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Unerhört und unentschädigt

Die Kampagne „Wir sind 2074 und viele mehr“ zu Zwangssterilisierungen in Peru

Die Uhr tickt. Im Februar muss die Staatsanwaltschaft in Peru entscheiden, ob sie doch noch Anklage wegen Zwangssterilisierungen von bis zu 300 000 indigenen Frauen und nicht wenigen Männern während der Diktatur Alberto Fujimoris (1990-2000) erhebt. Kurz darauf stehen im April Präsidentschaftswahlen an. Unter den aussichtsreichen KandidatInnen ist niemand erkennbar, der oder die, einmal im Amt, das Thema nicht sogleich wieder unter den Teppich kehren wollte. Letzten November hat nun eine Gruppe von MenschenrechtsaktivistInnen die Kampagne „Wir sind 2074 und viele mehr“ zu dem heiklen Thema lanciert. Was es damit auf sich hat und was jetzt international geschehen muss, erklären die beiden Kampagnenmitglieder Raquel Reynoso und Jessenia Casani Castillo im Interview mit Gaby Küppers.

Gaby Küppers

Es sah viele Jahre lang so aus, als würden die unter der Regierung Fujimori angeordneten Zwangssterilisierungen straflos bleiben und irgendwann von der Tagesordnung verschwinden. Der derzeitige Präsident Ollanta Humala hatte vor seinem Amtsantritt versprochen, sich um das Thema zu kümmern. Doch erst letzten November, acht Monate vor Ende seiner Präsidentschaft, unterschrieb er ein Dekret, das mit der Schaffung eines Opferregisters eine juristische Aufarbeitung überhaupt erst ermöglicht. Könnt ihr uns auf den aktuellen Stand bringen?

Raquel Reynosa: Bei der Aufarbeitung dieser Verbrechen geht es um drei Aspekte: Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung. Wahrheit, weil das Thema lange Zeit absichtlich unsichtbar gehalten wurde, als gäbe es das Problem überhaupt nicht oder als ginge es lediglich um Einzelfälle. Selbst kritische Veröffentlichungen oder der Fall von Mamérita Mestanza haben den Staat nicht zur Anerkennung seiner Schuld und einer umfassenden Aufarbeitung bewegt. Mamérita starb 1998 an den Folgen ihrer Zwangssterilisierung. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) nahm sich des Falles an und forderte Peru 2003 auf, die Familienangehörigen Maméritas zu entschädigen. Das tat der Staat, ignorierte aber gleichzeitig die zweite Empfehlung der CIDH, nämlich die einer allgemeinen Schuldanerkennung und Wahrheit, Gerechtigkeit und Reparation für alle Opfer.
Seither hat die Staatsanwaltschaft die Akten mit Klagen Betroffener mehrmals „mangels Beweise“ geschlossen, bevor im letzten Jahr eine neue Staatsanwältin, Marcelita Gutiérrez Vallejo, den Fall der bislang registrierten 2074 Zwangssterilisierungen neu aufrollte. Ob es nun tatsächlich zu einem Verfahren gegen Alberto Fujimori und seine verantwortlichen Minister kommt, werden wir nach dem 9. Februar 2016 wissen, wenn die Beweisaufnahme abgeschlossen und die entsprechende Entscheidung gefallen ist. Dafür müssen 200 Bände mit Klagen und Indizien durchgearbeitet werden.
Dass es zudem 18 Jahre nach den fürchterlichen Vorfällen im November 2015 zu einem Dekret über ein zu erstellendes Opferregister kam, ist internationalem Druck, Unterschriftenkampagnen wie der von amnesty international und Menschenrechtsgrupppen wie Demus, Aprodeh, Cladem oder Cejil zu verdanken. In der GREF, der Gruppe zur Entschädigung der Opfer der Zwangssterilisierungen, unterstützen wir lokale Opfergruppen, die schon jahrelang kämpfen. Wir sind überzeugt, dass es unendlich viel mehr als die offiziell anerkannten 2074 Opfer gibt, nämlich mehr als 300 000, die weitaus meisten davon Frauen.

Für die GREF bedeutet Zwangssterilisierung, dass Betroffene überhaupt nicht oder unzureichend über den Eingriff informiert wurden. Genau dies war Praxis und Absicht im Rahmen des „Regierungsprogramms über reproduktive Gesundheit und Familienplanung“ (1996-2000).
Für eine umfassende Beweisaufnahme müssen nicht nur die Sterilisierten, sondern auch die ausführenden ÄrztInnen und Krankenschwestern befragt werden. Einige davon haben sich erst in letzter Zeit getraut auszusagen, dass die Sterilisierungen politisch angeordnet wurden, so in Piura. Auch Krankenakten müssen hinzugezogen werden, was wohl vielfach nicht geschieht.
Die Zeit drängt. Nicht nur wegen des Termins der Staatsanwaltschaft. Wir fragen uns auch, was geschieht, wenn Keiko Fujimori, deren Vater als Präsident die Zwangssterilisierungen zu verantworten hatte, im Juli die Präsidentschaft anträte. 

Jessenia Casani Castillo: Genau deswegen haben wir als GREF ab April letzten Jahres eine Kampagne unter dem Slogan „Wir sind 2074 und viele mehr“1 entwickelt und im November lanciert. Es mag sein, dass im Ausland mehr Menschen von den Zwangssterilisierungen Kenntnis haben, aber hier in Peru wissen viele nicht, was passiert ist. Das hat einen Grund: Die Zwangssterilisierungen geschahen in den abgelegenen, sehr armen Gebieten, in denen Quechua gesprochen wurde. Die peruanische Gesellschaft hat davon nie erfahren. Wer weiß schon, dass viele sterilisierte Frauen verstoßen wurden oder verachtet werden, weil sie nicht mehr Mutter werden können, dass sie täglich Gewalt  erfahren? Dass sie  mit dem Vorwurf leben, die Sterilisierung gewollt zu haben, um unbemerkt mit anderen Männern zusammen sein zu können, obwohl sie inWirklichkeit der Operation nicht entkommen konnten und heute noch Schmerzen haben?

Unsere Kampagne läuft inzwischen in vielen Landesteilen, auch nach den Wahlen. Entscheidend sind aber die nächsten Monate. KünstlerInnen sind dabei, es soll Wanderausstellungen geben. Aber dazu brauchen wir natürlich Geld. Die größte Herausforderung ist nach wie vor die dritte der genannten Forderungen: Entschädigungen.

Raquel Reynosa: Mit dem Gesetz über die Opferregistrierung wurde ein wichtiger Schritt getan. Jedoch gibt es kein zusätzliches Geld, die Registrierung der KlägerInnen im Justizministerium soll mit vorhandenen Mitteln finanziert werden. Und für alles weitere gibt es schon gar kein Geld.

Im Dezember haben wir hier in Lima ein Treffen organisiert, damit sich Opfergruppen landauf, landab vernetzen und ins öffentliche Bewusstsein bringen, dass  es um ein wirkliches Verbrechen an den Frauen geht. Eingeladen waren auch Ministerialbeamte. Durch sie erfuhren wir, dass bislang nur Pilotprojekte exisieren,  dass betroffene Frauen sich nicht in ihren oft  entlegenen Gemeinden in den Anden, sondern nur in den Ministerialbüros in Provinzhauptstädten registrieren lassen können. Sie müssen also auf eigene Kosten dorthin, um ihr  Recht zu beanspruchen. Das ist doch unerhört! Dazu sprechen nicht alle Ministerialbeamte Quechua. Wer garantiert, dass die Würde der Frauen nicht neuerlich verletzt wird? Und wer informiert die Frauen überhaupt darüber, dass sie Klage erheben können? Unsere begrenzten Kräfte reichen dafür bei weitem nicht aus.

Zu einer Wiedergutmachung gehört als Voraussetzung, dass die Frauen über ihre Rechte informiert werden. Sie haben schließlich schon so viel gelitten! Viele können seit der Operation ihre vorherigen Arbeiten in den Gemeinden und Familien, wie auf den gemeinsamen Feldern, Weben und Kochen nicht mehr ausüben, weil sie ständig Schmerzen im Unterleib haben. Damit haben sie einen Anspruch auf wirtschaftliche Entschädigung, auf Umschulung, auf Einkommensprogramme und auf eine ärztliche Behandlung.Aber es stehen nur die normalen Notaufnahmen für Frauen bereit. Die sind mit den alltäglichen Gewaltfällen schon überlastet.

Das Gesetz vom November greift zu kurz. Es besagt nur, dass die Registrierung Frauen berechtigt, gerichtlich Klage gegen den Staat zu erheben und  dafür staatliche Unterstützung zu erhalten, übrigens  ein gewisser Widerspruch in sich. Zudem werden die Verfahren viele Jahre dauern. Eine materielle Wiedergutmachung - damit meine ich nicht einen unpersönlichen Scheck - ist nicht vorgesehen.

Jessenia Casani Castillo: Für die Opfer staatlicher Politik muss es dringend eine Politik für integrale Wiedergutmachung geben. Dazu gehört ganz wesentlich auch die Anerkennung jeder betroffenen Frau gegenüber, dass der Staat und nicht sie die Schuldige ist. Der Staat muss sich entschuldigen. Aber davon sind wir weit entfernt. Ein Gesetz ohne Mittel und politische Strategie hat vor allem Alibifunktion.

  • 1. siehe Facebook Somos 2074 y muchas más

Jessenia Casani Castillo gehört der Frauenrechtsgruppe Demus an. Raquel Reynoso ist Mitarbeiterin von SER (Servicios Educativos Rurales).