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Huellas de la Memoria

Erinnerungsarbeit mit den Opfern von gewaltsamem Verschwindenlassen in Lateinamerika

Die Geschichte von Guadalupe Pérez und seinem Vater Tómas Pérez Francisco, der 1990 Opfer von gewaltsamem Verschwindenlassen in Mexiko wurde, ist eine Botschaft von vielen, die das Kollektiv Huellas de la Memoria („Spuren der Erinnerung“) archiviert hat, um eine Öffentlichkeit für den Kampf der Opfer gegen das Menschenrechtsverbrechen zu schaffen. Für Guadalupe und Tausende von Angehörigen ist es ein Kampf um die öffentliche Wahrnehmung und Anerkennung dieses Verbrechens, ein Kampf um Wahrheit und Strafverfolgung.

Annika Hirsekorn

Mit meinen Schritten suche ich nach dem Vater, der am 1. Mai 1990 in Pantepec, Puebla, festgenommen wurde und verschwunden ist. Diese Schritte suchen nach Tomás Pérez Francisco. Wir folgen den Spuren eines Vaters, der nicht von selbst gegangen oder verloren gegangen ist, sondern dem Vater, den sie lebend mitgenommen haben. Wir gehen für dich, für die Erinnerung und Gerechtigkeit.  Guadalupe Pérez

 

Die UN-Konvention gegen Verschwindenlassen1 definiert gewaltsames Verschwinden-lassen als jegliche Form von Freiheitsentzug, begangen durch Staatsbedienstete, Einzelpersonen oder Gruppen, die mit Erlaubnis, Duldung oder billigender Inkaufnahme des Staates handeln. Es ist eine weltweit angewandte Strategie, um Angst und Repression zu verbreiten, doch im Fall Mexikos sprechen Expert*innen von einem geradezu epidemischen Auftreten der Menschenrechtsverletzung. Jeden Tag verschwinden hier durchschnittlich zwei Personen, die offiziell anerkannte Zahl vermisster Personen beträgt zwischen 30 000 und 32 000, die Dunkelziffer mag um ein Vielfaches höher liegen. 

Wirklich aufmerksam wurde die Weltöffentlichkeit auf das massenhafte Verschwindenlassen in Mexiko erst durch Ayotzinapa: Am 26. September dieses Jahres jährte sich das Verschwindenlassen der 43 Lehramtsstudenten aus Ayotzinapa zum dritten Mal. Im Jahr 2014 wurden die Studenten von der lokalen Polizei in Iguala, Guerrero, verschleppt. Die Forderung „Lebendig hat man sie mitgenommen, lebendig wollen wir sie wieder“ (Vivos los llevaron, vivos los queremos) wurde zu einem eindringlichen, weltweit gehörten Ruf der Familienangehörigen und in kürzester Zeit Teil der kollektiven Erinnerung Mexikos. Die sterblichen Überreste von einem der Studenten konnten inzwischen identifiziert werden, mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die DNA eines zweiten Opfers. Das Schicksal der 41 weiteren Studenten liegt weiterhin im Dunklen. Obwohl Dutzende Verdächtige festgenommen und eine Kommission internationaler Expert*innen (GIEI, Interdisziplinäre Kommission unabhängiger Expert*innen) zur Aufklärung des Verbrechens nach Mexiko entsandt wurde, konnte das Verbrechen bis heute nicht aufgeklärt, kein einziger Täter verurteilt werden. Während die mexikanischen Behörden nachweislich falsche Fakten als „historische Wahrheit“ verkündeten, spricht der spanische Menschenrechtsaktivist und Psychologe Carlos Martín Beristain (vom Team der GIEI) von „bewusster Verschleierung und Blockierung der Ermittlungen“ durch die staatlichen Stellen. In Gesprächen und Interviews weist er immer wieder darauf hin, was dieses Verbrechen für die Angehörigen der Opfer bedeutet. Gewaltsames Verschwindenlassen wird aus rechtlicher Perspektive als ein dauerhaftes Verbrechen bezeichnet, das aus psychologischer Sicht eine nicht heilende Wunde bedeutet und somit eine Trauerarbeit der Opferfamilien so gut wie unmöglich macht. 

Die Erinnerung an die geliebten Menschen gegen die vermeintliche Wahrheit der Behörden zu verteidigen und den Widerstand gegen die immer wieder erlebte Straflosigkeit im Zusammenhang mit dem Verbrechen aufrecht zu erhalten, das haben sich die Familien und Angehörigen der Opfer, Menschenrechtsaktivist*innen wie Carlos Martín Beristain sowie Nichtregierungsorganisationen und zivilgesellschaftliche Bündnisse zur Aufgabe gemacht. Das Kollektiv Huellas de la Memoria um den mexikanischen Bildhauer und Künstler Alfredo López Casanova leistet einen wichtigen Beitrag im Rahmen dieser Erinnerungs- und Öffentlichkeitsarbeit. In seiner künstlerischen Arbeit, die Alfredo López Casanova nicht losgelöst von seiner aktivistischen Praxis sehen will, widmet er sich stets der Frage nach einem „inklusiven Gedenken“. Auf einer Kundgebung gegen das Verschwindenlassen in Mexiko-Stadt im Jahr 2013 bleibt sein Blick an den Schuhen der Mütter und Väter, die auf der Suche nach ihren Kindern sind, haften. Es sind Schuhe, die endlose Wege auf dieser Suche zurückgelegt haben. Abgenutzte Schuhe, die die Trauer und den Schmerz derer transportieren, die auf der Suche sind, aber gleichzeitig auch deren unermüdlichen Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit repräsentieren. 

Aus der Initiative Alfredo López Casanovas heraus wächst bald ein Kollektiv: Huellas de la Memoria – Spuren der Erinnerung. Seit 2013 hat die Gruppe über 100 Schuhpaare gesammelt, die stets mit einem Brief der Angehörigen eintreffen, Briefe wie der von Guadalupe, die von ihrem Schicksal, ihrer Wut und Trauer, aber auch ihrer Hoffnung und ihrem Willen weiterzusuchen erzählen. Grün, die Farbe der Hoffnung, ist daher auch die Farbe der Spuren, die die Gruppe Huellas de la Memoria aus den Botschaften, die mit den Schuhpaaren bei ihnen eintreffen, erstellt. In den einen Schuh schnitzen die Aktivist*innen im Linolschnittverfahren ein, wer mit diesen Schuhen gesucht wird, und in den anderen eine Botschaft an die vermisste Person, die oft von der Suche erzählt, den endlosen Wegen, der Sehnsucht nach dem geliebten Menschen und eben der Hoffnung, diesen wiederzufinden. Die Spuren werden anschließend auf Papier gedruckt und gemeinsam mit den Schuhen weltweit ausgestellt, um das Bewusstsein dafür zu wecken, dass es viel mehr Opfer gibt als die 30  000 oder 32  000, die der mexikanische Staat offiziell anerkennt, sowie für die Tatsache, dass die Angehörigen auch zu Opfern werden. 

Initiativen wie Huellas de la Memoria sind bedeutsam, um diesen Menschenrechtsverbrechen einen Namen zu geben – viele Namen; aber auch, um den Angehörigen ein Stück ihrer Würde wiederzugeben, da sie aufzeigen, wie wichtig der Kampf der Angehörigen gegen die Straflosigkeit ist und dass sie gehört werden.  

Die Besucher*innen der Ausstellung Huellas de la Memoria betrachten schließlich die grün gedruckten Spuren und lesen sich durch ein Archiv von Botschaften, die die Dimensionen des Verbrechens deutlich machen. Mütter, Väter, Kinder, Geschwister und Enkelkinder, Partner, die seit Jahrzehnten oder erst seit kurzem auf der Suche sind. In einigen Familien wurden mehrere Familienangehörige Opfer von Verschwindenlassen, in anderen wurden die Suchenden aufgrund ihrer Widerständigkeit und ihres Muts ermordet, so wie im Falle von Cornelia Guevara, die bei der Suche nach ihrem Sohn Oswaldo Espejel Guevara 2016 ermordet wurde. Ihr Fußabdruck trägt die Farbe Rot. Es finden sich auch schwarze Abdrücke wieder in der Sammlung, die dafür stehen, dass die Vermissten inzwischen tot aufgefunden wurden. Hier symbolisiert Schwarz die Trauer der Angehörigen. 

Bei einem Rundgang zu Erinnerungsorten in Berlin im Sommer dieses Jahres erzählt uns Alfredo López Casanova von dem einzigen offiziellen Monument im Gedenken an die Gewaltopfer in Mexiko. Ein Denkmal, errichtet durch Präsident Calderón (2012). Seine Lage neben einer militärischen Einrichtung sowie das dazugehörige Narrativ negieren die Zusammenhänge von gewaltsamen Verschwindenlassen und staatlichen Institutionen in Mexiko oder rechtfertigen sie gar zum Teil (siehe auch Beitrag von Christiane Schulz in ila 361). Die Opfer von Verschwindenlassen werden hier unter Entführungen subsumiert, was die Dokumentation und Aufarbeitung der Folgen des Verbrechens behindert. Das Denkmal ist also bloß ein weiteres Herrschaftszeichen, das die Betroffenen als Symbol für Staatsterrorismus und Straflosigkeit bezeichnen.  

Die künstlerische Vermittlung dieser Menschenrechtsverletzung, die sich Gruppen wie Huellas de la Memoria zum Auftrag gemacht haben, die somit einen Raum schaffen gegen das Vergessen und für ein inklusives Gedenken, ist daher von ungeheurer Bedeutung. Angesichts staatlicher Ignoranz und Unwahrheit sind es diese Begegnungsorte, die dem Kampf gegen gewaltsames Verschwindenlassen zu Öffentlichkeit und Anerkennung verhelfen können.

  • 1. Internationales Abkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen, in Kraft seit 2010

Annika Hirsekorn arbeitet als freie Kuratorin. Gemeinsam mit dem Kollektiv Huellas de la Memoria, dem Netzwerk www.gewaltsames-verschwindenlassen.de und amnesty international führte sie die Ausstellung „Huellas de la Memoria – gewaltsames Verschwindenlassen in Mexiko und weltweit“ in der Galerie neurotitan in Berlin durch.