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Die letzten Tage des Comandante

Ein Roman des venezolanischen Schriftstellers Alberto Barrera Tyszka über Chávez
Ute Evers

Das Telefon läutet am Abend. Es ist der Neffe des erst kürzlich pensionierten Onkologen Miguel Sanabría. Vladimir komme aus Havanna, wohin er mit einer Delegation den Präsidenten zum Krankenhaus begleitet hatte. Er müsse bei seinem Onkel unbedingt eine Kiste verstecken. Aufgeregt klingt sein Neffe, er redet, „als stolperten die Buchstaben in seinem Mund“. Ja, vielversprechend und mit starken Metaphern beginnt der Roman Die letzten Tage des Comandante, für den Alberto Barrera Tyszka, 1950 in Caracas geboren, 2015 den spanischen Literaturpreis Premio Tusquets de Novela erhielt.

In 29 Kapiteln treten verschiedene Figuren in einem speziellen sozialen Umfeld auf. Der Plot ist vorwiegend in jener Zeit zu verorten, als Hugo Chávez seine letzte Reise nach Havanna antritt, bis zu seinem offiziellen Tod, das heißt vom 8. Dezember 2012 bis zum 5. März 2013. Ab und an werden genaue Daten als Eckpfeiler oder bekannte Ereignisse genannt. Somit entsteht ein Stimmungsbild der venezolanischen Gesellschaft am Vorabend des Todes des Comandante, in dem Hugo Chávez, trotz körperlicher Abwesenheit, präsenter denn je zu sein scheint.

Schon immer hatten Onkel und Neffe eine gute Beziehung zueinander. Selbst die gegensätzlichen politischen Ansichten konnten ihr nichts anhaben. Vladimir war ein Spitzenfunktionär der Regierung, der Onkel hingegen hatte nie für Chávez gestimmt. Bisher hatte es Sanabría geschafft, Politik weitgehend aus seinem Leben zu halten, obwohl er zwischen zwei extremen Welten lebt: mit seiner Frau Beatriz, die dem an Krebs erkrankten Chávez den Tod wünscht, und seinem Bruder Antonio, dem fanatischen Altlinken, der in der Politik Chávez’ „eine Art Themenpark der 70er-Jahre“ wiederfindet. Doch seit seiner Pensionierung steuert der ehemalige Arzt mehr und mehr auf eine Depression zu, bis er plötzlich begreift, dass sein Unwohlsein mit seinem Land zu tun hat.

„Venezuela war ein Scheißland, ja nicht einmal ein Land, sondern ein Orkus. Alle waren sie irgendwie verseucht, dazu verdammt, Partei zu ergreifen, unter dem Druck zu leben, für oder gegen die Regierung sein zu müssen.“

Neben dem ehemaligen Onkologen und seiner Familie tritt auch der Journalist Fredy Lecuna auf, der „beim Schreiben über Tote ein wahrer Meister“ ist. Seine Themen bekommt er praktisch täglich auf einem Tablett serviert. In Anbetracht der Fülle an Morden kann er sich den „Fall mit dem größten literarischen Potenzial“ herauspicken. Zu wenig Journalisten gibt es, die über so viel Blut berichten könnten, wie es in Venezuelas Straßen fließt, so der Erzähler oder Lecuna selbst, man weiß es nicht genau, ist aber wohl für die Botschaft eher irrelevant.

Lecuna arbeitete in einer der wichtigsten venezolanischen Tageszeitungen, bis man „nicht mehr über mangelnde Sicherheit und Gewalt schreiben“ durfte.1 Er beschließt, sich als freier Schriftsteller zu versuchen, bekommt auch tatsächlich ein Angebot einer befreundeten Verlegerin, nämlich über Hugo Chávez und seine Krankheit zu schreiben! Eine große Herausforderung, für die er alles tun wird. Dann gibt es da auch eine Kubanerin, die einen Venezolaner heiraten wird, um Kuba ganz legal verlassen zu können.

Es gibt noch weitere Figuren, die ebenso offensichtlich wie klischeehaft gezeichnet sind. Bald ist klar, dass der Chávez–Biograf Alberto Barrera sich in seinem Roman, der im Original Patria o muerte heißt, weitgehend gängiger Allgemeinplätze bedient, um einseitig die Politik Chávez’ und ihre vermeintlich negativen Auswirkungen auf die venezolanische Gesellschaft darzustellen. Dabei geht es ihm im Prinzip nicht um die offizielle Persönlichkeit, die wir alle zu kennen glauben, sondern darum, wie der Machtmensch Chávez mit seiner Krankheit umging. Doch seine Figuren bringen keine ausreichenden Erkenntnisse über Hugo Chávez, um dieses Buch als gelungenen politischen Roman auszuzeichnen. Man begegnet kaum einer Figur, die nicht oberflächlich bleibt, kaum einem Charakter, der an Tiefe gewinnt. Es überwiegen farblose Typen, deren Funktion darin zu liegen scheint, Vermittler einer bestimmten politischen Wahrnehmung zu sein. Konstruiert und mitunter absurd kommen einige Figurenkonstellationen daher, nach originellen Geschichten, die einen Roman als literarisches Werk eben ausmachen, sucht man vergeblich. Seine einzige literarische Besonderheit besteht in der Schaffung von starken Metaphern, die tatsächlich Erwähnung verdienen. Bis dahin aber das Literarische! Alles andere ist eine politische und nicht literarische Wertung. Nicht zu verstehen, warum die Übersetzung gerade dieses Romans von der „Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika“ (LITPROM) gefördert wurde, wo es doch weitaus talentiertere und weniger manipulierende Schriftsteller in Venezuela gibt, die es verdienen, unter deutschsprachigen LiteraturkennerInnen Gehör zu finden.

  • 1. Hier fragt man sich, welche Tageszeitung das nur sein kann, sind doch die großen Nachrichtenblätter in der Hand der Opposition.