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Was mich prägte

Zum Tod von Alfredo Bauer (1924-2016) ein Auszug aus seiner noch unveröffentlichten Autobiographie

Am 21. Mai 2016 verstarb in Buenos Aires unser langjähriger Freund und Autor Alfredo Bauer im Alter von 91 Jahren. Als Vierzehnjähriger musste Alfredo 1938 wegen seiner jüdischen Herkunft mit den Eltern aus Wien nach Argentinien fliehen. Dort hat er studiert und bis Ende der neunziger Jahre als Arzt gearbeitet. Vor allem war er aber als Schriftsteller tätig und 70 Jahre in der Kommunistischen Partei Argentiniens aktiv. Er hat rund 30 sexual-pädagogische und belletristische Bücher (Romane, Erzählungen, Theaterstücke) veröffentlicht und viele Titel übersetzt. Seine Romane sind auf Spanisch in Argentinien erschienen, einige auch – teilweise von ÜbersetzerInnen, teilweise von ihm selbst übertragen – auch auf Deutsch, zunächst in der DDR, später auf Initiative des Wiener Autors Erich Hackl auch in Österreich. Als Alfredo 90 Jahre alt wurde, haben wir in der ila 380 einen Geburtstagsgruß veröffentlicht, in dem wir auf sein Leben und Wirken eingegangen sind und an unsere Begegnungen erinnert haben. Das möchten wir anlässlich seines Todes nicht wiederholen, sondern ihn selbst zu Wort kommen lassen. Aus seiner noch unveröffentlichten – auf Deutsch geschriebenen Autobiographie hat Erich Hackl die Passage ausgewählt, in der Alfredo erzählt, wie er als junger Flüchtling in Buenos Aires durch einige außergewöhnliche Lehrer psychisch und sozial stabilisiert und für sein Leben geprägt wurde. Das Originalmanuskript wurde von der Redaktion redigiert und um etwa ein Drittel seines Umfangs gekürzt. (Ein Lebenswege-Interview mit Alfredo Bauer findet sich in der ila 154 vom April 1992.)

Alfredo Bauer

Es muss aber nunmehr von meinem Schulbesuch berichtet werden, der durchaus nicht glatt verlief. Ganz selbstverständlich war es ohnedies nicht, dass ich, vierzehn Jahre alt, überhaupt noch eine Schule besuchte. Die meisten meiner um diese Zeit eingetroffenen Altersgenossen wurden gleich in die Arbeit geschickt, um zum Unterhalt der Familien beizutragen. Mein Vater hingegen erklärte: „Wir werden von Wasser und Brot leben, wenn es sein muss; aber unser Sohn wird studieren.“ Es musste dann zum Glück nicht sein; aber man wird begreifen, dass ich diesen Ausspruch meines Vaters nie vergessen kann.

Mein Vetter Juan schlug vor, mich in eine nahe gelegene, nicht allzu teure deutsche Privatschule zu schicken, die er selbst besucht hatte, und erbot sich, meine Mutter und mich hinzubegleiten und uns dem Direktor vorzustellen.

Dass es so was überhaupt gab, war ein Glücksfall. Die deutschen Schulen in Argentinien waren zwar zahlreich, doch fast alle waren „gleichgeschaltet“, das heißt von der NSDAP, die auch in Argentinien sehr gut organisiert war, sowie von der nazideutschen Botschaft kontrolliert. Sie kamen also nicht in Frage. Bei der Cangallo-Schule, erklärte Vetter Juan, sei das nicht der Fall.

In der Tat empfing uns Herr Berr, der Direktor, sogleich. Um festzustellen, in welche Klasse ich geschickt werden könnte, prüfte er mich und verfügte, dass ich in die vierte Klasse kommen könne.

Meine Mutter war überglücklich. In Wien sei ich auch in der vierten Mittelschul-Klasse gewesen; ich würde also praktisch gar keine Zeit verlieren. Als sie erfuhr, dass nicht die Mittelschulklasse, sondern die vierte Grundschulklasse gemeint war, wurde ihre Freude erheblich gedämpft. Wieso denn? Ich hätte bei der Prüfung doch alles tadellos beantwortet. Deshalb sei es nicht, erklärte der Direktor. Aber der Unterricht sei von der fünften Klasse an überwiegend spanisch, und das würde ich nicht verstehen.

Ich kam also in eine Klasse, wo alle meine Mitschüler um vier Jahre jünger waren als ich. Sie waren mir gegenüber nicht feindselig, aber besonders nett waren sie auch nicht. Sie entstammten eingesessenen deutschsprachigen Familien, mussten deshalb zwar keine Nazis sein, aber ich war voller Furcht, dass sie es sein könnten. Ihr natürliches Misstrauen gegen den Außenseiter hielt ich für Feindseligkeit. Dann war da die spanische Lehrerin. Sie war sehr jung und sehr hübsch, und das brachte mich – ich war immerhin bereits vierzehn – einigermaßen aus dem Gleichgewicht. Dieses Problem hatten meine zehnjährigen Mitschüler nicht; aber um es bei mir zu konstatieren, waren sie alt genug, und des Spottes war kein Ende. Es gab eine Parallelklasse, in die nicht die Kinder und Enkel deutschsprachiger Einwanderer gingen, sondern kreolische Jungen, die Deutsch als Fremdsprache lernen sollten. Sie lernten kaum mehr als „Guten Tag“ und „Auf Wiedersehen“, denn der Unterricht war keineswegs gut. Einer aber hatte sich auf eigene Faust einen Satz angeeignet, und den versetzte er mir nun voller Stolz: „Du bist ein Saujude.“ Er lächelte breit und war gewiss sehr verwundert über meine Reaktion. In der Tat hatte ich nur mehr Blut im Gehirn. Dazu hatte ich die Heimat verlassen und war über den Atlantik gekommen, um mir nun das anzuhören?! Unsere Klassenzimmer lagen im zweiten Stockwerk, und man gelangte zu ihnen über eine Wendeltreppe. Ich packte den Buben beim Kragen und stürzte ihn über die Stufen hinunter ins erste Stockwerk. Ein Wunder, dass er sich nicht alle Knochen brach. Er war zu überrascht gewesen, um Wider- stand zu leisten. Aber schon war ich ihm nachgekommen, packte ihn von neuem und stieß ihn hinunter in den Hof. Dort gab der blonde Herr Bunke Turnunterricht. In sehr preußisch-zackiger Weise: Eins-zwei. Eins-zwei. Der Herr Bunke war mir schon früher aufgefallen. Wenn es hier eine Naziorganisation gibt, hatte ich gedacht, dann ist der da der Oberkommandant. Als ich jetzt den am Boden Liegenden mit den Fäusten bearbeitete, kam er gelaufen und trennte uns. „Was ist denn los? Bist du verrückt geworden?“ Der Junge hatte sich aufgerappelt. „Er ist ein Kommunist!“ schrie er. „Er muss aus der Schule hinausgeschmissen werden!“ Herr Bunke erstarrte. „Was ist er?“ „Ein Kommunist! Er ist ein Jud und ich hab ihm das gesagt. Da hat er mich über die Stiege geschmissen.“ „Das hast du ihm gesagt?“ fragte der Lehrer. „Und du wunderst dich, wenn er dich dann prügelt?“ Jetzt war der Junge sehr verwundert. Und wütend. „Sie sind auch ein Kommunist!“ schrie er. „Weil Sie die Juden verteidigen. In Deutschland hätte man Sie in ein Konzentrationslager gesperrt.“ Herr Bunke antwortete nicht gleich. „Dort war ich schon.“ sagte er dann. „Ich könnte dir erzählen, wie es dort zugeht.“ Wir Buben standen vor dem Lehrer und schauten einander hasserfüllt an. „Hinauf mit euch in die Klassen!“ sagte der Lehrer. „Ihr geht getrennt, zur Sicherheit!“ Zu dem andern sagte er noch: „Wehe dir, wenn du ihn noch einmal beleidigst!“ Ich ging, einigermaßen benommen. Wieder war da etwas geschehen, was für mein Leben entscheidend sein sollte. Ein Kommunist sei einer, der, selbst kein Jude, die Juden verteidigte? Ich muss hier vorwegnehmen, was ich später erfahren würde: Wer nämlich Herr Bunke1 war: Präsident des alten sozialistischen deutschen Vereins „Vorwärts“ in Buenos Aires, den die Nazis nicht wie fast alle anderen deutschen Vereine hatten „gleichschalten“ können. Und seine Tochter Tamara – ich lernte sie als kleines Mädchen bald darauf kennen – sollte später berühmt werden. Sie ging 1952 mit ihren Eltern in die DDR, von dort als Dolmetscherin nach Kuba und dann mit Ernesto „Che“ Guevara nach Bolivien. Sie ist dort im Kampf gefallen. Man kennt sie als Tania, la Guerrillera. Was aber in der Cangallo-Schule geschehen war, sollte ein Nachspiel haben. Die Eltern des von mir verprügelten Jungen hatten sich beschwert, und für den Direktor, anders als für Herrn Bunke, waren dessen antisemitische Äußerungen keine Rechtfertigung dafür, dass ich auf ihn losgegangen war.

Meine Eltern waren vorgeladen worden und hatten mich mitgenommen, so dass ich Zeuge des Gesprächs wurde, das sie mit Herrn Berr hatten. Wegen meiner Aufsässigkeit, erklärte er, müsse ich aus der Schule entfernt werden; denn Gewalt anzuwenden sei nicht statthaft, und Politik in die Schule hineinzutragen noch weniger. Offenbar waren antisemitische Äußerungen keine Politik; aber der Widerstand dagegen war es!

Nun, ich neigte wahrhaftig nicht zur Aufsässigkeit; und zumal vor schulischen Autoritäten hatte ich großen Respekt. Und dies traf auch auf meine Eltern zu. Aber ihren geliebten Sohn aufsässig zu nennen, das war zu viel für sie! Ich glaube, mein Vater wollte erst versuchen, dem Mann begreiflich zu machen, dass ich ja, nachdem mir gerade das zuvor bereits hundertfach geschehen war, in meiner Menschenwürde beleidigt worden sei und das nicht einfach hätte hinnehmen können. Aber er unterließ es, und es hätte ja in der Tat auch keinen Zweck gehabt. Er sagte ihm jedoch, dass er, da er um eines abstrakten Prinzips willen die Menschlichkeit außer Acht lasse, es verdiene und es auch erleben würde, dass seine Schüler sich gegen ihn empörten. Dann legte er den Arm um die Schultern meiner Mutter, nahm mich bei der Hand und verließ mit uns den Raum. Allerdings war uns einigermaßen traurig zumute. Was nun tun im fremden Land und ohne eine konkrete Alternative? Dass dann auch Tante Alice und Vetter Juan keineswegs uns Recht gaben, sondern vielmehr dem Direktor, machte da nur mehr wenig aus.

Es gab aber sehr bald und ziemlich unerwartet einen Ausweg; und das Ergebnis war dann viel besser, als es jemals in der Cangallo-Schule hätte sein können. Ein Herr Frank aus München, mit dem mein Vater geschäftlich in Verbindung gekommen war, erklärte ihm, es gebe ja noch eine andere deutsche Schule, die nicht im nationalsozialistischen Sinne ausgerichtet sei, ganz im Gegenteil. Dass sie etwas weiter von unserem Wohnort entfernt lag und nur mit einem öffentlichen Verkehrsmittel zu erreichen war, machte uns, nachdem wir seit zwei Monaten in der Stadt waren, nicht mehr so große Angst.

Dennoch war meine Mutter etwas nervös, als sie dem Direktor der Pestalozzi-Schule, Dr. Alfred Dang, wohl oder übel erklären musste, dass ich aus der Cangallo-Schule relegiert worden sei, und warum.

Dr. Dang aber war begeistert. „Großartig!“ rief er. „Solche Kinder brauchen wir, die sich kein Unrecht gefallen lassen!“ In welche Klasse ich kommen sollte? Allerdings war auch hier der Unterricht in den obersten Klassen vorwiegend spanisch. „Aber“, meinte der Direktor, „wenn er nicht in einer spanischsprechenden Klasse ist, wie soll er denn dann Spanisch lernen?“ Er sagte dann noch, ohne dass meine Mutter darum ersucht hätte: „Sie sind doch erst kurz im Land und sicher materiell nicht gut gestellt. Wir könnten das Schulgeld auf ein Viertel reduzieren. Was meinen Sie?“ Wir waren sprachlos. Das gab es also auch! Er sagte dann noch, Herrn Bunke, den er sehr hoch schätze, sei zu gratulieren, weil er sich da tapfer und anständig benommen habe. Und er hoffe, dass ihm aus seiner Handlungsweise keine Unannehmlichkeiten erwachsen würden.

So kam ich in die Pestalozzi-Schule. Und wieder war das etwas, was für mein ganzes Leben entscheidend sein würde. Die deutschen Lehrer waren selbst erst seit kurzer Zeit im Lande. Auch sie waren Hitlerflüchtlinge, aber sie waren verfolgt aus politischen, nicht aus „rassischen“ Gründen. Sie kamen alle von der Bewegung „Neue Schule“ her, und das war von Anfang an deutlich zu spüren. Vielleicht war das Bemerkenswerteste nicht, was man in dieser Schule lernte, sondern es waren der Geist und die Stimmung, die dort herrschten. Die Ordnung, ohne die es freilich nicht abgehen kann, war kein Zweck an sich, sondern ein Mittel zum Zweck. Die Schüler genossen so viel Freiheit, wie es nur irgend möglich war; und die Lehrer und Schulbehörden zeigten ihnen ein solches Maß an menschlichem Respekt, dass es einfach nicht unbemerkt bleiben konnte. Und auch nicht blieb! Solchen Respekt und solche Zuneigung, wie dort ihrerseits die Schüler den Lehrern erwiesen, habe ich an keiner anderen Schule jemals gesehen.

Im Unterschied zur Cangallo-Schule und auch den damaligen öffentlichen argentinischen waren Mädchen und Jungen in der gleichen Klasse. Was für die meisten ungewohnt war, aber dazu beitrug, dass sich ein natürliches Verhalten zwischen den Geschlechtern herausbildete.

Ganz ausgefallen und jenseits alles damals Vorstellbaren war, dass den Schülern der beiden obersten Klassen, also den mehr als zwölf Jahre alten, Sexualkundeunterricht erteilt wurde. Dazu allerdings waren, begreiflicherweise, Mädchen und Jungen getrennt. Uns Jungs erteilte diesen Unterricht Dr. Dang selbst, den Mädchen eine Lehrerin. Es hatte dabei immer eine zweite Lehrkraft anwesend zu sein. Der spanische Unterricht war weniger schematisch und aufs Repetieren und Auswendiglernen ausgerichtet als in der Cangallo-Schule. Unser argentinischer Lehrer, Herr Soldati, berücksichtigte die Sprachschwierigkeiten der Neuankömmlinge und half ihnen in jeder Weise.

Das Wichtigste aber war ohne jeden Zweifel der Unterricht in deutscher Sprache, und hier wiederum der, den Dr. August Siemsen in deutscher Literatur und in Geschichte erteilte. Er war der Sohn eines protestantischen Pfarrers und stammte aus Westfalen, hatte aber die letzten Jahre in Berlin verbracht, wo er, wie übrigens auch Alfred Dang, Reichstagsabgeordneter war. Er war für die SPD gewählt worden, aus der er aber 1931 austrat, weil er deren Zustimmung zur deutschen Flottenaufrüstung nicht tolerieren konnte. Dr. Dang hatte damals noch der SPD die Treue gehalten, ob- gleich er, wie ich weiß, mit Siemsen meist eines Sinnes war. Siemsen hatte damals mit zwölf anderen Abgeordneten die „Sozialistische Arbeiterpartei“ (SAP) gegründet. August Siemsen2 ging nach dem Krieg in die DDR, schloss sich aber nicht wie sein Sohn Pieter der SED an. (Ein Lebenswege-Interview mit Pieter Siemsen in der ila 150 vom November 1991)

Für mich war Siemsens Unterricht wie eine Offenbarung. Nicht dass ich erst durch ihn mit dem deutschen Humanismus in Kontakt gekommen wäre. Der war ja längst in der Familie meiner Mutter ein Bestandteil des Lebens und des Denkens gewesen. Mein Vater hatte sich die Beziehung zu ihm selbst erarbeitet, sah aber dann noch mehr als meine Mutter darauf, dass ich von frühester Kindheit an mit Goethe, Schiller, Lessing und Heine in Beziehung kam. Doch war es Siemsen, der dem ein System gab. Und er fügte hinzu, was auch meinem Vater unmittelbar nach dem, was wir erlebt hatten, nicht völlig klar sein konnte: dass nämlich nicht nur der deutsche Nationalsozialismus und Rassismus etwas ganz anderes war als Deutschland; sondern dass er seinem inneren Wesen nach undeutsch und anti-deutsch war!

Damit verbunden aber erfuhr ich durch Siemsen etwas, was ein echtes, tiefes Befreiungserlebnis war. Anders als der „politisch Verfolgte“ weiß ja der „rassisch Verfolgte“ nicht, warum ihm eine solche Behandlung zuteil wird. Er hält sich vielleicht selbst für ein Wesen, wenn nicht minderer, so doch grundsätzlich anderer Art als die „normalen“, soll heißen, die Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft. Nunmehr erfuhr ich – oder es wurde mir wieder bewusst! –, dass, was ich vor unserer Flucht erlitten hatte, nicht ein Unglück war, sondern vielmehr ein Unrecht! Und dass man sich also dagegen wehren kann! Und das gab mir das Bewusstsein meiner Menschenwürde zurück. Und dann war da der Geschichtsunterricht. Dass es die Masse der Menschen ist, die, mehr oder minder bewusst, aber immerhin auf Grund materieller Gegebenheiten, die Entwicklung der Völker und der Menschheit bestimmt, gab meiner eigenen Existenz zwar keinen „Glauben“, wohl aber einen emotionellen Rückhalt, der mich durch mein ganzes Leben begleitet hat. August Siemsen hat es in der Tat geschafft, uns im Laufe eines Schuljahres die wichtigsten Werke der deutschen Klassiker und Heinrich Heines kenntlich und verständlich zu machen, und dazu noch zu erklären, was deutsche Philosophen wie Kant, Hegel und Marx im wesentlichen gedacht und geschrieben hatten. Mehr nicht als das, aber auch nicht weniger als das. Meine politische Einordnung und konkrete, praktische Tätigkeit kam daher, dass offenbar keine der in der gegenwärtigen Welt existierenden Kräfte fähig, und keine auch echt willens war, sich dem Weltfeind, der mir und meinesgleichen ans Leben wollte, wirklich und aussichtsreich zu widersetzen: nicht das Christentum, nicht die bürgerliche, westliche Demokratie; und auch nicht das „bewusste Judentum“, der Zionismus, der damals gerade in die Breite zu wachsen begann und im Prinzip ja auch in Frage gekommen wäre; keine als nur der Kommunismus! Aber meine geistige Ausrichtung erhielt ich durch August Siemsen. Wobei ich da allerdings noch vieles zu lernen hatte und bis heute zu lernen habe. Sein Humanismus floss zusammen mit dem, was in meiner Familie stets gedacht worden war, und auch mit meinem Pfadfinder-Ideal. Das Wort Marxismus gebrauchte Siemsen uns gegenüber nie; doch dass es das war, begriff ich dann sehr bald.

  • 1. Erich Bunke (1903-1994) war seit 1928 Mitglied der KPD, ab 1933 im Untergrund. Als die Gestapo 1935 seine Frau Nadzieja vorlud, flohen beide aus Deutschland und kamen nach Argentinien. Erich Bunke war bis 1952 Präsident des „Vorwärts“. In den achtziger Jahren hatte Alfredo Bauer dieses Amt inne, nach ihm der anarchistische Publizist Osvaldo Bayer. (die Red.)
  • 2. In Argentinien hatte August Siemsen (1884-1958) 1935 die Organisation „Das Andere Deutschland“ (DAD) gegründet, die auch die gleichnamige Zeitschrift herausgab. Zunächst Sammelbecken aller AntifaschistInnen, verließen die Kommunisten 1939 das DAD, das eine, vor allem von Siemsen formulierte, unabhängige linkssozialistische Linie vertrat. (die Red.)