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Gewaltjahre, getarnte Faschisten und Menschenmonster

Drei spannende Bücher aus Peru
Klaus Jetz

Einige peruanische Romane, die in den letzten Jahren erschienen sind, zeugen von der literarischen Vielfalt und dem lebhaften Buchmarkt in dem Andenland. Immer steht die Geschichte im Mittelpunkt, doch die Werke sind weitaus mehr als nur historische Romane. Über die Jahre des Terrors, die Zeit der Barbarei in den 80er- und 90er-Jahren, als sich die Guerilla Sendero Luminoso und das Militär einen brutalen Krieg lieferten, als die Campesinos vieler Andendörfer zwischen die Fronten gerieten und Opfer einer unvorstellbaren Barbarei wurden, die rund 70 000 Tote kosten sollte, über diese „Zeit der Angst“ sind in den letzten Jahren einige Romane erschienen, die noch immer im Buchhandel erhältlich sind, etwa Lituma en los Andes (1993) von Mario Vargas Llosa (*1936), Lost City Radio (2007) von Daniel Alarcón (*Lima 1977) oder Abril rojo (2006), ein spannender, mit dem Premio Alfaguara ausgezeichneter Thriller von Santiago Roncagliolo (* Lima 1975) über eine Serie brutaler Morde in Ayacucho nach Ende des Bürgerkrieges.

Im Jahr 2014 erhielt Claudia Salazar Jiménez (*Lima 1976) für ihren ersten Roman La sangre de la aurora den Premio de las Américas für lateinamerikanische Prosa. Dieser Roman erzählt von drei Frauen, deren Wege sich zufällig kreuzen und die Opfer sexueller Gewalt werden. Melanie, Fotojournalistin aus Lima, stellt ihre Fotos in Galerien aus, pendelt zwischen Paris und Lima und hat Kontakte zur politischen Klasse. Sie will in den Bergen bei Ayacucho über den Krieg berichten und die Zensur umgehen und sieht, riecht und fotografiert dort brennende Leichenberge, wird von Senderistas entführt und vergewaltigt. Marcela, Universitätsprofessorin, die sich dem Sendero anschließt, wird am Ende des Krieges vom Militär festgenommen, in ein Gefängnis verschleppt und beim Verhör immer wieder sexuell missbraucht. Und schließlich Modesta, indigene Kleinbäuerin aus der Sierra, die von fünf Soldaten vergewaltigt wird. Ihren kleinen Sohn Abelito, der die Misshandlungen mitansehen muss, töten die Soldaten. „Diesmal hast du keine Zeit, den Kleinen aus dem Haus zu schaffen. Dein Sohn in diesem Zimmer, Modesta. Abelito versteckt sich unter dem Bett, flink wie ein Meerschweinchen. Dein Flehen kümmert die Soldaten einen Dreck.“

Der Autorin geht es nicht um detailgetreue historische Darstellungen, genaue Ortsangaben oder die Charakterisierung historischer Persönlichkeiten. Vielmehr schildert sie die Atmosphäre jener Jahre der Gewalt, die im kollektiven Gedächtnis der PeruanerInnen fest verankert sein muss. Sie fragt nach den Ursachen einer kaum vorstellbaren Zerstörungswut. Mit Bildern wie den in Lima an Laternen aufgehängten Hunden und der Wiedergabe von Phrasen („Die Revolution braucht mich“, „Wenn wir 30 töten, ist sicher ein Subversiver dabei“) gelingt es ihr, bei den LeserInnen unerträgliche Erinnerungen an jene Zeit zu wecken. Wir, die diesen Horror nur aus der Ferne verfolgten, erahnen, wie lange es noch brauchen wird, bis die Gesellschaft die Ereignisse auch nur halbwegs verarbeitet hat.

Von José Carlos Yrigoyen (*Lima 1976) stammt der nicht fiktive Roman Orgullosamente solos über seinen Großvater Carlos Miró-Quesada Laos. Der Schriftsteller, Journalist und Diplomat Miró-Quesada (1900-1969) war als überzeugter Faschist und Anhänger Mussolinis und Hitlers einer der umstrittensten Politiker der peruanischen Rechten in den Jahrzehnten vor und nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die Biografie in Romanform schildert, wie die wahre Identität des Großvaters in der Familie des Autors tabuisiert und verdrängt wurde, wie der Autor als junger Student in Vorlesungen über peruanische Soziologie, in Gesprächen mit seiner Mutter und der 95-jährigen Großmutter Beatriz Eguren nach und nach von der unrühmlichen Vergangenheit des Großvaters erfährt. Der war alles andere als ein honoriger Staatsdiener, geachteter Autor und integrer Intellektueller. Er stand auf der Gehaltsliste Mussolinis und machte in den 30er-Jahren Propaganda für das faschistische Italien, schrieb Kolumnen über die Eroberung Abessiniens, ließ sich 1938 nach Nürnberg zum NSDAP-Parteitag einladen, wo er Hitler und vielen Nazigrößen begegnete. Er traf Franco, Salazar und in Brüssel den belgischen Faschisten Léon Degrelle, die er als Europakorrespondent des Comercio in unzähligen Artikeln porträtierte. Voller Bewunderung schilderte er das Wirken der Faschisten auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Über seine Erlebnisse in Nazideutschland schrieb er 1940 ausführlich in seinem apologetischen Buch Lo que he visto en Europa. Die Nacherzählung dieser großväterlichen Berichte und ihr Wirken auf den Enkel gehören zu den interessantesten Passagen von Yrigoyens Buch.

Miró-Quesada führte auch einen lebenslangen Kampf gegen seinen Intimfeind Víctor Haya de la Torre (1895-1979), den Gründer der antiimperialistischen und „indioamerikanischen“ Partei Alianza Popular Revolucionaria Americana (APRA). Er hasste Haya de la Torre und dessen Anhänger bis aufs Blut, weil er sie hinter dem Attentat auf seine Eltern vermutete, die 1935 von einem fanatischen Aprista ermordet wurden. Sein Vater war Besitzer der konservativen Tageszeitung El Comercio, die immer wieder gegen Haya de la Torre und dessen Partei anschrieb.

Miró-Quesada führte ein Doppelleben. Neben seiner Ehefrau hatte er eine außereheliche Liebesbeziehung mit Beatriz Eguren. Die verteidigt gegenüber ihrem Enkel die große Liebe ihres Lebens, spricht von Verleumdungen, Übertreibungen und auch von verzeihlichen Jugendsünden des Großvaters. In den 30er-Jahren sei es in Lima normal gewesen, das damalige Italien zu bewundern, es habe eine große italienischstämmige, mussolinitreue Gemeinschaft gegeben, die Gräuel der Nazis seien noch nicht bekannt gewesen. Yrigoyen hält ihr die zahlreichen Zeugnisse der großväterlichen Faschismusapologie entgegen, die er in der Nationalbibliothek studiert, die wohlwollenden und verständnisvollen Abhandlungen über „Mein Kampf“, Hitlers Antisemitismus und Antikommunismus.

Auf seinen diplomatischen Posten in Europa oder Lateinamerika unterhielt der Großvater immer zwei Familien und zwei parallele Haushalte, so auch in Brüssel, wo er bis zu seinem Tod 1969 als Botschafter der linksnationalistischen Militärregierung unter General Velasco Alvarado wirkte. Er starb im Krankenhaus, zwei Wochen nachdem er von einem Auto angefahren worden war.

Yrigoyens Buch ist mehr als ein Tatsachenroman oder die Geschichte einer Familie. Das Buch liest sich auch wie eine Geschichte Perus und der Rolle seiner führenden Politiker in den 20er- bis 60er-Jahren. Es schildert die politischen Bewegungen und die Einflüsse des europäischen Faschismus in Peru, ist keine Fiktion, obwohl es sich über weite Strecken liest, als sei alles der Phantasie des Autors entsprungen.

Um phantastische Literatur handelt es sich bei dem neu aufgelegten Roman El hijo del doctor Wolffan. Un hombre artificial des in Vergessenheit geratenen peruanischen Autors Manuel A. Bedoya (1888-1941). Er musste Peru 1908 verlassen, weil er in seinem Roman El hermano mayor die korrupte und raffgierige Bourgeoisie Limas angegriffen und so für einen handfesten Skandal gesorgt hatte. Er ging nach Spanien, wo er Krimis schrieb und die Figur des Detektivs Mack Bull schuf, der in den entlegensten Weltgegenden Kriminalfälle auflöst. In den 30er-Jahren schrieb er politisch engagierte Literatur, etwa den Roman El general Bebevidas, monstruo de América (1939), in dem er den peruanischen Diktator Oscar Benavides als fetten, skrupellosen, blutrünstigen Tyrannen darstellt.

El hijo del Doctor Wolffan erschien 1917 im Madrider Verlag Renacimiento und war ein Verkaufsschlager in Spanien. Er steht in der Tradition von Mary Shelleys „Frankenstein“ oder Gustav Meyrinks „Golem“. Die peruanische Neuauflage von 2015 war eine kleine „literaturarchäologische“ Sensation. Sie will die peruanischen LeserInnen mit einem Werk bekannt machen, das das spanische Publikum zu Beginn des 20. Jahrhunderts begeisterte. Der Roman fand als phantastisches Werk keinen Eingang in die peruanische Literaturgeschichte, weil realistische und indigenistische Strömungen vorherrschten, weil phantastische Literatur als Weltflucht und nicht als peruanische Gattung angesehen wurde.

Die Handlung spielt im Ersten Weltkrieg, Ende 1915 im galizischen Przemysl, das von den russischen Besatzern zerstört wurde. Weitere Orte sind das peruanische Amazonasgebiet, Wien, Bukarest und Korfu. Zudem treten Personen der Zeitgeschichte wie Kaiser Franz-Josef auf, das Setting ist in sich stimmig. Dennoch handelt es sich um Science fiction oder imaginäre Geschichte. Wolffan gelingt es mit Hilfe des befreundeten griechischen Wissenschaftlers Efialtes Zambris, einen künstlichen Menschen zu erschaffen. Zambris hat aus dem peruanischen Urwald nicht nur viel Gold, sondern auch Koholkach, die „Essenz des Lebens“, mitgebracht und staunend dessen heilende Wirkung an sich beobachtet: „Mehrmals hatte er sorgfältige Experimente durchgeführt und sich sogar einen Finger amputiert, der auch nachwuchs, nachdem er den göttlichen Schleim der charapa auf die Wunde aufgetragen hatte, eine Schildkrötenart, die Hunderte von Jahren alt wird und deshalb in ihren Eingeweiden oder auf der Oberfläche ihres undurchlässigen Panzers zweifelsohne einige Tropfen Ewigkeit aufbewahrt.“

Wolffan bittet Kaiser Franz-Josef um Unterstützung für seine Forschungen und rennt offene Türen ein. Denn der Monarch erhofft sich Menschenmaterial für den andauernden verlustreichen Krieg. Doch es kommt anders. Das Experiment läuft aus dem Ruder, und das mit Koholkach bestrichene Skelett aus dem Anatomiesaal der Universität in Przemysl verwandelt sich in ein unkontrollierbares Monster, das zu einem ganz anderen Massenmörder wird als ursprünglich geplant. Adam Koholkach, so tauft Wolffan seinen Homunkulus, mordet Neugeborene und Kleinkinder und verschwindet nach dem Tod seines Schöpfers: „Er würde die Welt durchstreifen und sein Leben leben…, vielleicht noch mehr Schaden anrichten als der katastrophale Krieg in Europa und alles niederreißen, was diese verrottete und neurotische Menschheit erschaffen würde.“

Zwar weist das Buch auch Elemente des Kriminalromans auf. So wird der kaiserliche Bote kurz nach seiner Ankunft bei Wolffan ermordet. Doch es geht nicht um Aufklärung des Falles, vielmehr um das phantastische Experiment des Protagonisten. Der Roman ist auch eine zeitgenössische Kritik an der Zerstörungswut der Kriegsmächte und der blinden Forschungswut von Wissenschaftlern. Mit seiner pessimistischen Weltsicht ist er das Gegenteil eines utopischen Romans, Vorläufer, wenn man so will, von Orwells „1984“ oder Huxleys „Schöne neue Welt“.