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Chilenisches Jugendkino begeistert

Die lateinamerikanischen Filme auf der Berlinale 2016

Weniger lateinamerikanische Filme als sonst - vor allem weniger als im vergangenen Jahr - hatte das Programm der diesjährigen Berlinale zu bieten. Insgesamt 25 Produktionen, darunter 16 Lang- und acht Kurzfilme, waren in den verschiedenen Sektionen der 66. Internationalen Filmfestspiele in Berlin zu sehen - eigentlich eine gute Quote. Das Rennen um die begehrten Bären in der Hauptkategorie „Wettbewerb“ blieb bis auf die deutsch-französisch-mexikanische Koproduktion Soy Nero (Ich bin Nero, 2016) des britisch-iranischen Regisseurs Rafi Pitts jedoch ohne lateinamerikanische Beteiligung. Das ist enttäuschend, war es doch gerade der internationale Wettbewerb, in dem die chilenischen und argentinischen AutorenfilmerInnen, aber auch NewcomerInnen wie Jayro Bustamante aus Guatemala in den vergangenen Jahren so erfolgreich waren. In den Nebensektionen punkteten die chilenischen Filmschaffenden dafür umso mehr: Chile gewann mit seinen Filmen den Hauptpreis sowohl in der Kinder- als auch in der Jugendsektion.

Verena Schmöller

Auffällig gute Filme hielt die Sektion „Generation“ für die jungen ZuschauerInnen parat. Neben drei lateinamerikanischen Kurzfilmen zeigte das Kinderprogramm (Generation Kplus) den Spielfilm Rara (Chile/Argentinien 2016) von Pepa San Martín, die schon 2011 auf der Berlinale für ihren Kurzfilm La Ducha (Die Dusche, Chile 2010) mit dem DAAD-Kurzfilmpreis ausgezeichnet wurde. Rara gewährt einen „authentischen, sorgfältig konstruierten Einblick in das Leben einer Jugendlichen [...], die mit den alltäglichen Problemen des Erwachsenwerdens kämpft“ – dafür erhält er den vom Deutschen Kinderhilfswerk gestifteten und mit 7500 Euro dotierten Großen Preis der Internationalen Jury für den Besten Film.

Rara erzählt die Geschichte von Sara (beeindruckend gespielt von der 14-jährigen Julia Lübbert), die mit ihrer jüngeren Schwester Cata (Emilia Ossandón) im Haus von Mutter Paula (Mariana Loyola) und deren Lebensgefährtin Lía (Agustina Muñoz) lebt. Während Sara ihre eigenen pubertären Unsicherheiten erlebt, wird sie immer wieder mit ihrer familiären Situation konfrontiert: Die Lehrerin ihrer Schwester ruft an, nachdem diese ein Familienbild  von eben vier Frauen – gemalt hat; die Freundin fragt sie, ob sie auch einmal lesbisch werden würde; und irgendwie glaubt man ihr auch nicht, dass sie wie alle Mädchen für einen Jungen schwärmt. Und dann ist da noch Saras Vater (Daniel Muñoz), der geradezu darauf wartet, dass die Situation eskaliert, um seine Töchter endlich zu sich holen zu können. Selten fühlt sich ein Film so tief in die Befindlichkeiten einer 13-Jährigen ein; man fühlt und erlebt mit der Protagonistin, welche Unsicherheiten sie bedrücken, wann sie Scham empfindet, wann Wut, Enttäuschung, Unverständnis. San Martín fängt in ihrem Spielfilmdebüt mit großer Sensibilität die Emotionen der Figur ein und transportiert diese auf die Leinwand.

Im Kurzfilmprogramm der Reihe Generation Kplus wurden El inicio de Fabrizio (Fabrizios Initiation, Argentinien 2015) von Mariano Piasin, Neiwa (Mexiko 2015) von Javier Vázquez Cervantes und Abraham Cruz Herrera sowie der von der Internationalen Jury mit einer Lobenden Erwähnung prämierte Aurelia y Pedro (Mexiko 2016) von Omar Robles und José Permar gezeigt. Der ausgezeichnete Film dokumentiert das alltägliche Leben von Mutter und Sohn in einer abgelegenen Landschaft, und schafft es, „uns die Verbundenheit zwischen Mutter und Sohn zu zeigen und uns mit der Liebe, die sie verbindet, zu berühren“, so die Jurybegründung.

Auch im Jugendprogramm (Generation 14plus) konnte ein chilenischer Beitrag überzeugen. Las Plantas (Die Pflanzen, Chile 2015) von Roberto Doveris wurde gleich zwei Mal ausgezeichnet. Neben der Lobenden Erwähnung von der Jugendjury erhielt er den Großen Preis der Internationalen Jury für den Besten Film, der von der Bundeszentrale für Politische Bildung gestiftet wird und mit 700 Euro dotiert ist. Die Jury würdigte die „eindringliche und extrem filmische Art und Weise..., das sexuelle Erwachen einer jungen Frau wider die Zwänge ihres familiären Umfeldes  zu vermitteln“.

Der Film portraitiert in einem außergewöhnlichen Genremix von Sozialdrama, Thriller und Außenseitergeschichte die junge Florencia (brillant: Violeta Castillo), die sich, als die Mutter im Krankenhaus ist und sich die Haushälterin aus dem Staub macht, um ihren im Wachkoma liegenden Bruder kümmert. Ihre Einsamkeit und die Last der Verantwortung, die nun auf ihren Schultern liegt, kompensiert sie, indem sie in Comicwelten eintaucht und das Internet als Labor nutzt, um sich an ihre Sexualität heranzutasten. Diese Rückzugsorte, in die sich Florencia flüchtet, sind meist dunkel, viele Szenen spielen am Abend oder bei Nacht, sodass die farbliche Atmosphäre gut zur Befindlichkeit der Protagonistin passt.

Neben Kolumbien mit dem Kurzfilm El Edén (2016) von Andrés Ramírez Pulido war auch Peru im Programm Generation 14plus vertreten: Der Spielfilm El Soñador (Der Träumer, Peru/Frankreich 2016) von Adrián Saba zeigt, wie auch Las Plantas, einen einsamen jungen Menschen, der sich in andere Welten flüchtet. Bei Sebastián (Gustavo Borjas) sind dies seine (Tag-)Träume, die ganz unvermittelt in das dargestellte Geschehen eingeflochten sind, sodass nicht nur dem Protagonisten, sondern auch den ZuschauerInnen die Grenze zwischen Traum und Realität bisweilen fließend erscheint. Gleichzeitig gibt der Film Einblick in das kleinkriminelle Milieu Limas.

Der Wettbewerbsbeitrag aus Deutschland, Frankreich und Mexiko, Soy Nero von Rafi Pitts, erhielt weder Lorbeeren noch besonderes Kritikerlob; der Film über die so genannten Greencardsoldaten enttäuschte eher. Ob er als lateinamerikanischer Film bezeichnet werden kann, lässt sich diskutieren; aber er thematisiert neben dem Koproduktionsland Mexiko zumindest ein wichtiges lateinamerikanisches Problem. Denn Soy Nero hat zunächst die US-mexikanische Grenze im Fokus. Nero (Johnny Ortiz) versucht zum wiederholten Mal, von Mexiko über die Grenze in die USA zu gelangen. Man merkt ihm die Routine an, beim Grenzübertritt ebenso wie im Interview mit Polizisten der Border Patrol, die ihn gefangen nehmen und in den Bus zurück nach Mexiko setzen. Eines Tages gelingt es ihm schließlich, unerkannt Los Angeles zu erreichen und seinen Bruder Jesús (Ian Casselberry) zu finden. Doch dieser hat ein weniger glanzvolles Leben, als er zunächst vorspielt. Da Nero in den Hügeln von Beverly Hills keine Zukunft für sich sieht, verlässt er L.A. und meldet sich bei der US-Army. Der Fokus schwenkt in ein Niemandsland im Mittleren Osten. Nero kämpft fortan nicht nur für die USA gegen den Terrorismus, sondern für seine eigene Staatsbürgerschaft. Denn absolviert er seinen Dienst als US-Soldat, erhält er die US-amerikanische Nationalität.

Der Film nimmt sich eines wichtigen Themas an und ist beeindruckend im Detail: Wenn die Kamera die Volleyballspieler am Strand zwischen Mexiko und den USA und den Grenzzaun als Quasinetz ins Visier nimmt, sind das Bilder, die man nicht vergisst. Gleichzeitig macht Soy Nero einmal mehr deutlich, wie unüberwindbar und gleichzeitig alltäglich die Grenze zwischen den Amerikas ist.
Der Film aber hat vor allem dramaturgische Schwächen. Er hangelt sich von einer Episode zur nächsten, jede erscheint zunächst für sich bedeutsam, ist unterhaltsam und lehrreich (etwa die Autofahrt mit dem irren Vater und der als Biene verkleideten Tochter), aber sie dienen keinem plausiblen übergeordneten Ziel, und schon nach kurzer Zeit fragt man sich, warum man das nun eben gesehen hat. Soy Nero stimmt nachdenklich, zeigt er doch den langen Kampf für das große Ziel des Protagonisten: US-Bürger werden. Dieser Kampf aber plätschert so dahin, dass man eher die Lust am Zuschauen verliert, als sich über großartige Erkenntnisse oder gute Unterhaltung zu freuen.

Die meisten und schönsten lateinamerikanischen Filme zeigte in diesem Jahr die Sektion „Panorama“; je zwei Filme aus Argentinien, Brasilien und Chile nahmen die ZuschauerInnen mit auf ganz unterschiedliche Reisen.

Daniel Burmans El Rey del Once (Der König von Once, Argentinien 2016) führt den Regisseur zurück zu seinen Wurzeln, der Beschäftigung mit der jüdischen Community in Buenos Aires und deren Traditionen. Nicht nur die Namensgebung des Protagonisten erinnert an Burmans Berlinale-Erfolg von 2004, El Abrazo Partido (Die geteilte Umarmung): Ähnlich wie Ariel Makaroff in El Abrazo Partido stellt sich auch Ariel (Alan Sabbagh) in El Rey del Once  seinen familiären Wurzeln und den Problemen mit seinem Vater Usher (Usher Barilka). Der hat im Once, dem jüdischen Viertel im Stadtteil Balvanera in Buenos Aires, eine gemeinnützige Stiftung gegründet und ist der Held des Viertels, für seinen Sohn aber war er nie da. Das ärgert Ariel, doch nach und nach taucht er in die jüdischen Gepflogenheiten ein, verliebt sich auch ein wenig und überdenkt sein bisheriges Leben. Die Geschichte ist humorvoll erzählt, skurril und herzerwärmend zugleich. Wieder einmal macht ein Film von Daniel Burman vor allem Spaß!

Auch La Helada Negra (Der schwarze Frost, Argentinien 2016) von Maximiliano Schonfeld überzeugt in seiner Eigenartigkeit. Der Film erzählt vom Wunder in der argentinischen Pampa, und das auf ebenso erstaunliche Weise, wie es die Taten seiner Protagonistin sind. Im Zentrum steht die junge Alejandra (Ailín Salas): Sie taucht plötzlich auf einem Bauernhof auf, dessen Felder vom „schwarzen Frost“ befallen sind. Mit Alejandras Ankunft verschwindet der Pflanzenbefall ebenso wie die Krankheit, welche die Kühe des Nachbarhofes erfasst hat, oder die Wut, die Hofhelfer Lucas (Lucas Schell) immer wieder übermannt. Schnell wird die junge Frau wie eine Heilige verehrt, was das Archaische der Gemeinschaft unterstreicht. Daneben wird aber auch deutlich, wie die traditionellen Strukturen durch das Auftauchen der Fremden aufgebrochen werden. Filmisch wird die Geschichte auf überzeugende Weise übermittelt, weil die Kamera nicht nur die weitläufige Landschaft in ihrer Abgeschiedenheit, die Wälder in ihrer Mystik und die Figuren in ihrer Vereinsamung darstellt, sondern auch die Reaktionen von Figuren und Natur auf Alejandra klar markiert.

Aus Brasilien zeigte das Panorama zwei sehr unterschiedliche Filme: Quasi über Nacht verändert sich das Leben der Hauptfigur in Mãe só há uma (Es gibt nur eine Mutter, Brasilien 2016), dem neuen Film von Anna Muylaert: Der 17-jährige Pierre (Naomi Nero) erfährt, dass seine Mutter Aracy (Daniela Nefussi) ihn vor 17 Jahren aus einem Neugeborenenbett gestohlen hat, und muss zusehen, wie die Frau, bei der er aufgewachsen ist, verhaftet wird. Fast zeitgleich stehen seine leiblichen Eltern auf der Türschwelle und können es gar nicht erwarten, den lange vermissten und gesuchten Sohn in die Arme und mit nach Hause zu nehmen. Sie nennen ihn Felipe und tun alles, um den verlorenen Sohn für sich zu gewinnen. Wieder erzählt Anna Muylaert, die mit Que horas ela volta? („Der Sommer mit Mama“ – s. Artikel in der ila 383) im vergangenen Jahr den Panorama-Publikumspreis gewonnen hat, eine Mutter-Kind-Geschichte, wieder geht es darum, dass die Beziehung nach langer Abwesenheit neu justiert werden muss. Allerdings geht Mãe só há uma aus der Sicht des jungen Pierre und als Drama inszeniert im Gegensatz zum Vorjahreserfolg eher weniger auf.
Antes o tempo não acabava (Früher endete die Zeit nie, Brasilien/Deutschland 2016) von Sérgio Andrade und Fábio Baldo wiederum erzählt eine ganz andere Geschichte: An der Peripherie angesiedelt, portraitiert der Film brasilianische Indigene, die den Weg in die Städte und in die „Zivilisation“ wagen - weg von ihrer Kultur, ihren Traditionen, ihrer Gruppenstruktur. Anderson (Anderson Tikuna) wird zum Wanderer zwischen zwei Welten: Die Initiationsriten hat er noch in schmerzhafter Erinnerung, doch scheinen sie bei ihm nicht so recht gewirkt zu haben. Er hat weder Frau noch Kinder, lebt aber mit seiner Schwester und deren kranker Tochter zusammen. Er hat ein Handy, arbeitet in einer Fabrik, wechselt dann in einen Friseurladen und verdient sein Geld mit Haareschneiden. Als seine Nichte geopfert werden soll, verliert er völlig den Glauben an die „alte Welt“ und lässt sie voller Schmerz hinter sich. Doch das Neue, das kommt, ist nicht unbedingt besser. Und der Schamane bereitet ein weiteres Ritual vor, um Anderson zu retten. Der Film zeigt in tollen Bildern die Zerrissenheit der Figur, aber auch einer indigenen Kultur, die es immer schwerer hat, sich im Heute zu behaupten. Man wird regelrecht hineingesogen in die Problematik, auch wenn am Ende viele Fragen offen bleiben.

Aus Chile wurden den ZuschauerInnen zwei Filme des jungen chilenischen Autorenkinos präsentiert. In Aquí no ha pasado nada (Hier ist nichts passiert, Chile/USA/Frankreich 2015) von Alejandro Fernández Almendras lernt der junge Vicente (Agustín Silva) an einem Nachmittag zwei Mädchen kennen, die ihn kurzerhand mit auf die Party ihres Cousins Manuel Larrea (Samuel Landea) nehmen. Vicente verbringt eine kurzweilige Nacht im Kreis der neuen Freunde, doch kurz bevor sie die nächste Party aufsuchen wollen, überfahren sie mit ihrem Auto einen Spaziergänger. Der Unfall, den Vicente gar nicht wirklich mitbekommen hat, wird für ihn zum Verhängnis, denn Manuel, Sohn des einflussreichen Politikers Larrea, und dessen Freunde lasten Vicente die Tat an. Dieser reagiert zunächst sehr naiv und gutgläubig, sagt, ohne viel nachzudenken, was ihm im Moment richtig erscheint, und reitet sich doch immer tiefer in den Fall hinein. Seine Mutter (gespielt von Paulina García, die vor zwei Jahren in Berlin den Silbernen Bären für ihre Rolle in Gloria von Sebastián Lelio erhielt) und sein Onkel (Alejandro Goic), ein Anwalt, wollen ihm helfen, doch die Schlinge zieht sich immer weiter zu. Die Geschichte von Fernández Almendras basiert auf einer realen Begebenheit, die hohe Wellen in den sozialen Medien geschlagen hat. Das macht der Film am Ende ebenfalls deutlich. Wohl auch deshalb konnte Aquí no ha pasado nada als Crowdfundingprojekt realisiert werden.

Auch Nunca vas a estar solo (Du wirst nie alleine sein, Chile 2016), der Debütfilm von Alex Anwandter, ist inspiriert von einer wahren Geschichte, dem Fall um den Homosexuellen Daniel Zamudio, den Anwandter persönlich kannte und der im März 2012 von Neonazis auf offener Straße zu Tode geprügelt wurde. Ähnlich ergeht es der Hauptfigur in Nunca vas a estar solo, dem 18-jährigen Pablo (Andrew Bargsted). Er tanzt seit Jahren Ballett, verkleidet sich gerne als Frau und verliebt sich in einen Nachbarsjungen. Die anderen Nachbarn finden ihn seltsam. Der ältere Martín provoziert ihn immer wieder, bis es an einem Nachmittag zur verhängnisvollen Prügelei kommt. Die Jugendlichen finden sichtlich Gefallen daran, Pablo zu hänseln, dann zu schlagen und regelrecht hinzurichten. Nur knapp entkommt der Junge dem Tod, liegt jedoch mit schweren Verletzungen auf der Intensivstation und wacht aus dem Koma einfach nicht auf, sein schönes Gesicht entstellt von den Wunden.

Pablos Vater Juan (überzeugend gespielt von Sergio Hernández) hat sich nun um die Folgen des Vorfalls zu kümmern: Die Operationen sind teuer, die Krankenversicherung greift nicht, in der Nachbarschaft wird er gemieden, gar für schuldig erklärt schließlich musste nun jemand anderes und auf so grausame Weise dafür sorgen, dass aus seinem Sohn ein richtiger Mann werden würde. Als er auch noch von seinem Geschäftspartner übers Ohr gehauen wird, läuft für den sonst so stillen und in sich gekehrten Juan das Fass über und er sinnt auf Rache. Der Film ist eine minutiöse Studie über die unbeschreibliche Trauer, die sich allmählich zu Hass und Rachgier wandelt. Natürlich ist es auch ein Film über Außenseiter, Homosexuelle, über Menschenwürde und Tabuthemen. Dafür wurde er bei den queeren Teddy Awards mit dem Special Jury Award beehrt. Aber interessanter ist doch das, was ein Überfall wie dieser aus den Menschen macht, die zurückbleiben oder am Krankenbett wachen.

Chile knüpft mit diesem Special Jury Award der Teddy Awards sowie den beiden Hauptpreisen im Generationen-Programm nahtlos an seine Berlin-Erfolge an und befindet sich weiter auf dem filmischen Höhenflug: Das kleine Filmland war lange Zeit in der Versenkung verschwunden, denn unter Pinochet wurden nur wenige Filme produziert, und die Filmindustrie musste nach dem Übergang von der Diktatur in die Demokratie erst rehabilitiert werden. Mittlerweile ist das junge chilenische Autorenkino auf den Festivals der Welt bekannt und begehrt, und nun hat der animierte Kurzfilm Historia de un Oso (Geschichte eines Bären, Chile 2014) von Gabriel Osorio auch noch bei den Oscars die Statue für den besten Kurzfilm erhalten, der erste Oscar für Chile überhaupt!

Im Dokumentarfilmbereich der Sektion („Panorama Dokumente“) stach die Dokumentation Curumim (Brasilien 2016) von Marcos Prado über Marco Archer Cardoso Moreiro hervor. Marco „Curumim“ Archer machte sich in Brasilien als Gleitschirmflieger und dann vor allem als Drogendealer einen Namen. Er arbeitete mit dem berüchtigten Medellín-Kartell zusammen und wurde einer der wichtigsten Drahtzieher auf Bali, bis er 2003 festgenommen und zum Tode verurteilt wurde. Elf Jahre wartete er auf den Vollzug der Strafe, bevor er am 17. Januar 2015 in Indonesien hingerichtet wurde. Den Alltag des Wartens und Bangens, aber auch des Hoffens auf Freilassung dokumentierte Marco mit einer versteckten Kamera; diese Bilder prägen Curumim und zeigen, wie Marco unermüdlich gegen die Angst ankämpft, Unterhaltung bieten, sein Leben genießen will. Auch Weggefährten kommen zu Wort, zeichnen Marcos Weg nach und reflektieren über ihr eigenes Tun. Der Film gibt einen eindrucksvollen Einblick in das Leben von Marco, aber auch in den Gefangenenalltag in Indonesien und das Drogengeschäft.

Das Programm „NATIVe“ zeigte die kolumbianisch-venezolanische Koproduktion El abrazo de la serpiente („Der Schamane und die Schlange“, Kolumbien/Venezuela 2015), während das „Internationale Forum“, eine der wichtigsten Nebensektionen des Festivals, in diesem Jahr vor allem mexikanische Produktionen bot: Maquinaria Panamericana (Mexiko/Polen 2016) von Joaquín del Paso, Tales of Two Who Dreamt (Geschichten von zwei, die träumten, Kanada/Mexiko 2016) von Andrea Bussmann und Nicolás Pereda sowie Tempestad (Sturm, Mexiko 2016) von Tatiana Hueso.

In der Erweiterung der Sektion („Forum Expanded“) fand sich außerdem der mittellange Film Muito Romântico (Sehr romantisch, Deutschland/Brasilien 2016) von Melissa Dullius und Gustavo Jahn sowie der Kurzfilm Ruína (Ruine, Brasilien 2016) von Gabraz Sanna. Noch mehr Kurzfilme gab im Berlinale Shorts Programm zu sehen: Das águas que passam (Vorbeifließende Wasser, Brasilien 2015) von Diego Zon, El buzo (Der Taucher, Mexiko 2015) von Esteban Arrangoiz und Los murmullos (Gemurmel, Mexiko 1976) von Rubén Gámez.

Die lateinamerikanischen Filme auf der diesjährigen Berlinale waren gut, eine richtige Entdeckung allerdings fehlte in diesem Jahr. Schöne Filme, gute Geschichten, tolle Perspektiven, als Schulnote jedoch eher im Zweier- als im Einserbereich. Wohl auch deshalb hatte es kein Film eines lateinamerikanischen Regisseurs in den Wettbewerb geschafft. Nichtsdestotrotz: Man konnte lernen und lachen, mitfühlen und gesellschaftlichen Strömungen nachspüren und dafür sind Filme und Festivals ja da.