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Ein bolivianischer Schindler war er nicht

Mauricio Hochschild und die jüdische Immigration in Bolivien

Der aus dem hessischen Biblis stammende, Anfang des 20. Jahrhunderts nach Südamerika ausgewanderte Mauricio Hochschild wurde neben Simón Ituri Patiño und Carlos Victor Aramayo als einer der bolivianischen „Zinnbarone“ bekannt. Die drei Namen wurden lange Zeit vor allem mit der brutalen Ausbeutung indigener Bergleute assoziiert. Ein Kernpunkt der bolivianischen Revolution von 1952 war die Enteignung der „Zinnbarone“ und die Nationalisierung des Bergbaus. In jüngerer Zeit wurde eine andere Facette des Wirken Hochschilds bekannt, sein Einsatz für Tausende nach Bolivien geflohener deutscher Juden und Jüdinnen. Verschiedene Medien, darunter die HR-Hessenschau und die FAZ, berichteten darüber und nannten den aus einer jüdischen Familie kommenden Hochschild den „bolivianischen Oskar Schindler“. Wie so oft hinkt dieser historische Vergleich. Der bolivianische Historiker und Publizist León E. Bieber, dessen Eltern 1938 als jüdische Flüchtlinge nach Bolivien kamen, hat in den letzten Jahren zwei grundlegende Bücher über die jüdische Migration nach Bolivien und über die Rolle Mauricio Hochschilds veröffentlicht (s. unten). Im folgenden Beitrag legt Bieber dar, dass Hochschild mit seinem Engagement verfolgte Juden und Jüdinnen nicht vor dem Zugriff der Nazis gerettet hat, wohl aber jenen, denen zwischen 1938 und 1940 die Flucht nach Bolivien gelungen war, geholfen hat, sich in ihrem bitter armen Exilland zu etablieren und sich eine berufliche Existenz aufzubauen.

León E. Bieber

Zur umfassenden Würdigung der wichtigen Rolle, die Mauricio Hochschild (im weiteren Text der Einfachheit halber mit M.H. bezeichnet) im Kontext der Ankunft von ungefähr 8000 Juden zwischen 1938 und 1940 in Bolivien spielte, ist es von fundamentaler Bedeutung, zwischen seiner Person und dem JOINT-Komitee, zu unterscheiden. Diese 1940 in New York gegründete Hilfsorganisation US-amerikanischer Juden hatte ursprünglich die Aufgabe, die durch den ersten Weltkrieg in Not geratenen jüdischen Glaubensgenossen zu unterstützen. Doch infolge der Entwicklungen in Europa übernahm der JOINT vorwiegend die Unterstützung der wegen der Verfolgung durch das nationalsozialistische Regime emigrierenden deutschen Juden und Jüdinnen. Mit fast 79 Millionen US-Dollar unterstützte man weltweit jüdische Flüchtlinge, vorwiegend um ihnen zu einer neuen Existenzgründung in den Ländern, in denen man ihnen Asyl gewährte, zu verhelfen. Genau dies geschah auch zwischen 1938 und 1940 in Bolivien. Die dort angekommenen Emigrant*innen aus Nazideutschland erhielten etwa 90 Prozent der finanziellen Hilfe, die man ihnen gewährte, vom JOINT.

Bereits im ersten Halbjahr 1939 waren Mauricio Hochschild und der JOINT eine sehr enge Beziehung eingegangen. Nach seiner im Juni desselben Jahres in New York stattgefundenen Besprechung mit den führenden Persönlichkeiten des Komitees konnten sich diese von den hervorragenden Beziehungen und Kontakten Hochschilds mit bolivianischen Regierungskreisen überzeugen (damals war M.H. bereits der zweitwichtigste Minenunternehmer des Landes) ebenso wie die Energie erahnen, mit der er sich (gemäß Aussage der JOINT-Dokumente) dem akuten jüdischen Flüchtlingsproblem dieser Jahre widmete.

Er wurde zum Vertrauensmann des amerikanischen Komitees in sämtlichen die jüdischen Gemeinden Boliviens betreffenden Angelegenheiten. Alle bedeutenden Fragen wurden mit ihm beraten und nicht selten wurden wichtige Entscheidungen bis zu seiner nächsten Ankunft in New York vertagt.

Da er nun mit der ausreichenden finanziellen Unterstützung und einem kategorischen Vertrauensvotum seitens dieses gut betuchten amerikanischen Sponsors rechnen konnte, wurde M.H. zum hauptsächlichen Promoter und Impulsgeber von zwei Institutionen, die maßgeblich dazu beitrugen, den Integrationsprozess Tausender Juden in das ökonomische Leben des südamerikanischen Landes zu ermöglichen. Auf Initiative seines Minenunternehmens S.A.M.I. gründete man im Januar 1939 die SOPRO (Gesellschaft zur Protektion Israelitischer Immigranten), über die die vom JOINT stammenden Geldmittel den Flüchtlingen zugänglich gemacht wurden. Dabei beanspruchte die SOPRO das alleinige Recht, von nun an die Immigrationsarbeit an sich zu ziehen, was auch tatsächlich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs währte. Sowohl ihre Leitung wie auch das geschäftsführende Personal blieben in Händen der Minengesellschaft. M.H. benannte für sie einen Geschäftsführer seines absoluten Vertrauens.
Vierzehn Monate später, im März 1940, mündeten Verhandlungen zwischen M.H. und dem JOINT in der Gründung der Bolivianischen Kolonisierungsgesellschaft (SOCOBO), deren Präsidentschaft er persönlich übernahm. Sie war der Eckstein sämtlicher von M.H. gegenüber der bolivianischen Regierung eingegangenen Verpflichtungen. Die damaligen lebensrettenden Visaerteilungen an die jüdischen Immigrant*innen erfolgten nämlich unter dem Vorbehalt, dass diese mehrheitlich einer landwirtschaftlichen Betätigung in Bolivien nachgehen sollten. Eben dies sollte die SOCOBO erreichen. Die ankommenden Juden und Jüdinnen sollten aufs Land ziehen und dort die landwirtschaftliche Kolonisierung voranbringen. Ein gewünschter Nebeneffekt dieses Umzuges sollte die Entfernung, wenigstens eines Teils der jüdischen Bevölkerung, aus den beiden wichtigsten Städten des Landes, La Paz und Cochabamba, sein, um den dort bereits zunehmenden Antisemitismus zu bremsen. Vor allem aber sollte die Erfüllung der anvisierten Ziele dazu beitragen, dass Bolivien weiterhin seine Tore für die jüdische Immigration offen hielt.

Mit der Unterstützung eines argentinischen Agronomen wurden drei nebeneinanderliegende Haciendas in der Provinz Nordyungas für die Ankömmlinge instand gesetzt, der in der Provinz La Paz liegenden Übergangsregion zwischen der andinen Hochebene und dem tropischen Tiefland. In den besten Jahren ihrer Existenz siedelten sich dort zwischen 150 und 200 Personen an. Dieser Phase des Erfolges, die zwischen 1940 und 1943 währte, folgte jene der Krise. Als Mitte 1944 nur noch neun Familien die Kolonie bewirtschafteten, hielt Don Mauricio (so wurde er in Bolivien meistens genannt, weil die Aussprache seines Nachnamens für viele zu schwierig war) dennoch an dem Landwirtschaftsprojekt fest. Er war der Überzeugung, dass ein großer Teil der nach Bolivien gekommenen jüdischen Flüchtlinge, schon wegen der Enge des bolivianischen Marktes, längerfristig keine andere Option hätte als das Leben auf den Landgütern des Projektes. Entgegen dieser Erwartung bevorzugten die meisten der zwischen 1938 und 1940 in Bolivien Angekommenen nach 1945 eine Migration in andere Länder mit günstigeren wirtschaftlichen Perspektiven, vor allem nach Argentinien und in die USA.

Trotz der sicherlich für den Minenmagnaten größten Enttäuschung die er in Bezug auf die jüdische Emigration erlitt, gibt es keinen Zweifel, dass zwischen Januar 1939, als die SOPRO ins Leben gerufen wurde, und März 1940, als die SOCOBO entstand, also im Verlauf von weniger als vierzehn Monaten, ihm eine Großtat gelang. Hunderte, vielleicht sogar einige Tausend Immigrant*innen erhielten eine Starthilfe, die es ihnen ermöglichte, in den 50er-Jahren Teil der bolivianischen Mittelschicht zu werden. Dank seiner engen Beziehungen zum JOINT, seiner stringenten Kontrolle der SOPRO, seines großen Organisationstalents und seiner unermüdlichen Emsigkeit ermöglichte er ihnen in weniger als zehn Jahren nach ihrer Ankunft die Eingliederung in das ökonomische Leben des Landes.

Zweifelsohne war dies der größte Beitrag, den er bei dieser Einwanderungswelle leistete, die das südamerikanische Land zwischen 1938 und 1940 erfuhr. Hierbei muss unterstrichen werden, wie von Carlos Mesa Gisbert im Vorwort zu meinem Buch über Mauricio Hochschild bemerkt, „dass sich in seinem unternehmerischen Agieren, auf einem Grat äußerst schwieriger Unterscheidung, die augenscheinliche Solidarität mit seinen Religionsgenossen und gleichzeitig eine praktische und klare kapitalistische Denkart vereinten“. Und dies nicht ausschließlich, wie C. Mesa notiert, „wegen der Möglichkeit, dass diese Migration neue Horizonte für die Agrarproduktion eröffnete”. M. H. war nie großzügig, weder mit den Löhnen seiner Arbeiter noch mit den Gehältern seiner Angestellten, einschließlich der großen Anzahl seiner jüdischen Mitarbeiter. Die geforderte Leistung in seinem Unternehmen war rigoros. Es wurden sechs Tage in der Woche voll und sonntags bis mittags gearbeitet, wie damals ein arbeitsuchender Emigrant vom Personalchef erfuhr.

Hochschild hatte keinen großen Anteil an der Ausreise der Juden aus Deutschland, Österreich oder Polen. Diese wurden hauptsächlich neben dem JOINT von einem Unterstützungskomitee für israelitische Emigranten, dem HICEM, organisiert und finanziert, vor allem durch die Übernahme der Reisekosten. Hierzu kommt die Rolle, die von den bolivianischen diplomatischen Vertretungen bei der Ausgabe von leider in sehr vielen Fällen Scheinvisa ausgeübt wurde. Doktor Mauricio Hochschild gebührt die Ehre, einer Gruppe von Menschen, die sehr nahe an ihrer Vernichtung gestanden hatten, einen neuen Horizont und Hoffnung in einem fernen Land in der Neuen Welt zu bieten, das für sie bis dahin vollkommen unbekannt gewesen war.

 

León E. Bieber: Jüdisches Leben in Bolivien. Die Einwanderungswelle 1938-1940, Metropol-Verlag, Berlin 2012, (vgl. Besprechung in der ila 358)

ders.: Dr. Moritz Hochschild. Empresario minero, promotor e impulsor de la inmigración judía a Bolivia, El País de Santa Cruz de la Sierra, 2015

 

Übersetzung aus dem Spanischen: Manfred Eisner. In seinem Roman Cantata Bolivia, (Leipzig, 2015) hat Manfed Eisner, der als Kind 1940 mit seiner Mutter nach Bolivien kam, der jüdischen Immigration in Bolivien und auch Hochschilds Kolonisierungsprojekt in den Nordyungas ein literarisches Denkmal gesetzt (vgl. ila 387 und ila 392).