ila

Das Land muss sich anderen Bevölkerungsgruppen öffnen

Gespräch mit dem deutsch-haitianischen Hochschullehrer und Philosophen Yves Dorestal über die Ignoranz der deutschen Politik gegenüber der Realität
Mauricio Isaza-Camacho

Yves Dorestal ist mal wieder in Hamburg. Nachdem er hier über viele Jahre seinen Wohnsitz hatte, fliegt er nun seit einiger Zeit zwischen Hamburg und Port-au-Prince, Haiti, wo er als Dozent an mehreren Universitäten arbeitet, hin und her. In Hamburg traf er sich im Mai mit Mauricio Isaza-Camacho, um mit ihm über die Rolle der Migrant*innen in der deutschen Gesellschaft zu sprechen. Es war nicht ihr erstes Treffen, wie Mauricio berichtet: „Als wir uns vor einigen Monaten trafen, empfahl er mir den Film ,Tödliche Hilfe‘ von Raoul Peck, der ebenfalls aus Haiti stammt. Irgendwann im Laufe unseres Gesprächs wird er mir erzählen, dass er nun gerne Pecks neuen Film ,Der junge Karl Marx‘ (vgl. ila 404) sehen würde. Wir treffen uns in der Universitäts- und Staatsbibliothek (Stabi) Carl von Ossietzky in Hamburg. Es wird Abend. Um diese Zeit wird die Stabi nur noch von studentischen Leseratten und anderen eingefleischten Bücherfreund*innen bevölkert, die Hobbyleser*innen sind schon gegangen. Wir setzen uns an einen der Tische, ohne Wasser, ohne Kaffee, ohne Ablenkung.“

Mauricio: Die Migrant*innen in Deutschland sind nicht sonderlich gut organisiert. Es gibt zwar einige Vereine, die sich der Pflege der jeweiligen Landeskultur verschrieben haben – traditionelles Essen, Tänze, „unsere Sprache“, die Nationalfeiertage – und die manchmal auch einen mehr oder weniger sozialarbeiterischen und unterstützenden Ansatz verfolgen: Wochenendaktivitäten mit Kinderprogramm für die Familien, Deutschkurse am Abend, Sozial- und Rechtsberatung oder hin und wieder auch Benefizveranstaltungen zugunsten der Opfer einer Naturkatastrophe im Herkunftsland. Es gibt auch Vereine, die sich politisch engagieren und entweder im Bereich der Entwicklungspolitik oder der internationalen Solidarität aktiv sind. Größtenteils machen sie dabei Öffentlichkeitsarbeit und berichten ihren Landsleuten und den deutschen Solifreund*innen von Problemen, für die im Zeichen von Humanität und Gerechtigkeit Lösungen gesucht werden sollten: Die Gefährdung der Ernährungssouveranität, das Recht auf Land seitens indigener Bevölkerungsgruppen, ungerechte Handelsverträge...

Allerdings fällt mir auf, dass die allermeisten Migrant*innen kaum irgendwo organisiert sind, ja sogar eher einen Bogen um die Vereine und ihre Mitglieder machen, und sich stattdessen zum Fußballgucken treffen oder um gemeinsam die Nacht durchzutanzen. Hast du auch den Eindruck, dass die meisten Migrant*innen, insbesondere aus Lateinamerika, sich nur ungern organisieren? Hat das deiner Meinung nach mit einer Abneigung gegen zusätzliche Arbeit zu tun oder liegt es an ihrer sozialen und psychologischen Lebenssituation in Deutschland?

Yves: Mir scheint, dass die Migrant*innen hier allgemein Problemen aus dem Weg gehen wollen. Die Gesetze in diesem Land haben bei dem Thema einen gewissen repressiven Charakter. Irgendwo steht sogar, dass Ausländer sich nicht in die inneren Angelegenheiten Deutschlands einmischen dürfen. Wer hier also einfach nur von den vorteilhaften Lebensbedingungen profitieren möchte, tut alles dafür, nicht in Konflikt mit dem Gesetz zu geraten. Es kennzeichnet die allgemeine Situation in Deutschland, dass die Migrant*innen aus ehemaligen europäischen Kolonien hier auf juristische Rahmenbedingungen stoßen, innerhalb derer sie nicht auf dieselbe Stufe wie Inländer*innen gestellt werden. Natürlich dürfen manche partizipieren – türkische Politiker*innen sind heute sogar Abgeordnete der CDU, der SPD, der Grünen, aber das ist etwas anderes. Bestimmte Parteien wie die Deutsche Kommunistische Partei und andere linksradikale Parteien waren in der Vergangenheit nicht gerne vom Staat gesehen und Ausländer*innen, die diesen Parteien beitraten, gingen ein Risiko ein. Also konzentrieren sich die meisten Migrant*innen in erster Linie darauf, die angenehmen Lebensbedingungen in Deutschland zu genießen.

Von meiner Warte aus gesehen müsste eine bestimmte Bedingung erfüllt werden, damit eine bessere Organisierung der Migrant*innen untereinander möglich wird. Es muss eine aktive Integrationspolitik geben und damit meine ich nicht nur die soziale, sondern auch und insbesondere die politische Integration. Diese Integrationspolitik sollte an erster Stelle daran ansetzen, jenen Migrant*innen, die schon seit mehreren Jahren hier leben, das Recht zuzugestehen, sich an den Kommunalwahlen zu beteiligen, wie es in einigen europäischen Ländern bereits der Fall ist. Diese Beteiligung am öffentlichen Geschehen würde dazu führen, dass die Migrant*innen aktives Interesse für die Belange ihres Wohnortes entwickeln. Und wenn wir in diese Richtung weiterdenken, können wir dem Beispiel einiger Philosophen folgen: Jürgen Habermas behauptet, dass die internationalen Organisationen noch nicht die richtigen Schlussfolgerungen aus dem heutigen Zustand der Welt gezogen haben, welcher sich als Planetarisierung beschreiben lässt. (Yves benutzt das Wort Planetarisierung anstelle von Globalisierung).Planetarisierung meint dabei nicht nur die Anerkennung der weltweiten wirtschaftlichen Wechselbeziehungen, sondern auch die politischen Konsequenzen. Hier in Deutschland lässt sich dabei feststellen, dass die politische Planetarisierung wenig Beachtung findet, wenn es um die Gestaltung der Rahmenbedingungen für Ausländer*innen geht.

In politischer Hinsicht wird weiterhin nationalstaatlich gedacht. Der Nationalstaat war die Entität, die die Unterscheidung zwischen In- und Ausländer*innen konstituierte, doch der Nationalstaat ist heute nicht mehr der einzige Raum, in dem sich die Bürger*innen aufhalten. Die Länder des kapitalistischen Zentrums sollten ihre Gesetze an die aktuellen Gegebenheiten der Welt anpassen. Erinnern wir uns: Staatsbürger*innen aus Frankreich, Italien, England etc. wurden in Lateinamerika, Afrika und Asien zu Bürger*innen des Landes, in dem sie sich aufhielten. Diese Länder, die die Kolonialisierung durchgemacht hatten, nahmen Ausländer*innen als Bürger*innen ihres Landes auf. Der Vater von Fidel Castro war ein Spanier aus Galizien und Fidel wurde in Lateinamerika zu einer prominenten Persönlichkeit. Doch die Länder des kapitalistischen Zentrums lassen noch heute keine Gleichberechtigung zu, auch nicht für jemanden, der*die jahrzehntelang hier gewohnt hat. Ein Phänomen wie Obama ist zum Beispiel in Frankreich heute noch undenkbar, obwohl die Migrationsgeschichte der schwarzen Menschen in Frankreich eigentlich älter ist. Daher sagen Theoretiker wie Habermas, dass wir eine gezielte Weiterentwicklung der politischen Demokratie brauchen, um eine*n Bürger*in zuzulassen, der*die im Besitz aller sozialen, politischen und wirtschaftlichen Rechte ist.

Mauricio: Viele der Migrant*innen hier scheinen sich dessen nicht bewusst zu sein. Sie bringen das Fehlen ihrer politischer Rechte nicht in Zusammenhang mit ihrer eigenen Apathie; die meisten Migrant*innen sehen dabei zu, wie andere sich im Verein organisieren und Aktionen planen und entscheiden sich dann doch, wie in ihren Herkunftsländern, für ein Leben im Privaten...

Yves: In Deutschland haben wir eine Besonderheit zu beachten: Es hat seine Kolonien bereits vor dem ersten Weltkrieg verloren. Außerdem hatten die deutschen Kolonialherren ihre Kolonien auf die damals übliche Weise verwaltet, also ohne eine gleichberechtigte Beziehung zu der kolonialisierten Bevölkerung aufzubauen. Die Xenophobie und das Fehlen einer aktiven Integrationspolitik haben Spuren im heutigen Deutschland hinterlassen. Wenn wir vergleichen, wie viel Raum Ausländer*innen in England, Spanien oder Frankreich zugestanden wird, ist er hier in Deutschland eindeutig begrenzt. Die Organisationen und Vereine, die sich in Deutschland die Aufgabe gestellt haben, Räume für Ausländer*innen zu schaffen, gehörten der Kirche an. Ihre Arbeit hatte einen humanistischen Ansatz und ging auf das Konzept der Nächstenliebe zurück. Niemand hat sich jedoch darum bemüht, den Migrant*innen auch politischen Handlungsspielraum zu ermöglichen. Die Einbürgerung war in Deutschland erheblich schwieriger als in anderen europäischen Ländern mit traditionell liberalem Charakter. In Deutschland wurde in der Schule eine rassistische Ideologie gelehrt und von den Massenmedien verbreitet. Keine Grundlage für einen gleichberechtigten Umgang mit Nichtdeutschen, im Unterschied zu einem Land, in dem die Charta der universellen Menschenrechte formuliert wurde. Das ist die Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart.

Die Deutsche Kommunistische Partei öffnete ihre Türen für Ausländer*innen, aber selbst dort betraten sie einen „deutschen Raum“. Für das Gefühl von Gleichberechtigung musste er oder sie daran glauben, aus der nichtdeutschen Position heraus etwas zum „deutschen Raum“ beitragen zu können, und nur wenige gelangten zu der Überzeugung, dass es sich nicht um ein einseitiges Verhältnis handele. Sie traten linken Parteien bei und wurden assimiliert. Sie hatten die deutsche Kultur anzunehmen und sich wie Deutsche zu verhalten. So etwas kann man auch in anderen Ländern des kapitalistischen Zentrums beobachten, aber hier ist es stärker ausgeprägt, weil es traditionell keine Integration von kulturellen Aspekten aus anderen Ländern gibt.

Mauricio: Es herrscht auch ein Mangel an Räumlichkeiten für migrantische Aktivist*innen. Hier in Hamburg ist es üblich, dass sich Migrant*innen mit ihrem Finanzierungsantrag in der Hand im Warteraum von deutschen Organisationen begegnen (die allerwenigsten Anträge werden bewilligt und normalerweise bleiben die Organisationen am Jahresende auf ihrem Geld sitzen) oder auf Seminaren von Organisationen wie Engagement Global, auf denen sie beigebracht bekommen, wie man einen Projektantrag richtig aufsetzt (!). Es existiert das stillschweigende Gebot, die Etablierung von migrantischen Treffpunkten und Versammlungsräumen für migrantische Aktivist*innen zu unterbinden. Früher gab es in Hamburg einmal die Ausländer Initiative e.V., einen Verein, der von türkischen Leuten gegründet worden war und einigen Gruppen ein paar Jahre lang als Veranstaltungsraum diente. Leider löste sich die Initiative dann auf, ohne sich vorher mit diesen Gruppen abzusprechen.

Yves: Hier in Hamburg gab es in der Werkstatt 3 eine ganze Zeit lang Räumlichkeiten für migrantische Gruppen. Auch die evangelische Kirche hatte jahrelang ein Haus, in dem sich Ausländer*innen und Deutsche treffen konnten. Mit Blick auf die Zukunft und die Planetarisierung ist das jedoch nicht ausreichend. Die Deutschen von morgen werden nicht nur Weiße sein, sondern auch Deutsche afrikanischer, asiatischer, lateinamerikanischer Abstammung... Die politischen Instanzen in Deutschland scheinen sich die Rahmenbedingungen der heutigen Welt noch nicht richtig bewusst gemacht zu haben. Die deutsche Sprache wird nicht mehr Eigentum der Deutschen sein, die Sprache wird ein Werkzeug für alle sein und ist es ja bereits heute für die hier aufgewachsenen Kinder kamerunischer oder peruanischer Eltern. Ein qualitativer Sprung in dieser Sache ist notwendig. Das Land muss sich anderen Bevölkerungsgruppen öffnen. Europa hat Angst davor, dass die Einwandernden ihre Kultur untergraben könnten, doch das Andere ist keine Bedrohung, sondern eine Bereicherung. Ein Beamter in der Ausländerbehörde mag über einen guten Willen verfügen, aber leider nicht über die Ausbildung, um das Weltgeschehen zu verstehen oder zu lesen, wie Philosophen und Soziologen darüber so denken. Der abgeriegelte Nationalstaat hat keine Zukunft mehr, aber die Beamt*innen sind nicht in der Lage, Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.

Mauricio: Du wirst demnächst ein Buch veröffentlichen...

Yves: Es ist ein Buch über Antirassismus. Der französische Schriftsteller Arthur de Gobineau hat 1855 den „Essay über die Ungleichheit der Menschenrassen“ veröffentlicht – ein wichtiges Buch für die rassistische Bewegung. In „Mein Kampf“ ist nicht zu übersehen, dass Hitler Gobineau gelesen haben muss; zu Hitlers Lebenszeit wurden vier Ausgaben des Essays herausgebracht. Rassistische Autoren, wie zum Beispiel Chamberlain, waren ihm vertraut.

Auch Richard Wagner, der Komponist, war ein Jünger von Gobineau; die Gobineau-Gesellschaft war für die deutsche Übersetzung des Essays verantwortlich. Der Rassismus in dem Essay prägte den Umgang der deutschen Kolonialherren mit der kolonialisierten Bevölkerung.

Ein Haitianer namens Anténor Firmin hat dann 1885 den „Essay über die Gleichheit der Menschenrassen“ geschrieben. 2003 ist die Übersetzung ins Englische erschienen, 2005 in Cuba die Übertragung ins Spanische. Langsam gewinnt das Buch auch außerhalb Haitis an Bekanntheit. Und über diesen Essay von Firmin schreibe ich in meinem Buch.

Heutzutage gibt es zwei Standpunkte, auf der einen Seite den des Rassismus, der die Antworten der Vergangenheit zu Antworten für die Zukunft machen will: Grenzen schließen, Vermischung verhindern, die „Reinheit der Rassen“ wahren, ebenso wie die „Reinheit des Denkens“. Auf der anderen Seite steht die Antwort der Zukunft, die wir bei Firmin finden, bei José Martí, Bolívar oder auch bei Ché: Das Mestizentum in allen Aspekten und auf allen Ebenen, ethnisch, politisch... Das ist es, was Fidel und Ché wollten, keine Wiederholung europäischer Ansätze, sondern stattdessen die Zukunft versuchen, indem Veränderungen der „Reinheit“ nicht länger als etwas Gefährliches erachtet werden.

 

Eine zweisprachige Fassung des Interviews findet sich auf der website der Internetzeitschrift Ojalá: http://ojal.de/kultur/el-pais-tiene-que-abrirse-a-otros-grupos-de-poblac...

Das Gespräch führte Mauricio Isaza-Camacho im Mai 2017 in Hamburg. Die deutsche Version hat Felicitas Moser redigiert.