Vom Angeklagten zum Ankläger
Am 1. September 2016 fand im südargentinischen Esquel der Prozess gegen Facundo Jones Huala, den Lonko (Anführer) einer Mapuche-Gemeinde, statt. Er war im Mai 2016 bei der brutalen Räumung einer Landbesetzung festgenommen worden. Die Ländereien im chilenisch-argentinischen Grenzgebiet gehören offiziell dem Unternehmen Benetton. Das Nachbarland Chile verlangte, den jungen Aktivisten auszuliefern. Auf den Straßen der Stadt und auch in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires versammelten sich am Prozesstag Hunderte von UnterstützerInnen des Mapuche-Sprechers. Dem Auslieferungsgesuch wurde nicht stattgegeben, stattdessen verfügte der Richter Guido Otranto die unmittelbare Freilassung von Facundo Jones Huala. Die argentinische Zeitschrift „Mu“ führte einen Tag vor Prozessbeginn ein Interview mit Jones Huala, der sich zu diesem Zeitpunkt noch im Gefängnis von Esquel befand.
Das Telefon klingelt im Pavillon Nr. 5 in der Unidad Penitenciaria Federal Nr. 14, der Strafanstalt Nr. 14 von Esquel. „Pavillon 5“, antwortet eine Stimme. „Guten Tag, ich würde gerne mit Facundo Jones Huala sprechen.“ „Das bin ich“.
Facundo Jones Huala ist der Lonko1 einer Mapuche-Gemeinde im Departement Cushamen in der Region Vuelta del Río. Gemeinsam besetzten die Gemeindemitglieder im März 2015 das Land ihrer Vorfahren, ein Landgut, das offiziell dem multinationalen Unternehmen Benetton gehört (siehe Kasten). Die BesetzerInnen wurden bedroht, verfolgt, erlitten Repressalien und strafrechtliche Verfolgung, die sich auf das Antiterrorismusgesetz stützt.
Am 27. Mai dieses Jahres wurde ein neues Kapitel in der Geschichte dieses Protests aufgeschlagen. Ein gewaltsamer Aufmarsch von Polizeikräften, Gendarmerie und GEOP (Grupo Especial de Operaciones, Sondereinsatzkommando) nahm Facundo Jones Huala fest, aufgrund eines chilenischen Haftbefehls. Am gleichen Tag, einige Stunden später, der Lonko war bereits in Haft, kehrten die Polizeikräfte zurück und räumten die Besetzung mit Schlägen und Tränengas. Es gab Verletzte und weitere Festnahmen; zwei Frauen mit vier Kindern, das jüngste gerade mal einen Monat alt, das älteste acht Jahre, mussten die Nacht im Freien verbringen, bei minus 10 Grad und bewacht von der Gendarmerie.
Am 1. September begann im Sitz der Schwadron Nr. 36 der Nationalen Gendarmerie die Anhörung zum Auslieferungsgesuch Chiles, um über Jones Huala wegen der Delikte Brandstiftung, illegaler Besitz von selbst hergestellten Waffen und Munition sowie heimlicher Grenzübertritt nach Chile zu verhandeln.
Jones Huala bezeichnet sich selbst als politischen Gefangenen. Er war einer der Mapuche, der mit „Mu“ redete, als Redakteure der Zeitschrift im September 2015 nach Esquel reisten, um eine Reportage über den Protest zu machen. Dabei sprach „Mu“ mit den VertreterInnen der Besetzung über den Versuch der Provinzjustiz, sie als TerroristInnen zu verfolgen.2 Dort kommen zwei Prozesse zusammen, die in Esquel als zwei Seiten derselben Medaille gesehen werden, die indigene Frage und der Extraktivismus. Im Rahmen dieses juristischen Prozesses kam heraus, dass ein Geheimdienstagent illegalerweise AktivistInnen, AnwohnerInnen und Versammlungsmitglieder der bergbaukritischen Bewegung No a la Mina ausspähte.
Nun spricht Jones Huala mit uns aus dem Gefängnis. Er sagt, dass er moralisch gut gerüstet in den Prozess gehe, da er auf die Leute auf der Straße setze. In Esquel sind Flyer verteilt und Parolen gesprüht worden, die schon Tage vorher den Beginn des Prozesses ankündigen; in Buenos Aires gab es den Aufruf für eine Kundgebung vor der „Casa de Chubut“.
„Wie beurteilst du, was passiert ist – die Festnahme, die Repressalien, die Mobilisierung?“ „Für mich zeigt dies ein stärkeres Bewusstsein, eine bessere Organisation und Reorganisation der Mapuche-Gemeinden, während sich auf der anderen Seite die unterdrückerische Antwort des Staats und der Unternehmen zeigt, die ihre Interessen wahren wollen“, antwortet Jones Huala. „Der Justiz bleibt nichts anderes übrig, als mit den einzigen Mitteln zu reagieren, die ihr zur Verfügung stehen: Die strafrechtliche Verfolgung von Protest ist ein politisches Instrument. Und das geht einher mit der Repression, die auch politisch ist, begleitet von einer großen Medienkampagne der bürgerlichen Presse gegen die autonome Mapuche-Bewegung und den Widerstand ihrer Gemeinden, die das Gespenst des Terrorismus heraufbeschwört. Aber das stimmt nicht. Was hier stattfindet, ist die Kriminalisierung eines politischen, philosophischen, ethischen Ansatzes. Dies passiert, wenn politische Akteure auf den Plan treten, die sich ihrer Aktionen bewusst sind. Das ist die Repression der Staaten, die dem Kapital dienen. Im Moment ist sogar die Stadt Esquel total militarisiert, wegen des Gerichtsprozesses. Sie haben Wagen voller Gendarmen hergeholt, Sondereinsatzkommandos, Infanterie, Bundespolizei, Leute von der AFI (Agencia Federal de Inteligencia, Geheimdienst), sogar Drohnen. Ein echt beeindruckender Aufmarsch.“ „Warum geschieht deiner Meinung nach dieser Aufmarsch?“ „Hier wird das politische Projekt einer Bevölkerung verfolgt, die sich erhoben hat und die weiß, dass sie das Recht auf diesen Politisierungsprozess hat, der bedeutet, dass wir unsere territorialen Rechte wahrnehmen. Das jagt dem Staat Angst und Schrecken ein. Obwohl wir nicht vorhaben, die Macht zu übernehmen, wie es die Huinca, die weißen Eroberer, machten, haben wir sehr wohl vor, die Macht der Mapuche wiederherzustellen. Unser kultureller Ansatz ist politisch, da wir Kultur als Lebensform und nicht als Folklore begreifen. Dies ist ein Prozess, der die Welt der Mapuche wieder aufbaut. Und davor haben sie Angst. Wir fordern das Gesetz der Mapuche als politische Praxis. Es ist nicht schriftlich festgehalten und entwirft ein harmonisches Verhältnis und Gleichgewicht zwischen allen Elementen der Natur. Im Moment sind wir so gestärkt wie nie zuvor, wir treten immer geschlossener auf und das Bewusstsein wird stetig geschärft, sowohl auf dem Land als auch in der Stadt. Selbst bei der Polizei. Neulich klebten einige Lamien3 Plakate und die Polizei nahm sie fest, doch die Beamtin begann zu weinen und entschuldigte sich bei ihnen, weil sie die Enkelin eines Lonko war. Sie hätte den Befehl von oben erhalten, alle festzunehmen, die öffentliche Aktionen für mich durchführten. Selbst in solchen Sektoren ist im Bewusstsein etwas angestoßen worden.“
Der Konflikt, der dem Fall zugrunde liegt, ist der Kampf der Mapuche zur Verteidigung des Río Pilmaikén gegen den Bau von Wasserkraftwerken in Chile. „Alles begann damit, dass sie bei der Machi4 Millaray Huichalaf, einer politischen, philosophischen und ethischen Autorität und Gesicht des Kampfes, eine Razzia durchführt, bei der sechs Personen festgenommen werden. Eine davon war Facundo, der dann acht Monate Untersuchungshaft in einem Hochsicherheitsgefängnis absitzen musste“, erklärt Sonia Ivanoff, die Anwältin von Facundo Jones Huala. „Danach hatte er Hausarrest und erschien nicht mehr zu den Verhandlungen in Chile“, fährt die Verteidigerin fort. „Wir müssen bedenken, dass die Straftatbestände bei einem Prozess wegen eines Auslieferungsgesuches nicht tiefergehend analysiert werden. Es wird lediglich geprüft, ob bestimmte Elemente für eine Auslieferung gegeben sind oder nicht. Es darf nicht ausgeliefert werden, wenn es sich um ein politisches Delikt handelt, wenn die Garantie, ein ordentliches Verfahren zu bekommen, verletzt wird oder wenn es Verfolgung aufgrund von rassistischen, religiösen oder nationalen Gründen gibt.“ Die Anwältin bezieht sich unter anderem auf Artikel 8, Absatz d) des sogenannten „Gesetzes zur internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen“, das festlegt, dass eine Auslieferung nicht vollzogen werden kann, wenn „der Prozess, der zum Zweck der Auslieferung geführt wird, Verfolgungsgründe aufgrund von politischen Meinungen, Nationalität, Rasse oder Religion der betroffenen Personen zeigt oder wenn es den begründeten Verdacht gibt, dass diese Gründe die Ausübung des Rechts zur Verteidigung bei Strafprozessen gefährden könnten“.
Ivanoff weist darauf hin, dass Jones Huala für die genannten Delikte auch in Argentinien verurteilt werden könnte: „Als Verteidigung können wir alle Vergehen benennen, um die Auslieferung abzuweisen, sowohl mit Hilfe von Dokumenten als auch von Zeugen. Wir haben Beweismittel zusammengetragen, mit denen wir zeigen können, dass Facundo ein politischer Gefangener ist. Schließlich wird hier die Verteidigung der territorialen Rechte kriminalisiert.“
Die Besetzung der Mapuche sorgte für eine Strafanzeige von Benetton wegen „Usurpierung“, welche die Provinzjustiz annahm und dafür das Antiterrorismusgesetz in Anspruch nahm. Diese Interpretation wurde aber vom Föderalen Gerichtshof in Esquel zurückgewiesen, von Dr. Guido Otranto, der nun am 1. September auch über das Auslieferungsgesuch entschieden hat. Der Terrorismusfall zuvor ging dann an den Obersten Gerichtshof, der in neun Zeilen die Interpretation des Provinzgerichts zurückwies. So lautet das Urteil des Staatsanwalts dieses Gerichts, Víctor Abramovich: „Die zu analysierenden Ereignisse fanden im Rahmen eines Protests statt, der soziale Rechte einfordert, was verdienen würde, eventuell die Ausnahme anzuwenden, die in Artikel 41 des Strafgesetzbuches vorgesehen ist, die nämlich vorsieht, dass die in diesem Artikel vorgesehenen strafverschärfenden Umstände nicht zum Tragen kommen, wenn die Tat(en), um die es geht, stattfand(en) im Zuge der Wahrnehmung der sozialen und/oder der Menschenrechte oder jedes anderen verfassungsmäßig garantierten Rechts.“
Mariano Jones Huala, Mitglied des Unterstützerkreises der Besetzung, war ein weiterer Beschuldigter in diesem Fall. Für die Provinzjustiz war er also auch ein „Terrorist“. Er wurde freigesprochen. Was denkt er über die Situation? „Wir gehen gestärkt daraus hervor. Wir haben viele Leute mobilisiert, zum Prozess erscheint zum Beispiel der Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel. Dieser Prozess sollte gar nicht stattfinden, er ist total unangebracht. Aber dies ist der Preis dafür, dass wir hier leben. Es geht gar nicht darum, dass die Landeigentümer per se rassistisch gegenüber den Mapuche eingestellt sind. Aber wenn ihre Interessen berührt werden, gibt es Probleme. Dann ändern sie ihr Verhalten.“ Mit Sorge beobachten die Leute vom Unterstützerkreis den Aufzug der Sicherheitskräfte in der Stadt kurz vor dem Prozess. „Die Auslieferung werden sie nicht durchsetzen“, meint Martiniano. „Das wäre ein schwerer Fehler vonseiten der Justiz. Heute ist es Facundo, doch morgen könnte es sonst wer sein. Die Gesellschaft sollte wachsam sein.“
Facundo Jones Huala ist optimistisch, was die Mapuche-Bewegung betrifft, selbst im Gefängnis: „Dies ist eine politische, philosophische, jahrhundertealte Bewegung, die nun aktiv ist. Hier wird nicht über eine Person geurteilt, sondern über den kollektiven Kampf einer Bevölkerung. Egal was passiert, die Mapuche werden ihre Rechte immer stärker wahrnehmen. Ich vertraue auf die Leute. Egal was erreicht wird, es ist das Verdienst der politischen und sozialen Mobilisierung und ich werde meine Verteidigung auf politische Argumente aufbauen. Es ist mir egal, ob ich auf die andere Seite gebracht werde oder hier bleibe. Ich werde weiterhin meine Stimme erheben und meinen Teil zum Kampf beitragen, als Aktivist und Anführer der Mapuche.“
Die Zeitschrift „Mu“ wollte wissen, wie die drei Monate im Gefängnis waren. „Ich studiere weiter, mache Politik, analysiere die Realität, steuere von hier aus meinen Teil zum Prozess bei und bin ein Vermittlungskanal für all das, was passiert. Ich versuche aus dem Gefängnis heraus ein politischer Akteur zu sein. Hier sitzen Mapuche ein wegen allgemeiner Straftaten und ich versuche ihnen zu vermitteln, dass unser Kampf auch für sie alle ist, selbst für das Gefängnispersonal, die auch Mapuche sind. Wir haben alle die gleiche Geschichte von Kolonialismus und Unterdrückung. Insofern ist es sehr positiv, was hier alles ausgelöst werden kann. Es gibt Organisierungs- und Bewusstseinsprozesse, die sich am Beispiel der Polizei ganz gut zeigen lassen. Wenn etwa die Hand eines Polizeibeamten zittert und er zögert, dann ist unser Kampf gar nicht so verfehlt. Dieser Kampf hat viel zu bieten, nicht nur politisch, sondern auch menschlich. Und wir erreichen das, was wir uns immer vornehmen, eine politische Debatte in der Gesellschaft anzustoßen.“ Auf die Frage, inwiefern er seine Verteidigung mit politischen Argumenten begründen will, antwortet Facundo Jones Huala: „Ich bin wegen politischer Gründe verhaftet worden. Und die einzigen, die nicht ausgeliefert werden dürfen, sind politische Gefangene. Das Gefängnis und die Gerichte sind politische Tribünen, um die Wünsche und politischen Projekte unserer Bevölkerung darzustellen. Das ist nichts Neues, das hat bereits Fidel Castro in Cuba gemacht, Mandela, viele anarchistische Aktivisten, die Basken, sie alle haben die Gerichtssäle als politische Tribüne genutzt. Vom Angeklagten zum Ankläger. Niemand kann bestreiten, dass wir die Arbeitskräfte der Oligarchie sind, die wiederum mit den multinationalen Unternehmen, dem Staat, den Medien gemeinsame Sache macht. Deswegen müssen wir die Leute dazu einladen mitzumachen, damit die Mapuche ihre Wurzeln entdecken, sich in ihre Gemeinden einbringen. Wir müssen die Indigenen dazu bewegen, Lösungen für ihre Konflikte im Hinblick auf ihre eigene Kultur zu finden, und die restliche Bevölkerung dazu bringen, neue politische Projekte zu entwickeln. Revolutionen sind möglich. Ich definiere mich selbst als revolutionären Mapuche-Politiker. Die Unterdrückung, der unsere ganze Bevölkerung unterworfen ist, muss beendet werden. Wir müssen das Glück suchen, die Harmonie, die Brüderlichkeit und jene politische Kraft wiederaufbauen, die in uns selbst liegt.“
- 1. Lonko: Chef, Anführer, Sprecher einer Gemeinde
- 2. Zur Räumung und der Vorgeschichte der Besetzung hier die sehr informative Reportage (auf Spanisch) vom letzten Jahr: www.lavaca.org/notas/violento-desalojo-a-una-comunidad-mapuche-en-esquel-se-llevaron-a-mujeres-y-ninos-a-la-rastra/
- 3. Lamien: Schwestern
- 4. Machi: Heilerin
Beeindruckendes Video von Facundo Jones Huala, direkt nach seiner Freilassung: www.youtube.com/watch?v=YBZcDHLqy1A
Übersetzung: Britt Weyde