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Der ewige Traum von der Revolution

Abschied von dem argentinischen Schriftsteller Andrés Rivera (1928-2016)
Erich Hackl

In der Nacht auf den 23. Dezember letzten Jahres, kurz nach seinem 88. Geburtstag, ist in Córdoba der Schriftsteller Andrés Rivera gestorben, der eigentlich Marcos Ribak hieß und als einziges Kind jüdischer Einwanderer aus Osteuropa – der Vater stammte aus Polen, die Mutter aus der Ukraine – in Buenos Aires aufgewachsen war. Seine früheste Erinnerung reicht in eine Zeit zurück, in der das jüdische Bevölkerungssegment Argentiniens tief gespalten war, auch wenn es sich in der sozialen Zusammensetzung nicht von den beiden größten Immigrantengruppen, Italienern und Spaniern, unterschied. Als er drei oder vier Jahre alt war, trug sein Vater einem frommen und in seiner Frömmigkeit unnachgiebigen Nachbarn ein paar Ohrfeigen an, weil dieser den kleinen Marcos unbedingt beschneiden lassen wollte. Damals, so Rivera, waren die meisten argentinischen Juden klassenbewußte Arbeiter, die in ihren Herkunftsländern nicht nur Armut und Antisemitismus, sondern auch den Glauben ihrer Vorfahren zurückgelassen hatten und wie seine Eltern der Ansicht waren, dass man das Salz der Erde überall finden könne, außer in einer Kirche oder Synagoge. „Heute, so wird mir erzählt, sind es die Enkelkinder der Einwanderer von damals, die in die Synagoge rennen, die religiösen Gebote einhalten und ihre Söhne beschneiden lassen. Diese ideologische Regression der jüdischen Gemeinschaft ist eine Folge des Verlusts an politischer Gewissheit: Der Kommunismus ist, nicht nur für sie, unvorstellbar geworden. So bleibt ihnen nur Israel, als das verheißene Land der Vorfahren.“

Fast alle Romane und Erzählungen, die Andrés Rivera seit Mitte der fünfziger Jahre – aber mit einer langen Unterbrechung zwischen 1972 und 1982, die vor allem dem Terror der Militärjunta geschuldet war – veröffentlicht hat, sind von persönlichem Starrsinn, politischer Gewalt, gewerkschaftlichem Kampf und revolutionärer Sehnsucht durchdrungen. Dieses Spannungsverhältnis hatte er von klein auf mitbekommen, es prägte auch seine Schulzeit, die Jahre, in denen er als Seidenweber, später als eine Art Buchhalter, schließlich als Redakteur der kommunistischen Parteizeitung – zuerst, in der Illegalität, hieß sie Nuestra Palabra, dann La Hora – tätig war. Einer seiner Kollegen bei La Hora war der Dichter Juan Gelman, mit dem ihn nicht nur die osteuropäisch-jüdische Herkunft, sondern auch das Bedürfnis verband, den eigenen Erfahrungen, und denen der Vorfahren, literarische Gestalt zu geben. Aufgrund der wechselvollen Geschichte Argentiniens, in der Kommunisten immer wieder verfolgt und ihre Organisationen verboten wurden, stand für ihn außer Frage, dass er seine journalistischen und literarischen Arbeiten unter einem Pseudonym veröffentlichen musste: Andrés, nach der Straße Andrés Lamas, in der er damals wohnte, und Rivera nach dem Kolumbianer José Eustasio Rivera, dem Verfasser des naturalistischen Romans La Vorágine („Der Strudel“), der ihn tief beeindruckt hatte. 

Seine wirklichen Vorbilder wurden freilich Autoren, die den Parteifunktionären wegen ihrer politischen Haltung verwerflich erschienen, nämlich William Faulkner und Jorge Luis Borges. An Borges schätzte er den sparsamen, deutungsfreien Gebrauch von Adjektiven, an Faulkner die Fähigkeit, die Dramatik einer Geschichte nicht zu behaupten, sondern durch präzise Beschreibung von Gesten und Verrichtungen zu erfassen. Konsequenter noch als zwei ihm wesensverwandte Landsleute, Rodolfo Walsh und Antonio Dal Masetto, vermied er Phrasen, Metaphern und Hypotaxen, benützte Personalpronomina nur selten und verstärkte durch den repetitiven Gebrauch von Eigennamen und Schlüsselsätzen bei den Lesern das Gefühl der Unmittelbarkeit, Ausweglosigkeit und existentiellen Wucht des jeweils geschilderten Konflikts. Je älter er wurde, desto kürzer waren seine Romane; die meisten von ihnen umfassen, in der Druckfassung, nicht mehr als achtzig, neunzig großzügig umbrochene Seiten. Ich hielt und halte es immer noch für einen Skandal, dass bis auf die Novelle El farmer, von Peter Tremp im kurzlebigen Lateinamerika-Verlag herausgebracht, kein einziges Buch von ihm auf Deutsch erschienen ist. Das ist auch deshalb schade, weil Rivera sich über die Konvention hinweggesetzt hat, jüdische Kultur entweder im Schtetl oder in bürgerlichen Salons zu verorten. Ihn interessierten nur Juden, und auch Gojim, die bereit sind, in die Ereignisse einzugreifen, bevor diese Geschichte werden, und dafür ihr Leben riskieren. Noch in seiner letzten, inhaltlich bereits zerrissenen, aus vielen Erinnerungssplittern bestehenden Erzählung Kadish hat er ihnen, und damit auch sich selbst, ein Denkmal gesetzt.

Riveras Interesse an Literatur hatte schon früh sein Onkel Felipe Schatz geweckt, der das Kunststück zuwege brachte, zweimal wegen des gleichen Delikts – Trotzkismus – aus der Kommunistischen Partei Argentiniens ausgeschlossen zu werden. Auch Rivera traf, in Zusammenhang mit dem chinesisch-sowjetischen Zerwürfnis Mitte der sechziger Jahre, der Bannfluch der Partei. Damals wurden mehrere seiner Freunde, unter ihnen Gelman, wegen prochinesischer Tendenzen ausgeschlossen. Weil er diesen eine Erzählung gewidmet hatte, wurde Rivera gleich mit ausgeschlossen und verstärkte von da an, wie er später sagen sollte, die nicht gerade kleine Riege der Verstoßenen.
Tatsächlich war ihm die Kommunistische Partei mit ihrem den jeweiligen Weisungen aus Moskau entsprechenden Zickzackkurs längst nicht mehr geheuer. Der Aufstand von Córdoba 1969, der als Cordobazo in die Geschichte eingegangen ist, und dann nochmals die von den unabhängigen Gewerkschaften Sitrac und Sitram geführten Arbeitskämpfe in derselben Stadt, von 1970 bis 1974, ereigneten sich ohne Mitwirkung und gegen den Willen der Parteiführung. Rivera aber, und seine Frau Susana Fiorito, waren daran beteiligt und überlebten die nachfolgende Repression nur durch Zufall: „Wären wir in Córdoba geblieben, gäbe es uns nicht mehr. Unsere Telefonnummer stand in allen Notizbüchern der Verfolgten. Susana fuhr einmal pro Woche von Buenos Aires nach Córdoba, um den Frauen der verhafteten Gewerkschafter Geld zu bringen. Diese Männer sind heute vergessen, alt, müde.“

Auch das ist ein Thema, das sich durch Riveras Gesamtwerk zieht: wie es um die vergessenen, kranken und alt gewordenen Menschen (fast immer sind es bei ihm Männer) steht, die einst dafür gekämpft haben, das Unrecht aus der Welt zu schaffen. Davon handelt sein berühmtester Roman La revolución es un sueño eterno („Die Revolution ist ein ewiger Traum“), in dem er dem großen Redner der Mairevolution von 1810, dem Anwalt Juan José Castelli, das Wort erteilt hat. Im letzten Satz wirft Castelli die unbequeme, verzweifelte und in der Prognose doch hoffnungsvolle Frage auf, die den Schriftsteller bis zuletzt beschäftigt hat: „Unter so vielen unbeantworteten Fragen wird eine beantwortet werden: Welche Revolution wird die Leiden der Menschen aufwiegen?“

Als ich vor sechzehn Jahren eingeladen wurde, im Goethe-Institut von Córdoba einen Vortrag zu halten, fragte mich der damalige Institutsleiter, wen er davon benachrichtigen sollte. Ich wusste, dass Susana Fiorito und Andrés Rivera seit 1995 im Arbeiterviertel Bella Vista eine Volksbibliothek führten, und nannte ihre Namen. Rivera erschien nicht nur zu meinem Vortrag, sondern ließ es sich zu meinem Erstaunen, ja meiner Bestürzung nicht nehmen, tags darauf an einer Schreibwerkstatt teilzunehmen, die für Aktivisten der Organisation HIJOS bestimmt war, jungen Frauen und Männern also, die als Kinder Opfer der Militärjunta geworden waren: Wenn schon, dann wäre es angemessener gewesen, er hätte die Werkstatt geleitet und ich mich, wie die Schar Jugendlicher, dort an einem Prosastück versucht. Aber die Erzählung schrieb er, es ging um „Das Verstummen meines Vaters“, wieder griff er dabei, auf einer knappen Seite, sein zentrales Thema auf: was und wie von den Kämpfen der Vergangenheit auf die Gegenwart gekommen ist.

Auch an den Diskussionen über die Texte beteiligte er sich. Ich erinnere mich an ein Mädchen namens Liliana, das sich, schreibend, einer Episode versicherte, in der seine Mutter, eine ehemalige Guerrillakämpferin, in die Schule kommt und von einem Mitschüler, in den es heimlich verliebt ist, mit dem Ruf „Aufpassen, die Montonera schmeißt gleich eine Bombe!“ em-pfangen wird. Lilianas Zerrissenheit, zwischen der Schwärmerei für den Jungen und der Liebe zur Mutter. Rivera, der zeitlebens ein erbitterter Gegner des Peronismus war, fand die literarische Reminiszenz schon deshalb schlecht, weil eine Montonera darin gut wegkam. Die Autorin, der es zum ersten Mal gelungen war, an dieses schmerzhafte Erlebnis zu rühren, brach in Tränen aus.

Aber so war er, der große, der am meisten politische, geschichtsbewusste Schriftsteller seines Landes, der hoch bejahrt und doch zu früh verstorben ist: rauh, barsch, strikt, mürrisch. Ich habe ihn, auch bei späteren Gelegenheiten, nie lächeln, gar lachen gesehen. Klein und stämmig, die Haare kurzgeschoren, zwischen den Lippen eine Zigarette, vor sich ein Glas Whisky oder eine Flasche Wein, so wie sein Alter ego Arturo Reedson in den späten Romanen. Nur wenn Rivera an seine Kindheit rührte, von seiner Mutter Zulema erzählte, die samt ihren Geschwistern das große Pogrom von Proskurov nur deshalb überlebt hat, weil die Großmutter ihr befahl, die Federbetten mit Kot zu beschmieren, und den eindringenden Kosaken zurief, die Kinder hätten alle Typhus; von Zulema Schatz also, die in der argentinischen Hauptstadt in einer Süßwarenfabrik arbeitete, sich in ihrer Freizeit um mittellose Kranke kümmerte und eines Tages Moisés Ribak kennenlernte, den Sohn eines Rabbiners, der in der polnischen Kleinstadt Lomza das Schneiderhandwerk erlernt hatte und in Buenos Aires Sekretär der Textilarbeitergewerkschaft war – wenn er erzählte, wie zärtlich und gut und in ihrer Not doch zuversichtlich die beiden waren, dann wurde sein Gesicht sanft und weich.