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Ein Experiment, das berührt

Alejandra Sánchez vermischt in ihrem neuesten Film Fiktion und Dokumentation

Seguir viviendo (2014) erzählt die Geschichte zweier Teenager, deren Mutter bei einem Attentat schwer verletzt wird. Die Teenager sollen zu ihrem Schutz von der Journalistin Martha nach Mexiko-Stadt gebracht werden. Die Reise über den Highway gibt Einblicke in die Gefühlswelt der Figuren, die alle drei ihr emotionales Päckchen zu tragen haben. Beim Frauenfilmfestival in Köln stand die Regisseurin Alejandra Sánchez Rede und Antwort über sich und ihre Arbeit.

Kassandra Kreß

Erzähl uns ein wenig, wie du dazu gekommen bist, Filme zu machen.

Zunächst habe ich Kommunikationswissenschaften an einer öffentlichen Universität in Mexiko studiert. Danach wollte ich mich auf den Bereich Kino konzentrieren, also habe ich mit Filmkunst weitergemacht. Die Filmschule habe ich mit dem Schwerpunkt Regie abgeschlossen. Ich beendete mein Studium 2006 und begann den Dokumentarfilm Bajo Juárez zu drehen.

Wie hat das mexikanische Publikum auf Bajo Juárez reagiert? (Anmerkung: auf Youtube mit dt. Untertiteln)

Es war eine sehr polemische Dokumentation, weil sie ein sehr komplexes Thema behandelt, nämlich die feminicidios, die Frauenmorde an der nördlichen Landesgrenze. Der Film wurde in Mexiko und in Teilen des Auslands sehr gut aufgenommen. Es ist eine Dokumentation, die leider noch aktuell ist und sein wird. Die Feminizide in diesem Teil des Landes gehen weiter. Umgekehrt kann das Material auch dazu dienen, die Komplexität dieses Phänomens besser zu verstehen.

Worin liegt für dich der Unterschied zwischen Bajo Juárez und deinem späteren Film Seguir viviendo? Das Thema der beiden Projekte ist ja ähnlich.

Zunächst mal gibt es natürlich einen Unterschied im Hinblick auf das Genre. Bajo Juárez ist eine reine Dokumentation, Seguir viviendo hingegen war ein filmisches Experiment, in dem ich die beiden Genres Spielfilm und Dokumentation kombiniere. Ich habe diese Form gewählt, weil ich mit Jade und Kaleb gearbeitet habe, denen die reale Geschichte passiert ist. Ich habe ihnen quasi ein fiktives Gerüst gebaut, damit sie einen Teil ihrer Geschichte erzählen können. Im Film gibt es immer wieder Zeugnisse ihrerseits, die die Fiktion durchbrechen, was ihnen die Gelegenheit gibt, in einem dramaturgisch kreierten Universum das zu erzählen, was wirklich passiert ist.

Wie hast du die Entscheidung getroffen, die beiden als SchauspielerInnen zu nehmen? Wolltest du ihrer Perspektive mehr Gewicht verleihen?

Ich wollte von meiner Erfahrung, die ich mit ihnen hatte, erzählen. Sie sind unter sehr schwierigen Umständen zu mir gekommen. Ihre Großmutter wurde Opfer eines Attentats, weil sie eine politische Aktivistin war. Die Erfahrung, die ich mit ihnen hatte, war sehr intensiv. Es ging darum zu verstehen, dass sie trotz der Tragödie, die auf ihren Schultern lastete, mit viel Energie und Leidenschaft glückliche Momente in ihrem Leben fanden.

Das war eine Sache, die ich gelernt habe. Man muss die Freude im Leben leidenschaftlich genießen, trotz des Kummers. Weil es das war, was ich erzählen wollte, habe ich entschieden, dass es mehr mit einem fiktiven Universum zu tun hat als mit einem dokumentarischen, mit einer Interpretation dessen, was ich in diesen zwei Monaten mit den Kindern erlebt habe. Die Entscheidung, dass sie in dem Film mitspielen würden, war eher zufällig. Ich habe ihnen erzählt, dass ich einen Film schreibe und dass er von ihnen inspiriert sei. Ich habe dann beschlossen, auszuprobieren, wie die beiden vor der Kamera funktionieren, und tatsächlich war das Resultat dieses Tages sehr gut. So habe ich entschieden, dass sie sich selbst im Film spielen würden.

Man kann sehen, dass die Gefühle eine große Rolle im Film spielen. Inwiefern spiegelt er auch deine eigenen Gefühle wider?

Ich denke, dass die drei Hauptcharaktere Martha, Jade und Kaleb alle ein bisschen von mir haben. Es ist unmöglich, dass sie es nicht haben, da ich mir sie vorgestellt und jede Szene geschrieben habe. Zum Beispiel ist das Schweigegelübde von Kaleb ein kreativer Vorschlag von mir. Es ist mehr Teil der Vorstellung als Kalebs eigenes Verhalten. Kaleb hat im wahren Leben nie ein solches Schweigegelübde gemacht. Es ist also eine Kombination zwischen dem, was sie sind, dem, was ich bin, und dem, was meine Phantasie erschaffen hat.

Wieso hast du dich dazu entschieden, die Figur Tito Vasconcelos in deinen Film einzubauen? Wolltest du etwas Bestimmtes damit vermitteln?

Diese Figur wurde absichtlich für ihn geschrieben, Tito existiert im wahren Leben. Er ist ein bedeutender Aktivist der LGBT-Gemeinschaft in Mexiko. Da dieser fiktive Film sehr von wahren Begebenheiten inspiriert war, entschied ich, dass er eine Figur sein würde, die sehr mit der Realität zusammenhängt. Ich habe viel Kontakt zu Menschen, die Kabarett in Mexiko machen. Nora ist eine Kabarettschauspielerin, sie macht seriöses Theater. Sie lebt davon, jeden Tag und jedes Wochenende auf der Bühne zu stehen. Wegen meiner Nähe zum Kabarett und der Intention, Sexualität immer als diverses und komplexes Feld zu begreifen, weiter als die konservative Ideologie es tut, habe ich entschieden, dass Martha eine solche Beziehung haben könnte, weil ihr komplexes Wesen es zulässt.

Was war deine Hauptmotivation, den Film zu drehen? War es eher die Absicht, die Gewalt und Straflosigkeit in Mexiko anzuprangern, oder eher, um deine persönlichen Erlebnisse mit den Jugendlichen aufzuarbeiten?

Eigentlich war es dieses Mal nicht meine Absicht, einen anklagenden Film zu machen. Ich glaube, die Anklage ist nur an zweiter Stelle im Film ausgedrückt, trotzdem gibt es sie durch das Leben der beiden Jugendlichen. Meine Herausforderung war eher, eine intime Geschichte zu konstruieren, die von schmerzhaften Traumata erzählt, die Verluste im Leben verursachen können. Der Verlust einer Mutter, eines Kindes, einer Großmutter. Ich wollte von Verlusten sprechen als geteilter Moment, einerseits des Schmerzes, aber auch als Moment der Konstruktion.

Es ist bekannt, dass die Lage für JournalistInnen in Mexiko gefährlich ist. Wie siehst du die Situation von FilmemacherInnen?

Es kommt darauf an, welche Filme du machst. Ich glaube, dass es im Moment sehr schwierig für mich wäre, einen Film wie Bajo Juárez zu machen. Gerade werden sehr viele JournalistInnen ermordet. Du machst dich verwundbar, wenn du Situationen anprangerst. Ich glaube, man muss sich vorsichtig bewegen, wenn man Material wie dieses nimmt. Das war bei Seguir viviendo nicht der Fall. Der Fokus des Films lag nicht darauf, Druck aufzubauen, so entstand auch nicht die Verletzlichkeit, die einige JournalistInnen haben.

Hast du Vorbilder unter den FilmemacherInnen?

Mir gefallen viele Filmarten, auch sehr unterschiedliche. Unter den zeitgenössischen Autoren mag ich besonders Todd Solondz, aber auch ältere Autoren wie Luis Buñuel, dessen Werke ich faszinierend finde. Aber mein Geschmack ist sehr vielfältig. Einige Filme von Lars von Trier gefallen mir, außerdem mag ich Akira Korosawa oder Almodóvar, also sehr bunt durchmischt.

Hast du schon Pläne oder Ideen für zukünftige Projekte?

Ich habe Lust, eine weitere Dokumentation zu machen, über junge Frauen, die schwere Verbrechen begangen haben. Einige sind mit dem organisierten Verbrechen verbunden, andere mit schweren familiären Verbrechen.

Das Interview führte Kassandra Kreß am 24. April 2016 in Köln.