Ich lebe gerne hier
In den dreißiger Jahren mussten nicht nur Erwachsene aus Nazideutschland fliehen. Auch viele Kinder wurden aus ihrem gewohnten Umfeld herausgerissen, oft ohne zu verstehen, warum sie weg mussten. Manfred Eisner war fünf Jahre alt, als er Deutschland verließ. Sein Vater, der Dirigent und Komponist Erich Eisner, war in den zwanziger Jahren als Kapellmeister an mehreren Orchestern in Deutschland und Österreich tätig. Nachdem er 1933 Berufsverbot für öffentliche Bühnen bekam – Juden durften keine „arischen“ Musiker mehr dirigieren –, leitete er bis zu dessen Auflösung das Orchester des Jüdischen Kulturbundes in München. Mit viel Glück kam die Familie Eisner 1940 nach Bolivien, wo Erich Eisner bald eine herausragende Stellung in der Musikwelt einnahm (siehe Kasten). Sein Sohn Manfred wuchs in Bolivien auf, ging dort zu Schule und zog später zum Studium nach Uruguay. 1958 kam er in die Bundesrepublik bzw. nach Westberlin. Heute lebt der 80-Jährige in Schleswig-Holstein, wo ihn Gert Eisenbürger im November getroffen hat.
Herr Eisner, Sie kamen 1940 als Kind nach Bolivien. Ihre Flucht aus Nazideutschland gestaltete sich sehr schwierig. Können Sie darüber etwas erzählen?
Mein Vater war im November 1938 verhaftet und nach Dachau gebracht worden. Als er sechs Wochen später glücklicherweise freikam, emigrierte er sofort nach England. Meine Mutter und ich hatten auch ein englisches Visum, aber die Mutter meines Vaters nicht. Sie war schon etwas älter und hatte deswegen wenig Chancen auf eine Aufenthaltserlaubnis in England. Meine Eltern bemühten sich nach der Flucht meines Vaters aber weiter um ein Visum für sie. Unterdessen wurde es in Deutschland immer brenzliger, und eines Tages sagte meine Oma, wir müssten raus, wir sollten ohne sie reisen.
Am 30. August 1939 setzten wir uns in München in den Zug, um nach Holland zu fahren und von dort die Fähre nach England zu nehmen. Aber leider brach am 1. September der Krieg aus, ab 4.45 Uhr wurde zurückgeschossen, wie Hitler behauptete. Wir hatten das auf der Fahrt zunächst nicht mitbekommen, erfuhren es erst, als der Zug an der niederländischen Grenze hielt und durchgesagt wurde, die Fahrt würde dort enden. An der Grenze war alles voll von Militär und Polizei. Man teilte uns mit, unser Visum für England hätte durch den Krieg seine Gültigkeit verloren und damit wäre auch das Transitvisum für Holland verfallen. Wir fuhren noch in der gleichen Nacht zurück nach München.
Wir hatten sehr gute Freunde, die 1937/38 nach Bolivien ausgewandert waren. Mein Nennonkel Semi hatte sich dort eine Farm gekauft. Bolivien vergab damals noch Visa an Einwanderer, die in der Landwirtschaft arbeiten wollten – für Juden eine der wenigen Möglichkeiten, noch aus Deutschland herauszukommen. Er hat es dann organisiert, dass wir so ein Visum bekamen. Mein Vater fuhr von Southampton mit dem Schiff nach Buenos Aires und reiste weiter nach Bolivien. Unterdessen buchte meine Mutter eine Schiffspassage von Genua nach Chile, um von dort nach Bolivien zu kommen. Als sie die Tickets in Hamburg in Empfang nehmen wollte, sagte man ihr beim Reisebüro des Lloyd Triestino, die seien schon abgeholt. Da hatte irgendjemand die Leute von der Schifffahrtslinie bestochen und sich die Passagen angeeignet. Das Schicksal wollte es so, denn das Schiff, mit dem wir reisen sollten, war die Orazio, die wenige Tage nach dem Auslaufen vor der Französischen Küste vollständig ausbrannte. Dabei wurden viele Passagiere getötet.
Mit sehr viel Glück bekamen wir schließlich noch Tickets für die Conte Biancamano, die im April von Genua aus in Richtung Chile aufbrach. Das war tatsächlich das letzte Schiff, das noch mit Flüchtlingen rüberfuhr. Wir gingen im nordchilenischen Hafen Arica von Bord und fuhren von dort mit dem Zug nach La Paz.
Wo haben Sie nach Ihrer Ankunft in Bolivien gelebt?
Zunächst wohnten wir zusammen mit anderen Emigranten in einem Haus, das mein Nennonkel gemietet und den ankommenden Flüchtlingen aus Deutschland und Österreich zur Verfügung gestellt hatte.
Mein Vater war Kapellmeister. Für einen solchen Beruf gab es 1940 in La Paz keinen Bedarf. Er baute aber Kontakte zur kleinen künstlerisch-intellektuellen Elite Boliviens auf. Diese Bekannten vermittelten ihm eine Dozentenstelle an der Escuela Nacional de Maestros, der pädagogischen Hochschule in Sucre, um in der Ausbildung von Musiklehrern zu arbeiten. So zogen wir von La Paz in das klimatisch angenehmere Sucre. (La Paz liegt auf einer Höhe von 3300 bis 3800 Meter, während Sucre etwa tausend Meter tiefer liegt. – G.E.)
Neben seiner Lehrtätigkeit gründete mein Vater in Sucre einen großen Chor aus Dozenten und Studierenden, der schnell in Bolivien bekannt wurde und mit dem er durch das ganze Land tourte, wie man heute sagt.
Sie waren bei Ihrer Ankunft fünf Jahre alt, wurden also in Bolivien eingeschult. Auf welche Schule sind Sie dort gegangen?
In La Paz kam ich zuerst in einen Kindergarten. Dort sollte ich auch in die Schule. Mein Spanisch war aber noch nicht gut genug. Eingeschult wurde ich dann nach unserem Umzug in einer öffentlichen Grundschule in Sucre. Anfangs fiel mir das Lernen schwer, weil ich vieles nicht verstand. Daraufhin gab mir die Lehrerin etwas Nachhilfeunterricht und so konnte ich dem Stoff bald folgen.
Nach einigen Jahren in Sucre bekam mein Vater das Angebot, in La Paz ein nationales Symphonieorchester aufzubauen und so zogen wir nach dem Ende meines zweiten Schuljahres wieder nach La Paz. Dort kam ich in die Escuela Boliviano Israelita, die jüdische Grundschule, die ich bis zum Ende – in Bolivien nach der sechsten Klasse – besuchte. Danach wechselte ich aufs Gymnasium, zuerst war ich auf dem Colegio Nacional Bolívar und ab dem zweiten Jahr auf dem American Institute, wo ich bis zum Abitur blieb.
Ich vermute, Sie bewegten sich wie viele Kinder von MigrantInnen in mehreren Sprachwelten?
Zwangsweise. Zu Hause war es Pflicht, Deutsch zu sprechen, obwohl ich ab einem gewissen Zeitpunkt lieber Spanisch gesprochen hätte. Deutsch fand ich damals furchtbar. Für ein spanischsprechendes Kind war es total unlogisch. Ich habe natürlich alles verstanden, weil ich es von klein an gehört hatte, aber Deutsch zu sprechen hasste ich. Ich machte viele Fehler und wurde entsprechend von meinen Eltern ständig korrigiert, was meine Liebe zur deutschen Sprache nicht gerade förderte. Aber dadurch, dass ich zunächst zweisprachig und dann ab der Zeit im American Institute sogar dreisprachig aufwuchs, hatte ich natürlich einen Riesenvorteil. Doch damals war mir das noch nicht klar.
Konnten Sie in allen drei Sprachen auch lesen und schreiben?
Nein, im Deutschen nicht. Lesen ein bisschen, aber da hatte ich schon große Probleme mit diesen anderen Buchstaben, zum Beispiel den Umlauten, die ich nicht konnte. Schreiben ging gar nicht. Aber ich hatte das große Glück, dass mir mein Vater die ganze Weltliteratur auf Spanisch zur Verfügung stellte. Zum Geburtstag bekam ich von ihm immer Bücher und von meiner Mutter etwas zum Anziehen. Spielzeuge gab es nicht. (lacht)
Wo haben Sie in Sucre gelebt? Es war dort sicher nicht einfach, eine Wohnung zu finden?
Das war sehr schwierig, weil es in der relativ kleinen Stadt zur damaligen Zeit eigentlich keinen Wohnungsmarkt gab. Man konnte ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft mieten, wie auch wir es anfangs getan hatten, aber Mietwohnungen gab es kaum. Wir fanden schließlich Räume im Haus eines wohlhabenden Grundbesitzers. Als Gegenleistung für die Wohnung musste mein Vater die Dame des Hauses, die gerne sang, am Klavier begleiten. Das war ein Martyrium für meinen Vater. Die Frau hatte zwar eine durchaus schöne Stimme, aber kein Gehör und traf deshalb kaum einen Ton.
Sie haben als Kind in Sucre und La Paz gelebt, beides Städte, die sehr indigen geprägt sind. Das gilt vor allem für Sucre. Wie haben Sie das damals wahrgenommen?
Das war natürlich alles für mich neu und interessant. In Sucre haben mich als Kind vor allem die Indiomänner beeindruckt. Sie trugen weiße Leinenhosen, gestickte Blusen, Ponchos und als Kopfbedeckung eine Art Helm aus Leder, wohl nachempfunden den Helmen der spanischen Conquistadores. Dann sprachen sie Quechua, das ganz anders klingt als das Aymara in La Paz, das Quechua ist viel gesungener, melodischer.
Der Besitzer des Hauses, in dem wir wohnten, hatte eine große Finca auf dem Land. Zweimal die Woche kamen von dort Indios und brachten auf 25 bis 30 Eseln Waren, um sie auf dem Markt in Sucre zu verkaufen. Sie kamen mit all den Tieren und den Körben in den Patio, den riesigen Innenhof des Hauses. Am Eingang gab es ein großes Tor und im Hof führte eine Treppe zu den Wohnräumen, links wohnten die Besitzer, rechts wohnten wir. Wenn die Indios kamen, ging der Patron auf die Treppe, um sie zu empfangen. Dann kniete sich der Anführer der Indios vor ihm nieder und erstattete ihm Bericht über alles, was sich auf der Finca zugetragen hatte. Als Kind sah man das, wusste es aber nicht einzuordnen. Später wurde mir klar, dass diese Unterwürfigkeit noch aus der spanischen Herrschaftsepoche stammte.
Diese feudalen Strukturen wurden mit der Revolution von 1952 aufgebrochen. Wie haben Sie die wahrgenommen?
Die habe ich in La Paz erlebt. Schon in den Tagen vorher war es ziemlich unruhig mit Protesten und Demonstrationen. Da gab es schon die ersten Toten, denn auf die Demonstrierenden wurde geschossen. Am Vorabend des Aufstandes sahen wir auf der Straße vor unserer Wohnung eine Demonstration vorbeiziehen, ich stand mit meinen Eltern am Fenster. Die Demonstranten trugen die Toten in blutgetränkten Fahnen. Mein Vater schärfte mir und meiner Mutter ein, am nächsten Tag auf keinen Fall das Haus zu verlassen. Überall waren Schüsse zu hören, es hat geknallt und geknattert. Und am Ende hatte tatsächlich das Volk, zusammen mit der kasernierten Polizei und einigen Aufständischen, das Regime gestürzt.
War das für Sie eine Sache der Bolivianer, mit der Sie eigentlich nichts zu tun hatten, oder sahen Sie sich damals als Bolivianer, den das sehr wohl etwas anging?
Es war schon ein Wir-Gefühl, was bei jungen Leuten – ich war damals 17 – normal ist, wenn sie da aufwachsen. Kurz vorher hatten auch wir Schüler auf dem Prado demonstriert, um unsere Lehrer zu unterstützen, die mehr Geld wollten. Plötzlich fielen Schüsse. Es wurde nicht auf einzelne Leute gezielt, sondern es wurde in die Menge geschossen, um die Demo aufzulösen. Dabei gab es Tote und Verletzte. Ich sprang mit einem Satz hinter eine Hecke und habe da – glaube ich – ein paar Stunden gelegen, bis alles vorbei war.
Ich kann seitdem keine Menschenansammlungen mehr ertragen. Ich bin an sich kein ängstlicher Mensch. Aber bei großem Gedränge und Ansammlungen verziehe ich mich lieber. Ich habe damals wohl einen Schock bekommen, den ich nie richtig verarbeitet habe.
Sie haben nach dem Abitur in Bolivien begonnen, in Uruguay zu studieren. Wie kam es dazu?
Ich wollte Tierarzt werden. In Bolivien konnte man das nicht studieren. Die USA waren weit und teuer. Im schottischen Glasgow hätte ich Tiermedizin studieren können. Ich hatte einen Onkel in Newcastle, im Norden Englands, der wollte mich unterstützen. Das bolivianische Abitur wurde in Glasgow zwar anerkannt, aber für die Zulassung zur Uni musste man eine Aufnahmeprüfung machen. Damals war Reisen furchtbar teuer, und wenn ich die Prüfung nicht bestanden hätte, wäre alles für die Katz gewesen.
Meine Eltern hatten einen sehr guten Freund, den uruguayischen Konsul in Bolivien. Der sagte mir, ich solle doch nach Uruguay gehen. Dort gäbe es den Studiengang, die Uni wäre sehr gut und mein bolivianisches Abitur würde anerkannt. So zog ich nach Montevideo, studierte ein und dreiviertel Semester Tiermedizin, bis ich mir dann sagte, das sei nichts für mich. Zum einen waren die Berufsaussichten gleich Null. Die Viehzüchter hatten alle mehrere Söhne, von denen oft einer Tiermedizin studierte. Die teilten die guten Stellen auf den Gütern, in den Fleischfabriken und den Rennställen unter sich auf. Als Ausländer ohne Landbesitz hatte man keine Chance, einen Job zu bekommen. Außerdem war es im Studium auch sehr schwierig, aufgrund des Niveauunterschieds zwischen Bolivien und Uruguay. Ich hatte in La Paz zwar ein sehr gutes Abitur gemacht, aber in Uruguay hatten die schon in den letzten beiden Schuljahren studienvorbereitende Kurse. Da kam ich mit meinen Kenntnissen aus unserem Biologieunterricht nicht mit. Außerdem waren die Lehrbücher schwer zu beschaffen, meistens wurden sie innerhalb des Bekanntenkreises an jüngere Studenten weitergegeben. Zudem waren sie teilweise auf Französisch, was die meisten uruguayischen Kommilitonen, im Gegensatz zu mir, ganz gut lesen konnten.
So verlor ich die Lust an diesem Studium. Ich fand einen Job als Korrekturleser beim The Montevedian, einer englischsprachigen Zeitung. Da kamen mir meine Englischkenntnisse aus dem American Institute in La Paz zugute. Die Zeitung erschien zwar auf Englisch, die uruguayischen Gesetze verlangten aber, dass der Leitartikel auf der Titelseite auch auf Spanisch veröffentlicht werden musste. So übernahm ich es, diese Artikel, die der Chefredakteur auf Englisch verfasste, ins Spanische zu übersetzen. Dann fing ich an, auch eigene Artikel zu schreiben, bis die Zeitung pleite ging, weil sich der Buchhalter mit der Kasse abgesetzt hatte.
Ich arbeitete danach kurz bei der Scandinavian Airlines am Flughafen, dann bei einer britischen Import-Export-Firma und schließlich in einer Holzhandlung, wo ich eine richtige kaufmännische Ausbildung machte. Das ging ganz gut, bis mein Vater in Bolivien starb, meine Mutter nach Deutschland zurückkehrte und mich von dort aus bearbeitete, zu ihr zu kommen, um etwas „Anständiges“ zu lernen.
War eine musikalische Karriere für Sie nie ein Thema?
Als kleines Kind begann ich, Geige zu spielen. Ich hatte einen sehr guten Lehrer, den Konzertmeister des Orchesters. Als der nach Argentinien ging, meinte mein Vater, ohne guten Unterricht hätte das mit der Violine keinen Zweck, ich sollte Klavier lernen. Das tat ich einige Jahre, zunächst am Konservatorium, dann bei einer Privatlehrerin. Aber mein Vater war nie mit meinen Leistungen zufrieden. Wir hatten uns deswegen immer in der Wolle, bis ich irgendwann mit der Musik aufhörte. Aber ich liebe Musik, ich lebe mit der klassischen Musik. Ich habe hier ein Klavier stehen und in stillen Stunden spiele ich auch, aber nur für mich.
Wie kamen Sie dann nach Deutschland zurück?
Wie ich schon gesagt hatte, bearbeitete mich meine Mutter nach ihrer Übersiedlung nach Deutschland, auch dorthin zu kommen. Ich willigte schließlich ein, sie für drei Monate zu besuchen und mich hier umzusehen.
Meine Mutter war nach dem Tod des Vaters nach München gezogen. Als ich dort war, lud mich einer ihrer Bekannten ein, seine Marmeladenfabrik zu besuchen. Als er merkte, dass ich das interessant fand, riet er mir, Lebensmitteltechnik zu studieren. Er und meine Mutter hatten das alles schon ausgeheckt, denn sie gaben mir sofort Papiere der TU Berlin, die sie vorher schon angefordert hatten. Ich war etwas überrumpelt. Da ich sowieso nach Hamburg zum bolivianischen Konsulat musste, um meinen Pass zu verlängern – ich war ja Bolivianer – sagte ich zu, auch nach Berlin zu fahren.
In Dahlem sprach ich mit dem Institutsleiter Professor Mehlitz, der mir sehr entgegenkam. Eigentlich brauchte man zwei einjährige Praktika, eins in der Industrie und eins im Obst- und Gartenbau, um zum Studium zugelassen zu werden. Er kannte meinen Lebenslauf und meinte, ich sei ja schon 23, da könne er mir nicht zumuten, noch mehr Zeit zu verlieren. Ich könne sofort mit dem Studium beginnen und die Praktika in den Semesterferien nachholen. So kam ich im Wintersemester 1957 nach Westberlin und zur Lebensmitteltechnik.
Wie war Westberlin in den fünfziger Jahren?
Das war eine interessante Zeit. Damals gab es die Mauer noch nicht, und wir Studenten fuhren oft nach Ostberlin. Wir waren dort häufig im Theater, am Schiffbauer Damm, im Deutschen Theater, der Deutschen Oper und den anderen interessanten Bühnen. Karten bekam man einfach, sie waren auch für uns Studenten sehr günstig, und wenn man ins Theater ging, konnte man abends im Restaurant essen. Sonst konnte man im Osten nur essen oder Lebensmittel einkaufen, wenn man einen DDR-Ausweis hatte. Dann machte einer von uns ausfindig, dass man im „Haus der deutsch-sowjetischen Freundschaft“ auch tagsüber essen konnte, ohne den Ausweis zu zeigen. So sind wir sonntags, da war die Mensa zu, immer rübergefahren und haben für drei Mark Ost, das war etwas weniger als eine D-Mark, schön Mittag gegessen.
Meine Praktika habe ich alle in den Semesterferien nachgeholt, und so konnte ich regulär mein Technikerexamen machen. Und nach drei Jahren Praxis auch mein Ingenieurs-Examen.
Wie haben die anderen Studierenden auf sie reagiert? Sie kamen aus einer Emigrantenfamilie, waren in Bolivien aufgewachsen, hatten in Uruguay gelebt, hatten also eine in den fünfziger Jahren durchaus ungewöhnliche Biografie.
Das war komisch. Ich war kaum an der Uni, da wurde ich zum Semestersprecher gewählt. Es war noch eine andere Zeit, und in Deutschland gab es vieles, das „man nicht machte“, das „man nicht sagte“. Das war mir natürlich total fremd. Ich habe das gesagt, was ich dachte. Das hat offensichtlich vielen imponiert und sie machten mich zu ihrem Sprecher.
War Ihr Deutsch schon perfekt, als Sie mit dem Studium begannen?
Mein großes Manko war die Orthografie. Ich habe rein phonetisch geschrieben. Bei einer der ersten Klausuren sagte der Dozent bei der Rückgabe, die Arbeiten seien insgesamt ganz gut ausgefallen, aber ihm wäre bei einer aufgefallen, dass offensichtlich Leute zum Studium zugelassen würden, die nicht einmal ordentlich Deutsch könnten. Da ich wusste, dass ich gemeint war, meldete ich mich und sagte ihm, ich wäre erst vor vier Monaten nach Deutschland zurückgekehrt, hätte nicht Deutsch schreiben gelernt und bäte das zu entschuldigen. Darauf bekam der einen völlig roten Kopf und hat sich seinerseits tausendmal entschuldigt.
Wie verlief Ihr beruflicher Werdegang nach dem Abschluss des Studiums?
Das ließ sich ganz gut an. Mein Professor hat mich unterstützt. Er war vom Leiter des Zentrallabors des Großeinkaufs des Verbandes Deutscher Genossenschaften gefragt worden, ob er ihm junge Lebensmitteltechniker für die Qualitätskontrolle vermitteln könnte. Ich habe dort mehrere Jahre gearbeitet, bevor ich als Technologieleiter zu einem weltbekannten Hersteller von Spezialautoklaven für die Sterilisation haltbarer Lebensmittel ging. Nebenbei war ich auch als Fachdozent an der Technikerschule des neu gegründeten Konserveninstituts in Neumünster tätig. In dieser Zeit habe ich viel über neue Technologien, die wir erarbeiteten, publiziert. Im Fachgebiet „Haltbarmachung durch Hitze“ wurde ich eine ziemliche Instanz. Danach war ich Verkaufsleiter des besagten Autoklavenherstellers. Nach meiner Pensionierung habe ich mich noch einige Jahre als Industrieberater selbstständig gemacht. Ich hatte mich auf die besonderen Vorschriften und Bestimmungen des US-Marktes für Konserven und andere haltbare Lebensmittel spezialisiert. Mit diesen Kenntnissen war ich ein gefragter Experte für Firmen, die dorthin exportieren wollten. 2009 setzte ich mich, ich war inzwischen 74 Jahre alt, beruflich zur Ruhe.
Haben Sie es jemals bereut, mach Deutschland zurückgegangen zu sein?
Eigentlich nicht. Ich hatte viel Glück gehabt. Ich hatte große Bedenken, nach Deutschland zurückzugehen. Anfangs war es auch sehr schwierig für mich. Wenn man Leute in einem gewissen Alter sah, stellte man sich automatisch die Frage, was der oder die in der NS-Zeit gemacht hatten. Dann war da noch eine Sache: Wenn ich mit Leuten ins Gespräch kam und sie erfuhren, wo ich herkam, warum ich weg war, dass ich Jude bin und meine Familie fliehen musste, kamen immer sofort die Sprüche, dass sie von alldem nichts gewusst hätten und nicht dabei gewesen waren. Ich überlegte immer, wer es denn gewesen war, wenn angeblich keiner dabei war. Das hat mich zunehmend angewidert. Irgendwann habe ich nichts mehr über meine Familie erzählt, weil ich das Gelaber nicht mehr abkonnte.
Es hat sich erst verändert, als hier der Film Holocaust gezeigt wurde (vierteilige US-Miniserie über den Leidensweg der fiktiven jüdischen Familie Weiss im Nationalsozialismus, die im Januar 1979 im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde – G.E.). Da kam es zum ersten Mal in der breiteren Öffentlichkeit zu einem Wandel im Denken. Gut, die 68er hatten auch gefragt, was die Alten in der NS-Zeit gemacht hatten. Aber durch den Film Holocaust haben sich viele zum ersten Mal mit dem auseinandergesetzt, was im Nationalsozialismus mit den Juden geschehen ist. Das ging den Leuten nahe, das konnte man richtig spüren. Ich wurde sogar angesprochen, was ich bei dem Film gefühlt hätte. Ich sagte dann, ich hätte ihn mir nicht angeschaut, ich wüsste ja, was geschehen sei. Aber es sei gut, dass sie ihn gesehen hätten. Das war ein Anstoß und das hat gut getan.
Was mir natürlich Sorge macht, ist das, was wir heute wieder erleben. Ich kann es einfach nicht verstehen, dass Leute nichts aus der Geschichte lernen. Alte Nazis kann man nicht überzeugen, aber dass junge Leute herumlaufen und dieselben Parolen wiederholen, das geht mir nicht in den Kopf. Ich habe auch kein Verständnis für die Behörden, die das alles lange verniedlicht haben. Aber dennoch muss ich sagen, dass ich gerne hier lebe und gerne Deutscher bin.
In den letzten Jahren haben Sie drei Romane veröffentlicht, ein vierter erscheint demnächst. Haben Sie immer schon geschrieben?
Schreiben hat mir immer Spaß gemacht. Schon in der Schule, dann in Uruguay, wo ich für die Zeitung schrieb, und später auch meine Fachpublikationen. Ich habe auch mein ganzes Leben viel und gerne gelesen. Als ich dann nach meiner Berufstätigkeit mehr Zeit hatte, begann ich mit der Arbeit an meiner Romantrilogie. Inspiriert wurde ich dazu von einem Roman des brasilianischen Schriftstellers Erico Verissimo, was ich in der Einleitung meines ersten Buches beschrieben habe. Das Grundgerüst der Geschichte habe ich mir von ihm ausgeliehen. Aber ich wollte sie natürlich nicht übernehmen. Deshalb habe ich seine Figuren aus Brasilien hier in diese Region geholt. Ich habe Stunden um Stunden im Archiv der Lokalzeitung verbracht und Informationen über Schleswig-Holstein in den zwanziger und dreißiger Jahren zusammengetragen. Im zweiten und dann vollständig im dritten Band habe ich Verissimos Vorlage verlassen und die Geschichte meiner Familie und ihrer Emigration nach Bolivien als Grundlage genommen.
Noch ein letztes Thema. Sie haben sich bemüht, die Kompositionen Ihres Vaters in Deutschland etwas bekannt zu machen. Sein wichtigstes Werk, die Cantata Bolivia für Soli, Chor und Orchester, wurde bisher nur in Israel und Bolivien aufgeführt. Was haben Sie in Deutschland für Erfahrungen gemacht?
Schlechte. Ich habe viele Orchester und Einrichtungen angeschrieben, aber nirgendwo gab es Interesse. Mein Mutter hatte sich schon nach ihrer Rückkehr erfolglos bemüht, die Werke meines Vaters zur Aufführung zu bringen. Die Cantata Bolivia ist sicher kein ganz großes Werk. Es ist nett zu hören, es ist ordentliches Handwerk, es ist gut gemacht. Man hört auch ein bisschen Wagner und ein bisschen Mahler raus, was in der Natur der Sache liegt, weil mein Vater beide Komponisten sehr verehrte.
In Bolivien sollte die Cantata Bolivia 1943 erstmalig aufgeführt werden, wozu es aber aufgrund politischer Unruhen in jenen Tagen nicht kam. Es dauert über 60 Jahre, bis das Werk 2004 in La Paz erstmalig gespielt wurde, ein Jahr nach der Uraufführung in Israel. Wie kam es zu der bolivianischen Erstaufführung?
Im Jüdischen Museum in Berlin gibt es verschiedene Ausstellungsstücke, Partituren und Fotos meines Vaters. Der damalige Kurator wollte sehen, ob es in Bolivien noch weitere Informationen über ihn gibt, und fragte beim Orquesta Sinfónica Nacional in La Paz nach. Dessen damaliger Leiter, David Handel, ein Kanadier, der die Cantata Bolivia bis dahin nicht kannte, reagierte sofort, ließ sich die Noten kommen und sagte, er wolle sie aufführen. Das hat dann auch geklappt, und von dieser Aufführung gibt es auch eine CD-Einspielung.
Herr Eisner, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.