Gegen neoliberale Bildungsreform und Parteinähe
Noch im April 2018 verteidigte Mexikos Präsident Enrique Peña Nieto die zu Beginn seiner Amtszeit (2012 bis 2018) verabschiedete Bildungsreform als seine wichtigste Initiative. Er verglich den Einsatz für sie mit der Verteidigung der nationalen Souveränität. Die Gesellschaft müsse mit einer einzigen Stimme dafür einstehen. Nichts könnte weiter von der Realität entfernt sein. Die Reform, die unter anderem einen Schwerpunkt auf eine bestrafende Evaluierung der Lehrer*innen legt und unter dem Einfluss der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und dem mexikanischen Privatsektor zahlreiche Elemente einer Bildungsprivatisierung enthält (vgl. dazu ila 369 und 399), könnte bald Geschichte sein. Sollte der nach derzeitigem Stand aussichtsreichste Präsidentschaftskandidat Andrés Manuel López Obrador von der Nationalen Erneuerungsbewegung (Morena) in seinem dritten Anlauf und ohne Wahlbetrug der Regierung am 1. Juli 2018 das Rennen machen, steht er im Wort, die Reform weitgehend rückgängig zu machen. Auch der konservative Oppositionskandidat Ricardo Anaya von der Partei der Nationalen Aktion (PAN), dessen Partei die Reform vollständig unterstützte, will sie nicht mehr zu 100 Prozent durchsetzen. Der bisher abgeschlagene Regierungskandidat Antonio Meade von der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) verspricht den Lehrer*innen gerechtere und bessere Bezahlung. Noch vor Jahren allerdings machten PRI-Regierung und Privatwirtschaft mit Attacken gegen die angeblich „reichen Lehrer*innen“ Stimmung.
Wenn die Bildungsreform bisher nur in Ansätzen angewandt werden konnte, so ist das maßgeblich das Verdienst der „Nationalen Koordination der Bildungsbeschäftigten“ (CNTE). Der Einsatz dieser dissidenten Strömung innerhalb der nationalen Lehrer*innengewerkschaft SNTE ist nicht mehr so massiv wie noch 2013, als sie mit Massendemonstrationen und Großblockaden den entschlossenen Widerstand des größten Teils der Lehrer*innen unter Beweis stellte. Doch über fast sechs Jahre hinweg mobilisierte die CNTE praktisch permanent gegen die Reform. Vor allem in ihren Hochburgen, den Bundesstaaten Chiapas, Oaxaca, Veracruz, Guerrero, Michoacán sowie Mexiko-Stadt, aber auch in anderen Landesteilen. Von den 1,3 bis 1,5 Millionen gewerkschaftlich organisierten Lehrer*innen, das sind so gut wie alle Lehrer*innen im Grundschulbereich (1. bis 6. Schuljahr) und in der Sekundarstufe (7. bis 9. Schuljahr), steht ein knappes Drittel der Koordination nahe.
Zunächst sah es so aus, als ob die Regierung mit ihrer Reform durchkäme. Im Februar 2013 wurde die mächtige Vorsitzende „auf Lebenszeit“ der PRI-nahen Lehrer*innengewerkschaft SNTE, Elba Esther Gordillo, aufgrund der, wahrscheinlich nicht falschen, Anklage der Gelderveruntreuung im Februar 2013 verhaftet. Gordillo, jahrzehntelang auch eine wichtige PRI-Politikerin, hatte ihren Einflussbereich gefährdet gesehen und der Reform ihre Unterstützung verweigert. Nun hat die SNTE eine völlig brave und zahme Gewerkschaftsführung. Es ist nicht einmal wert, deren Namen zu erwähnen. Doch selbst unter den nicht-dissidenten Lehrer*innen hält sich der Enthusiasmus für die Reform mehr als in Grenzen.
Den hohen Preis ihrer konsequenten Opposition gegen das Reformprojekt der Regierung zahlten jedoch die Mitglieder der CNTE. Für das erklärte Ziel, den Widerstand der CNTE zu brechen, scheuten der Staat, die privatwirtschaftliche Vereinigung Mexicanos Primero (Mexikaner zuerst) und ein großer Teil der Mainstreammedien vor Diffamierungen und dem Einsatz brachialer Gewalt nicht zurück. Trauriger Höhepunkt waren die Ereignisse in der Kleinstadt Nochixtlán im Bundesstaat Oaxaca am 19. Juni 2016. Im Kontext von Unterstützungsaktionen der Bevölkerung für die Lehrer*innen gab es durch den offenbar gezielten Schusswaffeneinsatz der Sicherheitskräfte sieben Tote (eine achte Person starb bei der Explosion einer selbstfabrizierten Rakete).
Die Protestaktionen der CNTE waren oft nicht zimperlich. Doch mehrfach führte der absolut unverhältnismäßige Einsatz der geballten Staatsmacht zu Toten und Verwundeten auf der Lehrer*innenseite. Dazu kamen Verhaftungen, Kriminalisierungen und bisher fast 600 entlassene Lehrer*innen. Ein Hauptaugenmerk der Koordination liegt auf der Wiedereinstellung dieser Entlassenen. Fehlt ein Lehrer dreimal innerhalb von 30 Tagen unentschuldigt, kann er nach den Bestimmungen der Bildungsreform fristlos entlassen werden. Dies ist vor allem eine Handhabe gegen streikende Lehrer*innen, denn die CNTE hat öfter zu mehrtägigen Streiks aufgerufen. Andererseits wäre die Zahl der fristlos gekündigten Lehrer*innen ohne die dauernden Aktionen der Koordination sicher wesentlich höher.
Für ihre Unfähigkeit zum Dialog bekommt die Regierung heute die Rechnung präsentiert. Lange Zeit galt Bildungsminister Aurelio Nuño als aussichtsreichster Anwärter, Präsidentschaftskandidat der PRI zu werden. Seine unflexible Haltung und sein Bedürfnis, sich als „scharfer Hund“ gegen die Lehrer*innen zu profilieren, ohne jedoch die Reform durchpeitschen zu können, kosteten den unbeliebten Politiker die Kandidatur. Im vergangenen Dezember trat er stattdessen als Chefkoordinator in das Kampagnenteam von Antonio Meade ein. Wenn man den niedrigen Umfragewerten Meades Glauben schenken kann, hat die PRI ihrem Kandidaten damit einen Bärendienst erwiesen. Auf Nuño geht es vor allem zurück, dass seit Nochixtlán sämtliche Gespräche zwischen CNTE und Regierung abgebrochen sind. Ebenso trug er zu dem Eindruck bei, dass in seiner Amtszeit die formal autonome Nationale Bildungsevaluierungsbehörde (INEE) zu einer reinen Befehlsempfängerin des Bildungsministeriums geworden sei.
Die kritischen Lehrergewerkschafter*innen haben immer wieder darauf hingewiesen, wie schlecht und notdürftig viele Schulen vor allem auf dem Land ausgestattet sind. An diesen Lernbedingungen müsse gearbeitet werden, anstatt einem Strafkatalog gegen schlecht evaluierte Lehrer*innen den Vorrang zu geben. Doch bei Schulbau und -ausstattung blieben die Versprechungen der Bildungsreform abgesehen von einigen Vorzeigeschulen völliges Stückwerk. Ähnliches wiederholt sich nun mit dem Wiederaufbau der Schulen in mehreren Bundesstaaten nach dem schweren Erdbeben vom 19. September 2017. Der Ende 2016 veröffentlichte Plan, die Zahl der Landschulen massiv zu reduzieren und die Schüler*innen in einer Art Internat zu konzentrieren, rief Unverständnis und massiven Einspruch der Eltern hervor. Zusammengefasst: Nuño und die Bundesregierung bekamen mit ihrer Bildungsreform kaum einen Fuß auf den Boden.
Hugo Aboites, Rektor der unter Bürgermeister López Obrador gegründeten Autonomen Universität von Mexiko-Stadt (UACM) und selber ein entschiedener Gegner der Bildungsreform, glaubt: „Die Reform befindet sich in einer schweren Krise, das Wahrscheinlichste ist, dass sie sich nicht wieder erholt. Das Wahlergebnis wird uns nur darüber Aufschluss geben, ob sie mit Sonde auf der Intensivstation bleibt (mit einer PAN/PRI-Regierung) oder ein schnelles, barmherziges Ende findet (wie Morena verspricht), um einer wirksameren und zivilisierteren Alternative zu weichen.“
Aber selbst bei einem Regierungswechsel nach dem 1. Juli und der offiziellen Rücknahme der Bildungsreform stünden die um die CNTE gruppierten kämpferischen Lehrer*innen vor einer Reihe von Herausforderungen. Innerhalb der CNTE gibt es sowohl reformistische wie stark antikapitalistische Strömungen. Deren Verhältnis und Zusammenarbeit ist von einer fragilen Balance geprägt. So schloss die Sektion 22 aus Oaxaca (vgl. Beitrag von Philipp Gerber in dieser ila), in der selbst sehr unterschiedliche Strömungen vertreten sind, vor Monaten ein direktes Bündnis mit López Obrador nicht aus. Der vierte außerordentliche CNTE-Kongress Mitte März 2018 schob dem jedoch einen Riegel vor. Teile der CNTE werfen dem Morena-Kandidaten durchaus vor, nur ein weiteres Mitglied der mexikanischen Oligarchie zu sein. Andere argumentieren, die Koordination dürfe sich nicht abhängig von Wahlen und Parteien machen lassen. Es spricht durchaus für die in 38 Jahren bei aller Heftigkeit und Unterschiedlichkeit der Meinungen entwickelte demokratische Diskussionskultur der CNTE, dass ein Bruch kein Thema war. Die Schlussfolgerungen des Kongresses lassen vielmehr explizit Raum für Pluralität.
Sollte López Obrador die Wahlen tatsächlich gewinnen, wird die CNTE gute Chancen haben, innerhalb der SNTE an Gewicht zu gewinnen. Trotz ihrer Stärke und der regionalen Sektionen unter ihrer Kontrolle hat es die Koordination in den 38 Jahren ihrer Existenz bisher nicht geschafft, die SNTE als Ganzes zu dominieren. Als Gegenspielerin könnte jedoch einmal mehr Elba Esther Gordillo auftauchen. Erst vor kurzem vom Gefängnis in einen Hausarrest gewechselt, hat die korrupte Machtfrau über Familienangehörige zuletzt den Wahlkampf von López Obrador unterstützt. Diese Rache an der PRI macht sie nicht zu einer geläuterten Person. Sie würde versuchen, wieder an Einfluss in der SNTE zu gewinnen. Und dort gehörte die CNTE über Jahrzehnte zu ihren Todfeinden.
Der Koordination selbst stünde es gut zu Gesicht, Gordillo nicht nur mit männlichen Funktionären zu begegnen. Die Frauen sind in den Führungsgremien und bei Delegiert*innenversammlungen der CNTE immer noch enorm unterrepräsentiert. Auf die „Nationale Koordination der Bildungsbeschäftigten“ warten also viele Aufgaben. Und sollte ein kurzfristiges Zweckbündnis von PRI und PAN gegen López Obrador dessen Wahlsieg doch noch verhindern, kämen weitere sechs ganz harte Jahre auf sie zu, Bildungsreform hin oder her.