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Wem gehört der Reggaetón?

Konzertabsage in Paris wegen kultureller Aneignung und eine Stellungnahme von Romina Bernardo

Mit ihrem Projekt Chocolate Remix gilt Romina Bernardo aus Buenos Aires als Pionierin des lesbischen Reggaetón. Der Name Chocolate Remix geht auf ihren Spitznamen Choco zurück. Sie hat sich dieses mehrheitlich sexistische Männergenre angeeignet und es umgedreht (siehe Interview in der ila 406), tritt bei Großdemonstrationen der Frauen- und LGBTI-Bewegungen in Argentinien auf, unterstützt unter anderem mit einem expliziten Video die Kampagne Ni Una Menos gegen sexistische Gewalt und war dieses Jahr zum dritten Mal in Europa auf Tour. Für den 26. April 2018 war ein Auftritt im feministischen Zentrum „La Mutinerie“ in Paris geplant. Dieser wurde von den Veranstalterinnen zwei Tage vorher abgesagt mit der Begründung, Chocolate Remix betreibe kulturelle Aneignung und es gehe nicht an, dass eine weiße Musikerin einen von Schwarzen entwickelten Musikstil interpretiere.

Choco reiste von Teneriffa nach Paris, um sich einer Diskussion zu stellen. Vor Ort kam jedoch niemand in das Zentrum, um die Position der Konzertabsage zu begründen. Als Vertreterin der Kritik war aus den USA telefonisch Odaymara Cuesta von der Band Krudas Cubensi (siehe ila 401) zugeschaltet. Außerdem versuchten die Anwesenden, Facebook-Kommentare der Kritiker*innen zu berücksichtigen. Eine sinnvolle Diskussion konnte unter diesen Umständen kaum zustandekommen. Trauriges Resultat der Veranstaltung, bei der es immer wieder darum ging, ob Latinxs oder Mestizxs gegenüber Schwarzen privilegiert sind und wem in dieser Hierarchie die Deutungshoheit zukommt, war, wie Choco danach kommentierte, eine Auseinandersetzung zwischen zwei unterdrückten Gruppen, die gegenseitig ihre Kämpfe herabwürdigen, an einem weißen französischen Ort.

Die Konzertabsage war anfangs allein mit dem Vorwurf kultureller Aneignung begründet worden. Im folgenden Schlagabtausch auf Facebook ging es dann fast nur noch um Rassismusvorwürfe, wegen des Künstlerinnennamens Chocolate Remix sowie des Songs und Videos Como me gusta a mi. Die facebooktypischen Hasskommentare und teilweise kruden biologistischen Argumente (wie etwa Hinweise auf gutes schwarzes und schlechtes weißes Blut) verdienen kaum die Bezeichnung Diskussion. Als Choco auf die Aufforderung, nun endlich eine Erklärung abzugeben, antwortete, sie wolle sich dafür Zeit nehmen und könne einen solchen Text nicht mitten in einer Tour vom Handy aus schreiben, kommentierte Olivia Prendes von den Krudas Cubensi knapp: „Dann stehst du also auf der faschistischen Seite.“ Inzwischen hat Choco eine ausführliche Erklärung zu den Vorwürfen verfasst, die wir im Folgenden in möglichst wörtlicher Übersetzung veröffentlichen. Dass dies manchen Kritiker*innen nicht genügen würde, war zu erwarten. In ihrer Antwort ¡El Feminismo Negro importa! ¡No más Chocolate Remix! werfen sie Choco unter anderem „kulturellen Völkermord“ vor. Krudas Cubensi haben übrigens mit Tremenda Jauría aus Madrid, die ebenfalls Reggaetón spielen, das Stück Tu no eres mi papi aufgenommen. Warum gehen sie einerseits mit nichtschwarzen Bands, die Reggaetón spielen, ins Studio und führen andererseits einen erbitterten Kampf gegen Chocolate Remix? Bei den wichtigen Fragen zu Rassismus, Unterdrückung und Aneignung hilft uns ein solcher „Kulturkampf“ wohl kaum weiter.

Alix Arnold

Romina Bernardo

Kulturelle Aneignung, Rassismus und Chocolate Remix

Nachdem ich nun meine Tour beendet habe und wieder in Argentinien bin, konnte ich mir endlich die nötige Zeit nehmen, um alle Kommentare und die wertvollen Informationen zu lesen, die mir übermittelt wurden, um über die Ereignisse nachzudenken und mich diesbezüglich zu äußern. Ihr könnt euch sicher vorstellen, dass sich ein solches Thema nicht von heute auf morgen kennenlernen und begreifen lässt. Ich befinde mich immer noch in diesem Prozess, von dem ich denke, dass er nicht enden, sondern zu einer ständigen Übung und Reflexion werden wird. Dieser Prozess begleitet mich seit dem Tag, an dem ich darauf gestoßen wurde, und auch in Zukunft; ich möchte das Gelernte auf meine künstlerische Arbeit übertragen, damit auch andere Personen als ich über dieses Thema nachdenken. Ich beziehe mich auf die verschiedenen Kommentare mir gegenüber in den Netzwerken und werde versuchen, auf dem Stand der Erkenntnisse zu antworten, die ich bis heute dazu erlangen konnte. Ich möchte dazu noch einmal sagen, dass ich mich in einem Prozess der Suche und Dekonstruktion meines Wissens befinde.

Zuallererst möchte ich all diejenigen Personen um Entschuldigung bitten, die sich durch meinen Song Como me gusta a mi verletzt fühlen. Einer der Punkte, der die meisten Kontroversen ausgelöst hat, ist der Satz dieses Liedes me gustan negras (mir gefallen schwarze Frauen), und dass der Körper der afrikanischstämmigen Frau in diesem Video hypersexualisiert und zum Objekt gemacht wird. Nachdem ich mir Texte und Videos über Themen wie die Aneignung und die Rolle des Körpers der schwarzen Frau in der Werbeindustrie und besonders der Musikindustrie angesehen habe, habe ich verstanden, dass dies leider eine negative Art der Zurschaustellung ist. Ich habe da begriffen, warum viele Personen in verschiedenen Gegenden dieser Welt mein Werk rassistisch fanden. Da mir dieses Thema völlig unbekannt war, habe ich daran wirklich nicht gedacht, als ich den Text schrieb und wir den Videoclip drehten. Außerdem konnte ich in diesem Moment nicht ahnen, dass mein Werk globale Verbreitung finden würde. Angesichts dieser Tatsache halte ich die folgende Erklärung für notwendig: In meinem Land Argentinien wird das Wort „schwarz“ als abschätziger Begriff für Leute aus den unteren Klassen gebraucht, die in den Slumvierteln, den sogenannten Villas, oder in ärmeren Stadtteilen leben. In meinem Song spiele ich auf diesen Ausdruck an, der leider, um es nochmal zu sagen, allgemein benutzt wird, ohne dass sich irgendjemand gebührende Gedanken über die Herkunft dieser Redeweise machen würde, die ich heute für rassistisch halte.

Derselbe Ausdruck wurde und wird auch für Anhänger*innen des Peronismus benutzt, einer politischen Bewegung mit großer Zustimmung in den unteren Klassen, die in den 40er-Jahren in Argentinien rund um die Figur Juan D. Peróns in der Arbeiterklasse entstanden ist. Diese Personen werden auch verächtlich als cabecitas negras, als „Schwarzköpfchen“ bezeichnet. Heute habe ich keinen Zweifel daran, dass der Gebrauch des Begriffs „schwarz“ in Argentinien stigmatisierend ist. Ihr solltet wissen, dass ich in einem Land lebe, geboren und aufgewachsen bin, wo die Polizei, um nur ein Beispiel zu nennen, im März einen zwölfjährigen Jungen mit einem Schuss ins Genick getötet hat, der wie so viele andere „El Negro“ genannt wurde. Er war mit einem Freund in der Provinz Tucumán (aus der ich herkomme, im Nordwesten des Landes) auf dem Moped unterwegs und sie töteten ihn nur wegen des Verdachts, dass er ein Straftäter sei, denn obwohl er nicht dem Phänotyp afrikanischer Abstammung entspricht, wurde er wegen seiner mestizischen Abstammung und seiner Zugehörigkeit zu einer unteren sozialen Klasse rassisiert.1 Auch wenn ich selbst in armen Verhältnissen geboren und aufgewachsen bin, muss ich zugestehen, dass im Gegensatz zu meiner Person die meisten Leute, die in solchen Gegenden wohnen, rassistisch diskriminiert werden. In der Geschichte Argentiniens wurde die Anwesenheit von Afroargentinier*innen in unserem Land negiert, sie wurden unsichtbar gemacht und zu Ausländer*innen erklärt. Von daher glauben sehr viele Argentinier*innen, es gebe in Argentinien keine phänotypisch Schwarzen. Gleichzeitig bezieht sich „schwarz“ in unserer Terminologie auf wirtschaftlich und sozial marginalisierte Personen in unserem Land. Diese Körper sind nicht rein weiß, wie es der Staat bei der Konstruktion eines vorherrschenden Ideals unserer Gesellschaft wollte oder sich vorstellte. So bezieht sich „schwarz sein“ in unserer Gesellschaft leider nicht nur auf afrikanischstämmige Personen. Dennoch ist es wichtig zu sehen, dass durch diesen Prozess von Negation das Leben und die Würde vieler Menschen aufs Spiel gesetzt werden, die sehr wohl rassisiert oder als „Nichtweiße“ (um es mal so zu sagen) angesehen werden. Mir ging es darum, diese Diffamierung, die ideologisch beziehungsweise aufgrund der Klassenzugehörigkeit genutzt wird (und mit der auch ich oft konfrontiert wurde, abgesehen von meiner mestizischen Abstammung, nämlich durch den sozialen Kontext, in dem ich geboren und aufgewachsen bin) empowernd umzudeuten. Ich habe aber bis jetzt nicht darüber nachgedacht, dass auch ich, selbst in diesem Kontext von Marginalität, mein Privileg, weiß zu sein, nicht ignorieren kann, da ich mich durch dieses Privileg leicht von dem Stigma distanzieren kann und das Ziel der ermächtigenden Umdeutung von meiner Seite aus einfach nicht erreicht werden kann. Ich bedaure, dass dies zur Legitimation von Stereotypen und zur Stigmatisierung von rassistisch diskriminierten und phänotypisch schwarzen Menschen beitragen konnte. Angesichts der großen Bedeutung dieser Frage habe ich beschlossen, den Text meines Songs zu ändern.

Eines der Mittel, das ich bei meiner Arbeit benutze, ist die Satire, mit einem großen Anteil von Ironie und Sarkasmus. In meinen Texten kommen häufig Parodien, Spott, Übertreibungen, Assoziationen, Analogien oder Doppeldeutiges vor. Aber ich muss klarstellen, dass das Ziel der Parodie in meinem Projekt der Macho ist. Als Frau finde ich es wirklich völlig legitim, auf die Frauenfeindlichkeit antworten zu können, mit der sie uns auf der Straße oder in Songs ständig konfrontieren. Das ist nun mal mein Kampfmittel. Aber als weiße Frau möchte ich meine schwarzen Compañeras, schwarze Lesben und allgemein die Afrocommunity keinesfalls verletzen oder irgendeine Art von Unterdrückung ihnen gegenüber legitimieren.

In Bezug auf den Namen meines Projektes muss ich klarstellen, dass er von meinem Spitznamen „Chocolate“ oder „Choco“ kommt. So nennen mich meine Familie und meine Freund*innen seit 15 Jahren. Woher er kommt? Von einem Witz, an dem ich mich nicht mehr genau erinnere, aber er hatte mit einem Avatar zu tun, den ich in einem Forum benutzte, einem Foto von einer Frau, die Schokoladentorte isst, und dem Bezug von diesem Foto auf mein Lesbischsein (Torta ist in Argentinien ein Begriff, mit dem Lesben bezeichnet werden). Auch wenn ich verstehe, dass zwischen schwarzer Schokolade und einer schwarzen Person eine Verbindung hergestellt werden kann, kann ich hierzu nur sagen, dass der Name nichts damit zu tun hat. Es handelt sich um meinen Spitznamen, und aus diesem Spitznamen entstand der Name des Projektes.

Ein letzter Punkt: Wenn ich sage, dass das, was ich mache, eine Wiederaneignung ist, dann meine ich damit keinesfalls, dass ich mir das musikalische Genre der afrikanischen Gemeinschaft aneigne, wo der Reggaetón seine Wurzeln hat und der gegenüber ich meinen absoluten Respekt bezeuge, sondern ich beziehe mich auf Genderfragen. Ja, es ist meine Absicht, den Hetero-Cis-Männern dieses Genre, das sich seit mindestens zwei Jahrzehnten in Lateinamerika verbreitet und in dem wie in vielen anderen ihre Stimme dominiert, aus der Hand zu schlagen, und ich bitte um Erlaubnis, mit diesem Rhythmus, mit dem ich mich identifiziere, zu arbeiten. Ich möchte weiterhin über meine Realität als Frau, Lesbe, Dissidentin, Latina und Südamerikanerin singen sowie als Person aus der Provinz und einer randständigen Gegend, wo Reggaetón einer der am meisten gehörten Rhythmen ist, damit dieses musikalische Genre zu einem Mittel des Empowerment wird und zu einer Waffe im Kampf gegen die verschiedenen Unterdrückungen, denen wir ausgesetzt sind.

Wie mich wird es auch viele andere gewundert haben, dass gerade mir vorgeworfen wird, Reggaetón zu singen, und nicht den vielen anderen Projekten aus verschiedenen Richtungen, die von weißen Personen betrieben werden und sowohl Reggaetón als auch andere Stile mit afrikanischem Ursprung singen. Nachdem ich einiges über kulturelle Aneignung gelesen habe und euch selbstverständlich dafür danke, dass ihr euch die Zeit genommen habt, mir diese Materialien zukommen zu lassen, glaube ich zu verstehen. Ich gehe außerdem davon aus, dass die extreme und wenig engagierte Vereinfachung von Seiten des französischen Veranstaltungsortes „La Mutinerie“ bei der Absage des Konzertes, mit der ich wie schon früher geäußert nicht einverstanden war, zu verschiedenen Fehlinterpretationen über die Problematik geführt hat. Das Ganze wurde darauf reduziert, dass ich als weiße Person eine Musik afrikanischen Ursprungs singe, und dieses Urteil blieb die einzige Antwort. Trotzdem hat diese Haltung mich in gewisser Weise dazu gebracht, mitzubekommen, dass es hier andere Dinge gibt, die wichtig sind und berücksichtigt werden müssen, wie diejenigen, zu denen ich eben etwas gesagt habe, und ich beschäftige mich seitdem mit diesem Thema.

Ich möchte meinen tiefsten Respekt und meine Bewunderung für die Musik, der ich mein Leben widme, und für diejenigen, die sie geschaffen haben, zum Ausdruck bringen, die Afrocommunity, wo der Reggaetón in den frühen 90ern in Panama entstand, sowie die verschiedenen musikalischen Genres mit afrikanischem Ursprung, die sich in Lateinamerika verbreitet haben, wie Cumbia, Tango, Zamba oder Chacarera, und praktisch alle musikalischen Genres, die mein ganzes Leben geprägt und durchdrungen haben und bei denen ich keinen Grund finde, warum ich mich entsprechend meiner Herkunft, meiner sozialen Klasse und meiner Generation usw. nicht mit ihnen identifizieren sollte. Ehrlich gesagt habe ich keine andere kulturelle Identität, der ich mich zuordnen könnte, und so geht es Millionen von weißen und mestizischen Lateinamerikaner*innen, die wir auf diesem kolonisierten Kontinent geboren und aufgewachsen sind. Diese Musikstile waren für uns Bezugspunkte und sie haben uns umgeben, sie waren entscheidend für unser Identitätsgefühl und für unsere Zugehörigkeit zu einem bestimmten gesellschaftlichen Sektor.

Schließlich möchte ich noch sagen, dass ich mich über die Stimmen der schwarzen Menschen, die sich zu Wort gemeldet haben, freue und dass ich möchte, dass sie respektiert werden. Selbstverständlich bin ich absolut dafür, dass jede unterdrückte Gruppe die Forderungen stellt, die sie für richtig hält, und ich unterstütze hundertprozentig den antirassistischen Kampf. Als weiße Frau, die sich ihrer Privilegien bewusst ist, möchte ich musikalisch eine Arbeit machen, die nicht nur für einen Feminismus gegen Homo-, Lesben-, Trans- und Bi-Phobie kämpft, sondern auch gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.

Außerdem freut es mich, dass ich auf dieses Thema gestoßen bin, das für mich eine Bereicherung ist. Ich habe auch das Vertrauen, dass diese Ereignisse nicht nur bei mir das Bedürfnis geweckt haben, mich näher damit zu beschäftigen (und außerdem die Geschichtsschreibung meines Landes in Bezug auf die afrikanische Community infrage zu stellen), sondern auch bei vielen anderen, die für eine gerechtere Welt kämpfen. Schließlich möchte ich noch all denjenigen danken, die sich die Mühe gemacht haben, mir Informationen zu beschaffen. Ich hatte das Glück, viele großartige Menschen zu treffen, von denen ich viel lernen kann. Ihr könnt auf jeden Fall mit mir rechnen.