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Warum hat sie ihren Partner so provoziert?

Feminizide – Frauenmorde in Bolivien

„Niemand kann das nachempfinden, was ich erleiden musste.“ Emiliana bricht in Tränen aus. „Man hat mir das Liebste genommen. Ich bitte Sie, ich flehe Sie an, als Mutter, als Frau, lassen Sie Gerechtigkeit walten!“ Alle im Saal sind ergriffen. Es sei nicht Rache, was sie suche. Sie wolle Gerechtigkeit, führt sie in ihrem Schlussplädoyer weiter aus. Gerechtigkeit für ihre Tochter María Lizbeth Carvajal Quispe, die vor anderthalb Jahren von ihrem damaligen Freund mit 25 Messerstichen umgebracht worden war. Ihr Kampf hat sich gelohnt, denn kurz danach fällen die Richter ihr Urteil: 30 Jahre Haft. Nicht nur eine Genugtuung für die Familie des Opfers. Auch für die bolivianische Frauenbewegung. Für die junge NiUnaMenos-Bewegung (NichtEineWeniger), die vor dem Gericht für Frauenrechte und gegen Straflosigkeit protestierte. Und vor allem für die Oficina Jurídica para la Mujer, deren Anwältin Jinky Irusta im Prozess die Opferseite vertreten hatte.

Denise Notter

Es ist keine Selbstverständlichkeit in Bolivien, dass ein Täter angezeigt, vor Gericht gestellt, verurteilt wird und dann tatsächlich ins Gefängnis wandert. Es war ein Riesenerfolg.

Allein in Cochabamba gab es im letzten Jahr 27 Frauenmorde. Das Departement rangiert damit kurz hinter La Paz mit 28 Fällen. In ganz Bolivien wurden 2016 laut der Statistik der Generalstaatsanwaltschaft Boliviens insgesamt 104 Frauen ermordet, also jeden dritten Tag ein Mord. Das sind 11 Fälle mehr als im Jahr 2015.

Damit bleibt Bolivien gemäß dem Informationszentrum der Vereinten Nationen in Bolivien (CINU) unter den Ländern mit den höchsten Frauenmordraten in ganz Lateinamerika. Überhaupt weist Lateinamerika laut BBC Mundo mit täglich mehr als 17 Feminiziden weltweit die höchsten Raten auf. Tendenz steigend. „Die Dunkelziffer dürfte indes weitaus höher liegen, werden doch immer wieder Frauenmorde als Suizid oder andere Gewaltverbrechen vertuscht oder gar nicht erst angezeigt“, schreiben Anna Schulte und Olga Burkert im Juni 2011 in den Lateinamerika-Nachrichten.

In Deutschland hingegen wurden laut polizeilicher Kriminalstatistik im Jahr 2015 331 Frauen Opfer von versuchtem oder vollendetem Mord oder Totschlag durch ihre Partner oder Ex-Partner. 131 der Opfer starben, 200 überlebten.1 Deutschland hat demnach nur wenig mehr Opfer zu beklagen wie Bolivien mit 93 Feminiziden im Jahr 2015, jedoch eine acht Mal größere weibliche Bevölkerung als das südamerikanische Land.

Doch in einem ist Bolivien weit fortschrittlicher als die Schweiz oder Deutschland: In der Einführung des Konzepts „Feminizid“ im Strafgesetzbuch. In Deutschland wurden erst 2011 entsprechende Voraussetzungen in der polizeilichen Kriminalstatistik geschaffen. Vorher gab es keine aussagekräftigen Statistiken zu intimen Femiziden. In beiden Ländern ist „Feminizid“ bis heute kein eigener Tatbestand. Die bolivianische Regierung hat dieses Defizit mit der Verabschiedung des neuen Gewaltschutzgesetzes Nr. 348 von 2013 behoben. Es trägt den fast poetischen Namen: Integrales Gesetz, das den Frauen ein Leben ohne Gewalt garantiert (Ley Integral para Garantizar a las Mujeres una Vida Libre de Violencia).

Doch was genau ist ein Feminizid? Der Begriff wurde 1974 erstmals von der US-amerikanischen Schriftstellerin Carol Orlock und kurz danach von Diana Russell benutzt. Seit 2004 trug er, so Anna Schulte und Olga Burkert, zunächst in Mexiko, dann in ganz Lateinamerika, als politischer Begriff dazu bei, ein Bewusstsein für die Problematik zu schaffen und den Protest auf die Straße zu tragen.

Feminizid bezeichnet die Ermordung einer Frau allein aufgrund ihres Geschlechts, also ihres „Frauseins“. Es stellt die extremste Form physischer Gewalt gegenüber Frauen dar. Täter sind meist aktuelle oder ehemalige Partner. Doch Täter können auch Väter, Söhne, Brüder, Onkel etc., aber auch Arbeitskollegen oder Chefs sein, wie das bolivianische Gewaltschutzgesetz in Art. 252 definiert. Oftmals werden Abhängigkeitsverhältnisse ausgenutzt. Der Täter muss nicht einmal bekannt sein, wie zum Beispiel in Fällen, in denen Frauen im öffentlichen Raum vergewaltigt werden, bevor sie umgebracht werden. Ein Frauenmord kann auch durch eine Jugendbande als eine Art Mutprobe begangen werden. Dies scheint auch in Bolivien immer häufiger der Fall zu sein.

So unterschiedlich wie die Täter sind auch die Motive. Nicht selten litt die Frau schon jahrelang unter der Gewalt ihres Partners und der Gewaltzyklus kulminiert „lediglich“ im Mord. Der stellt für den Mann die größte Kontrolle über die Frau dar. Oder die Frau will sich trennen oder will erst gar keine Beziehung beginnen, was der Mann nicht akzeptieren will. In den Zeitungen liest man auch schon mal Rechtfertigungen der Täter wie: „Meine Frau ist betrunken nach Hause gekommen“ oder „Meine Frau hat das Essen nicht rechtzeitig auf den Tisch gebracht.“

So banal es klingt: Hinter den vielfältigen Motiven steht doch immer die Diskriminierung, die Verachtung, ja der Hass auf Frauen nur aufgrund ihres Frauseins. Also letztlich der Machismo.

Die Anwendung von Gewalt ist eines der zentralsten und effektivsten Machtinstrumente der männlichen Herrschaft über Frauen. „Machistische Gewalt dient der Schaffung und Aufrechterhaltung der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und schüchtert Frauen derart ein, dass sie es nicht mehr wagen, die eng gesteckten gesellschaftlichen Grenzen zu überschreiten“, analysiert die mexikanische Anthropologin und Feministin Marcela Lagarde in der spanischen Zeitschrift Información. „Eine Frau wird getötet um alle anderen zu terrorisieren.“ Versucht eine Frau das von Machodenken und patriarchalen Strukturen geprägte Rollenverständnis zu durchbrechen und damit die Machtverteilung zwischen den Geschlechtern infrage zu stellen, begibt sie sich nicht selten in große Gefahr.

„Gewalt gegen Frauen geschieht immer aus einem Machtanspruch heraus. Die Frau muss erniedrigt und zerstört werden“, erklärt Julieta Montaño die Motivation der Täter. Der Täter sieht seine Tat als notwendige Disziplinierungsmaßnahme. Nicht als Straftat. Er sieht sich moralisch im Recht und versucht dabei Eifersucht und Verlustängste zu übertünchen, bestätigt auch die argentinische Anthropologin Rita Laura Segato in der Tageszeitung La Nación. Männer töten besonders häufig, wenn sie Angst haben die Kontrolle über ihre Partnerinnen zu verlieren, wie beispielsweise in Trennungssituationen. So die These von Segato. Bei sexueller Gewalt geht es nie um Sex. Es geht um Macht. Um den Erhalt der männlichen Dominanz, insbesondere, wenn sie in Gefahr ist. Dann muss die Frau „zurechtgewiesen“ werden.

Dies unterfüttert meine These, dass die hohe Feminizidrate auch mit dem rasanten gesellschaftlichen Wandel der letzten 15 Jahre in Zusammenhang steht, den Bolivien durchlebt hat.

Übrigens: Eine exzellente detaillierte Darstellung des Konzeptes und der Typen von Feminiziden, der Begriffsgeschichte, der statistischen Daten und soziologischen Erklärungsmuster und der Geschichte der internationalen Konventionen, aber vor allem der juristischen Analyse des bolivianischen Gewaltschutzgesetzes, auch im lateinamerikanischen Vergleich, ist in dem Buch El delito de femicidio/feminicidio (Das Verbrechen des Femizids/Feminizids, 2016) von Nelma Teresa Tito Araujo zu finden. Julieta Montaño hat die Arbeit wissenschaftlich betreut und das Vorwort dazu geschrieben.

Nach bolivianischem Strafrecht stehen auf Feminizid 30 Jahre Haftstrafe, und zwar ohne Möglichkeit einer Strafminderung. Das klingt abschreckend. Ist es aber nicht. Warum?

In Bolivien endeten zwischen 2013 bis 2016 nur 20 Prozent der eingeleiteten Verfahren mit einer Verurteilung des Angeklagten, erklärt Generalstaatsanwalt Ramiro Guerrero. In Lateinamerika bleiben laut UNWOMEN, der Frauenorganisation der Vereinten Nationen, etwa 98 Prozent der Feminizide unbestraft.

Es fängt schon bei der Erfassung an: Nicht jeder Mord an einer Frau wird von Polizist*innen oder vom Gesundheitspersonal als Feminizid erkannt. So zum Beispiel in einem Fall in Quillacollo, den die Oficina Jurídica para la Mujer betreute, bei dem eine Frau bewusstlos ins Krankenhaus eingeliefert wurde und dort verstarb. Ohne die genauen Todesursachen zu kennen und weitere Untersuchungen anzustellen, wurde der Version des Ehemannes gefolgt, der von einer Alkoholvergiftung sprach. Dabei wurden die Anzeichen physischer Gewalt (gebrochene Rippen) übersehen. Die Grenzen zur absichtlichen Vertuschung sind fließend.

Weitere Hindernisse sind der extreme Personalmangel bei der Polizei und im Justizapparat. Zurzeit sind im Departement Cochabamba knapp 100 Polizist*innen der Spezialeinheit gegen Gewalt (Fuerza Especial de Lucha Contra la Violencia – FELCV) für knapp zwei Millionen Einwohner*innen zuständig. Und ein*e Strafrichter*in müsste täglich 1125 Verfahren bearbeiten, ein Ding der Unmöglichkeit. Dies führt zu Überlastung und folglich zu unerträglichen Verzögerungen der Prozesse. Darüber hinaus verhindert der ständige Stellenwechsel des Personals eine Kontinuität der Betreuung der Fälle.

Noch bedenklicher ist, dass das meiste Personal weder in geeigneter Weise ausgebildet ist, noch die international anerkannten Standards der Sorgfaltspflicht gegenüber den Opfern befolgt. Auch Risikoabschätzungen oder Schutzmaßnahmen werden kaum vorgenommen. So wurde die 21-jährige Afrobolivianerin Ana Medina von der Polizei am Freitagabend mit der Begründung wieder nach Hause geschickt, sie könnten jetzt keine Anzeige aufnehmen, sie solle am Montag wiederkommen. Diesen Montag gab es für sie nicht mehr. Sie wurde noch in derselben Nacht von ihrem Peiniger qualvoll verbrannt, wie BBC Mundo berichtete.

Auch sind patriarchale Denkmuster noch weit verbreitet. Die Genderperspektive ist den Beamt*innen völlig unbekannt. So wird häufig schon durch Fragen wie „Was hatte denn die Frau dort zu suchen?“ oder „Warum hat sie ihren Partner so provoziert?“ die Schuld dem Opfer zugeschoben. Reviktimisierung der Opfer oder ihrer Angehörigen ist an der Tagesordnung.

Dazu kommt, dass kaum Geld da ist für geeignete Räumlichkeiten geschweige denn für ein adäquates Instrumentarium zur Beweisaufnahme oder in der Gerichtsmedizin. So gehen wichtige Beweise verloren oder werden auch mal verloren gegangen.

Diese und weitere Faktoren wurden in der Studie Feminicidio en Bolivia. Acceso a la Justicia y Desafíos del Estado Boliviano („Feminizid in Bolivien. Zugang zur Justiz und Herausforderungen für den bolivianischen Staat“) anhand konkreter Fälle akribisch herausgearbeitet. Die Oficina Jurídica para la Mujer arbeitete dabei maßgeblich an der Broschüre der Alianza por la Solidaridad mit.

In Bolivien kommt auch noch die Problematik der in ländlichen Gebieten erlaubten indigenen Justiz hinzu, die absichtlich oder aus Unwissenheit falsch verstanden werden kann. So im Fall eines sechsjährigen Mädchens, das Anfang des Jahres vergewaltigt und dann ermordet wurde. Statt einer regulären Anzeige bei der Polizei und einer Überführung des Falles an die staatliche Justiz, wie es das Gesetz vorgibt, wurde der Fall im Rahmen der Dorfjustiz selber gelöst. Die Mutter wurde laut Informationen der Radiokette ERBOL von den beiden Tätern mit 12 000 Bolivianos (ca. 1580 Euro) abgespeist, während die beiden indigenen Dorfvorsteher und Rechtsprecher jeweils 2000 Bolivianos (260 Euro) Schweigegeld erhielten.

All dies führt dazu, dass Polizei und Justiz an Glaubwürdigkeit verlieren und Opfer auf eine Anzeige verzichten. Die weit verbreitete Korruption auf allen Ebenen macht es auch nicht besser. Sogar Emiliana wurde von der Täterfamilie noch während des Prozesses Geld angeboten und auch gedroht, damit sie die Anklage zurückzieht. So wird eine Kultur der Straflosigkeit geschaffen.

Diese Impunität senkt die Hemmschwelle für Gewalttaten nachweislich ab. Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (CIDH) kommt in einem Bericht zum Schluss, dass die Straflosigkeit dazu führt, dass Gewalt als gesellschaftlich akzeptiert angesehen wird, was wiederum die Wiederholung von Gewalt befördert. Und es ist in Bolivien so einfach unterzutauchen, wie im Fall Franklin Tola Mamani, der von der Oficina Jurídica para la Mujer betreut wurde. Obwohl der Täter schon zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, konnte er aus Verfahrensgründen nicht sofort abgeführt werden und weg war er.

Flucht, Korruption, Ineffizienz und die Langsamkeit der Gerichtsprozesse führen die Rechtsprechung schließlich ad absurdum und der Staat macht sich zum Mittäter. Deshalb bezeichnet Marcela Lagarde auf der Website www.feminicidio.net den Feminizid als ein Verbrechen des Staates. Und auch Julieta Montaño moniert in dem im luxemburgischen Esch erscheinenden Tageblatt jüngst: „Es fehlt vor allem an politischem Willen des Plurinationalen Staates Bolivien, um Gewalt gegen Frauen effektiv zu bekämpfen.“

Und so läuft auch das beste Gesetz, wie das Gewaltschutzgesetz Nr. 348, ins Leere, da es nicht in der vorherrschenden Kultur verankert ist und das ganze System dagegen arbeitet. „Papier ist geduldig“, bringt es Julieta Montaño auf den Punkt.

Die Soziologin Denise Notter arbeitet für die Schweizer Organisation INTERTEAM im Rechtshilfebüro für Frauen „Oficina Jurídica para la Mujer“ (www.ojmbolivia.org) in Cochabamba.