für den Drogenhandel braucht. Der Konflikt ist hier noch lange nicht ausgestanden; derzeit findet lediglich eine Neuordnung der Machtverhältnisse statt. Letztlich wird es vor allem um den Zugang zu den natürlichen Ressourcen gehen.

Momentan sorgen die landesweiten Morde an Menschenrechtsverteidiger*innen und Aktivist*innen für Aufsehen, also an Menschen, die sich unter anderem für das kollektive Recht auf sauberes Wasser und Zugang zu Land und gegen die Vertreibung durch Bergbaukonzerne und Infrastrukturprojekte einsetzen. Seit 2016 zählt die nationale Ombudsstelle für Menschenrechte (Defensoría del Pueblo) 326 Morde. Für ein Land, das seit zwei Jahren versucht, den mit der Guerillaorganisation Farc abgeschlossenen Friedensvertrag umzusetzen, ist das mehr als besorgniserregend. Vor allem seit dem Amtsantritt des neuen rechten Präsidenten Iván Duque Márquez am 7. August 2018 ist das Projekt Frieden und soziale Gerechtigkeit in Kolumbien mehr denn je in Gefahr.

Bisher ist die mangelnde Wasserversorgung in Guapi in erster Linie das Ergebnis fehlenden politischen Willens und schlechter Administration, was der gesamten Pazifikregion gemeinsam ist. Doch das Wasserproblem, sprich die Verschmutzung der Gewässer, wird an Bedeutung gewinnen, wenn neben den Interessen des Staates die der bereits erwähnten Gruppen weiterhin in den Vordergrund rücken und es am Ende nur noch um den Abbau von Bodenschätzen geht. Dann wird auch der Regen nicht mehr helfen können.