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Nichts ist geheimnisvoller als die Phantasien der eigenen Kindheit

Louis-Philippe Dalemberts Roman „Die Götter reisen in die Nacht“
Gert Eisenbürger

Alles beginnt mit einem Fauxpas. Der Ich-Erzähler, ein seit langem in Frankreich und Italien lebender Haitianer, ist wegen der Liebe zu Caroline nach New York gekommen. Er weiß, dass sie regelmäßig an Voodoo-Zeremonien in der haitianischen Diaspora Harlems teilnimmt. Obwohl er als Freigeist und Kosmopolit mit dieser Welt nichts zu tun hat, interessiert sie ihn und er begleitet Caroline zu einer religiösen Zusammenkunft. Als Teil des Rituals geht dabei eine Flasche Lambrusco herum, aus der alle einen Schluck nehmen, außer dem Ich-Erzähler. Der findet das unhygienisch und mag zudem den billigen Fusel überhaupt nicht. Doch damit stellt er sich außerhalb der Gemeinschaft und verunmöglicht das Eintauchen in eine kollektive Spiritualität. Auch wenn niemand etwas sagt, bringen die Priesterin und vor allem Caroline ihre tiefe Missbilligung zum Ausdruck. Die Geliebte spricht an dem Abend kein Wort mehr mit ihm und geht nach ihrer Rückkehr gleich ins Bett.

Er liegt an ihrer Seite und kann die ganze Nacht keinen Schlaf finden. Voller Sehnsucht reflektiert er über den tiefen Graben, der sich zwischen ihm und ihr aufgetan hat. Seine Gedanken führen ihn zurück in seine Kindheit in Haiti. Da seine Mutter in den USA lebte und er den Vater nicht kannte, wuchs er bei seiner Großmutter auf. Die liebte ihren Enkel und tat alles, um ihn satt zu bekommen und ihm das zu geben, was er ihrer Meinung nach brauchte. Vor allem war sie darauf bedacht, dass er nicht verweichlichte. Wenn er weinend nach Hause kam, weil andere Kinder ihm etwas getan hatten, tröstete seine „Grannie“ ihn nicht etwa, sondern versohlte ihm den Hintern. Er sollte bei Zeiten lernen, sich seiner Haut zu wehren. Noch weit mehr Hiebe drohten ihm freilich, wenn er sich in seiner kindlichen Neugier für Dinge interessierte, die auch nur im Entferntesten mit Voodoo zu tun hatten. Schon das Nachpfeifen eines gerade populären Radiosongs, der einen Bezug zu dessen religiösen Praktiken hatte, konnte eine Bestrafung durch die Großmutter nachsichziehen, erst recht das Lauschen bei entsprechenden Gesprächen Erwachsener oder gar das Vorwagen in die Nähe von Tempeln und heiligen Orten des Voodoo.

Denn obwohl der Grannie selbst eine besondere Nähe zu den Göttern und heilerische Fähigkeiten nachgesagt wurden (von denen sie in Notfällen auch Gebrauch machte), hatte sie sich ganz dem christlichen Glauben verschrieben. Voodoo sah sie als Teufelswerk, mit dem ihr Enkel möglichst nicht in Berührung kommen sollte. Aber natürlich stachelten die Verbote seine Phantasie an. Die wurde immer wieder befeuert von seinem stotternden Vetter Fanfan, der ihm – gegen einen Anteil seiner Essensrationen – Geschichten von Göttern, Zombies und als brave Christenmenschen getarnten Werwölfen erzählt. Die Geschichten faszinierten ihn, machten ihm Angst und verfolgten ihn bis in die Träume. Aber diese Ängste und Alpträume musste er natürlich für sich behalten, vor allem durfte die Großmutter davon nichts wissen.

So blieb alles, was mit Geistern und Göttern zu tun hatte, für ihn ein vermintes Gelände, was auch die anderen Kinder des Viertels wahrnahmen. Weil sie um die Frömmigkeit seiner Großmutter wussten und ihm vermutlich auch seine guten schulischen Leistungen neideten, nannten sie ihn das „Unschuldslamm“. Wenn er das hörte, wurde er fuchsteufelswild und prügelte sich mit jedem, der ihn so nannte, auch wenn er dabei oft den Kürzeren zog.

Er träumte stets davon, es allen zu zeigen. Doch die kindlichen Omnipotenzphantasien ließen sich nie verwirklichen, oder wenn er sich etwas für ihn Ungeheuerliches traute, war es für die anderen uninteressant bzw. sie bekamen es nicht mit.

So entfernt er sich langsam aber sicher von seinen Altersgenoss*innen und seinem Viertel. Er spielt seine intellektuelle Überlegenheit aus, kann damit sogar Caroline, für die und ihre Zwillingsschwester alle Jungs im Viertel schwärmen, für sich gewinnen. Dann studiert er und verlässt sein Heimatland. In der Nacht nach der für ihn verunglückten Voodoo-Zeremonie in New York wird ihm klar, dass er, der sich souverän in verschiedenen Teilen der Welt zu bewegen weiß, etwas unwiderruflich in Haiti zurückgelassen hat – den Zauber und die Phantasiewelt seiner Kindheit. Wo einst magisches Denken seinen Platz hatte, ist eine Leerstelle geblieben, die ihm in dieser Nacht schmerzhaft bewusst wird.

Auch wenn es in dem Roman vordergründig um Voodoo und Haiti geht, ist die Geschichte doch universell. Wer erinnert sich nicht an die eigenen kindlichen Gedanken und Vorstellungen. Über die meisten schmunzelt man rückwirkend. Sicher ist man auf der einen Seite froh, vieles verstanden und Geheimnisse gelüftet zu haben. Aber das bedeutet immer auch einen Verlust an Emotionalität. Louis-Philippe Dalembert hat die Welt des kindlichen Welterlebens in seinem Roman mit feinem Humor und einem Schuss Melancholie an die Oberfläche geholt und sprachlich und dramaturgisch so gestaltet, dass die Lektüre großes Vergnügen bereitet und, zumindest war es bei mir so, zu Exkursionen in die Phantasiewelt der eigenen Kindheit anregt.