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Wuchtiges Anti-Biopic

Der Film „Neruda“ von Pablo Larraín
Britt Weyde

Der Mann war ein Gigant, künstlerisch wie politisch: Neftalí Ricardo Reyes Basoalto, alias Pablo Neruda, 1904 als Sohn eines Eisenbahnarbeiters und einer Lehrerin geboren. Der Junge aus bescheidenen Verhältnissen sollte zu einem der wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts werden, bekleidete das Amt des Botschafters und Senators, bekam den Ehrendoktor von Oxford und 1971, zwei Jahre vor seinem Tod, den Literaturnobelpreis. In seiner Autobiografie „Confieso que he vivido“ erklärt Neruda, dass ihm eines mehr bedeutet habe als alle Preise: dass er Dichter für die Bevölkerung Chiles war: „Poeta de mi pueblo“. Vor diesem verbeugt sich nun der 40jährige chilenische Filmemacher Pablo Larraín, seines Zeichens prämierter und gefeierter Regisseur (unter anderem „NO“, 2012 und „El Club“, 2015, siehe ila Nr. 390). Larraín unternimmt keine linear erzählte Filmbiografie. Er zeigt Neruda als Mensch mit Widersprüchen, zelebriert seine schillernde Persönlichkeit, indem er eine Kriminalstory nach Nerudas Geschmack erfindet, in der wahre Begebenheiten und Fiktion verschmelzen.   

Der historische Ausgangspunkt: Im Jahr 1948 hält Neruda im Parlament eine flammende Rede gegen Präsident Gabriel González Videla, den Neruda im Wahlkampf noch unterstützt hatte: Der Dichter bezichtigt ihn des Verrats, da er sich auf die Seite der Eliten geschlagen hat, streikende ArbeiterInnen verfolgt, Straflager in der Wüste einrichtet. Und der Präsident verbietet die Kommunistische Partei, deren Mitglied Neruda seit 1945 ist. Auf einer seiner Partys erreicht den Poeten die schlechte Nachricht. „Wir müssen in den Untergrund gehen.“ – „Ich auch? Nein!“ Aber der Dichter tut es doch. Als freier Mann kann er dem Regime mehr schaden. Eineinhalb Jahre lang tauchte Neruda unter. Schließlich gelang ihm die Flucht zu Pferd über die verschneiten Anden im Süden Chiles nach Argentinien. In der 500seitigen Ausgabe von Nerudas Autobiografie nimmt dieser Lebensabschnitt gerade mal 18 Seiten ein, doch in diesen Jahren, 1948/49, entstand ein Großteil von Nerudas wichtigstem Werk, dem „Canto General“. Der „Große Gesang“ ist eine Abrechnung mit dem Kolonialismus in Lateinamerika und umfasst 231 Gedichte. 

In Lateinamerika wächst man mit Neruda auf. „Von ihm haben wir die Worte gelernt, um Liebesbriefe zu schreiben. Später kamen die Gedichte des Zorns, sie haben den Nöten der Leute eine Stimme gegeben“, erklärt Gael García Bernal, der im Film Nerudas Gegenspieler gibt, den ehrgeizigen Kommissar Óscar Peluchonneau, der mit der Verhaftung des Dichters beauftragt ist.  Mit ihm betritt das fiktive Element die Bühne (obgleich dieser schwer zu erfindende Name im Canto General vorkommt!). Der ehrgeizige Büttel ist Nerudas Jäger. Obwohl ihm der Poet stets entwischt, erliegt er zunehmend dessen Faszination. Neruda hinterlässt seinem Verfolger literarische Botschaften: „Sube a nacer conmigo, hermano policía - Erhebe dich mit mir zum neuen Leben, Bruder Polizist“. Und der möchte so gerne einmal die Hauptrolle spielen und den dicken Fang machen. Doch er bleibt zur Nebenrolle verdammt. Denn der Star ist ein anderer.

Der Mann hatte Flow. Auf einer Verkleidungsparty rezitiert Neruda sein „Poema No. 20“, eine Hommage an eine verflossene Liebe: „So kurz ist die Liebe und so lang das Vergessen“, mit der Stimme des Dichters, mit erhöhter Stimmlage. Der Mann, beleibt und kahlköpfig, hatte auch Glamour. „Alle wollten ihn küssen und dachten, er hätte beim Liebemachen eine Rose zwischen den Lippen“. Der Mann war der König der Liebe. Seine Königin in jenen Jahren war „Hormiguita“, die kleine Ameise, die Malerin Delia del Carril. Eine Frau von formidablem intellektuellem und künstlerischem Format, großzügig, elegant und schlagfertig. Sie hatte Neruda in Spanien zum Kommunisten gemacht: „Ich musste diesen Jungen erziehen“, den mutterlosen proletarischen Spross, dem sie zehn Lebensjahre voraus hatte. In einem Disput bei einem Abschied wirft sie Neruda an den Kopf: „Ich bin hier die Künstlerin“. Und der Dichter widerspricht. Der Mann liebte die gute Küche, Wein, Whiskey und die Frauen. Und das Rotlichtmilieu. Hätte er anders gelebt, hätte Neruda nicht so über das Leben schreiben können. Der Mann hatte Respekt für die Menschen. Ein Transvestit wirft Peluchonneau bei einem Verhör vor: „Neruda spricht mit mir von Künstler zu Künstler, von Mann zu Mann, mit Respekt. Aber davon verstehst du nichts, du räudiger Hund“, sagt er zu dem Bullen, der selbst im Prostituiertenmilieu aufgewachsen ist. Und auf einer Party der Kommunistischen Partei hat eine verhärmte, angetrunkene Frau eine Frage an Don Pablo: „Werden wir im Kommunismus alle gleich sein wie du, oder gleich sein wie ich, die ich von klein auf der Bourgeoisie die Scheiße weggemacht habe?“ Der Dichter stockt, dann, ganz selbstverständlich: „Wie ich. Wir werden alle im Bett essen und in der Küche Sex haben.“

Einem europäischen Publikum mag bei dem Film die historische Rahmung fehlen, etwa Nerudas Jahre in der Spanischen Republik, wo er sich politisierte, nachdem sein Freund, der Dichter Federico García Lorca, von den Franco-Milizen umgebracht worden war, oder seine Unterstützung der Unidad Popular von Salvador Allende Anfang der 70er-Jahre. Aber eine politische Abhandlung ist gar nicht Larraíns Absicht. Er hat ein burleskes, opulentes, höchst unterhaltsames Werk geschaffen, eine melancholische Ode an den Hedonismus, der den Dichter neben seinem politischen Engagement eben auch ausmachte. Zur Opulenz passt des Regisseurs Faible für klassische Musik: Vor imposanter Naturkulisse oder in dramatischen Fluchtmomenten erklingt etwa die Peer-Gynt-Suite von Edvard Grieg. Der Film ist so vielschichtig, wie es die Person Neruda war, so dass man ihn sich mit Gewinn ein zweites Mal angucken kann. Und das Werk Nerudas lohnt sich allemal (wieder)entdeckt zu werden.