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Abgrundtiefe Verkommenheit

Der Film „El Club“ des chilenischen Regisseurs Pablo Larraín
Britt Weyde

Skandal im Vatikan! Anfang Oktober hat der polnische Priester Krzysztof Charamsa sein schwules Coming Out und verliert seinen Arbeitsplatz. Insider kommen in der Presse zu Wort und vermuten, dass sich unter katholischen Geistlichen etwa 40 Prozent Homosexuelle tummeln. Keine große Überraschung. In Sachen Verdrängung hat die katholische Kirche seit Hunderten von Jahren ganz gute Übung. Mit einer geballten Ladung katholischer Bigotterie hat man es auch in dem grandios düsteren Film El Club des Filmemachers Pablo Larraín zu tun. Für dieses Werk bekam der 39-jährige Chilene auf der diesjährigen Berlinale den Silbernen Bären. Larraín hatte zuletzt mit seinem oscarnominierten „NO!“ (2012) über die Nein-Kampagne beim Plebiszit zu Pinochet das internationale Kinopublikum überzeugt.

El Club spielt in einer unbestimmten Gegenwart. Aber die Vergangenheit wird sich Bahn brechen, das Vergangene als Prinzip, als Taten, die begangen, aber unter den Teppich gekehrt wurden, als das Unterbewusstsein, das damit ringt, Schuld zu verdrängen, zu legitimieren und wegzupacken, um sie nicht anzuerkennen oder gar Konsequenzen zu tragen.

Die Farben sind verwaschen, es dominiert ein Graugrünblau und ein winterlicher Dunst liegt über der Szenerie. Hier dämmert es häufig, nie wird es richtig hell, die Protagonisten bewegen sich im Schatten oder Halbschatten. Die Hauptfiguren, das sind Padre Vidal, Padre Ortega, Padre Silva und Padre Ramírez. Die vier leben in einem Haus für abgehalfterte Priester im Kaff La Boca an der chilenischen Küste. Freiwillig sind sie nicht hier. Sie müssen Buße tun und sich von allem Weltlichen fernhalten. Der Alltag scheint streng geregelt zu sein, es gibt einen genauen Ablauf aus gemeinsamen Mahlzeiten, Gesang und Gebet. Schwester Mónica ist die gute Hausmutter, voller sanft anmutender Entschlossenheit. Ihre Vergangenheit ist, wie wir später erfahren werden, auch nicht ganz unbefleckt. „Wir haben ein gutes Leben hier, den Brüdern geht es gut. Sie sind gesund und reinen Herzens“, gibt sich Schwester Mónica überzeugt.

Das Quartett hat sich in seinem Rückzugsheim eingerichtet. Unter Askese stellt man sich allerdings etwas anderes vor: Zum Abendessen gibt es schon mal zwei, drei, viele Gläser Wein. Das schönste weltliche Vergnügen ist jedoch die Teilnahme des heißgeliebten Haushundes an den regionalen Windhund-Meisterschaften. Buße und Wetteinsätze – da drängt sich der Vergleich mit dem Weihwasser und dem Teufel auf.

Als sich eines Tages ein neuer Mitbewohner ankündigt, Padre Matías, dringt die Vergangenheit mit Wucht in die abgeschiedene Parallelwelt ein. Die fromme Fassade bekommt schnell tiefe Risse.

Die Kommentare der vier Padres sind lakonisch und zynisch zugleich und offenbaren eine abgrundtiefe Verkommenheit, was Werturteile und Weltsichten angeht: „Der war ein Jesuit, ein Reicher mit Schuldgefühlen.“ Aber es muss auch die Armen geben, denn: „Ohne die Armen gibt es keine Heiligen.“

Sandokan ist so ein Armer, der von „Heiligen“ ins Verderben gestürzt wurde. Er ist zugleich ein weiterer Eindringling, der das fragile Gleichgewicht der Hausgemeinschaft bedroht. Allerdings gehört er zu den Unterprivilegierten, mehr noch, sein Lebenslauf offenbart ein verstörendes Martyrium. „Der Herr hat mich berührt. Der Samen ist heilig.“ Sandokans Sprache ist brutal direkt und vulgär. Er ist der Narr, der die Wahrheit ans Licht, den Stein ins Rollen und schließlich die zivilisatorischen Schranken zum Fallen bringt.

Der dritte Störenfried ist Padre García, der das Unheil rund um Padre Matías bereinigen soll, letztlich um die Kirche, die auch die seine ist, zu schützen. Er nimmt die Vier plus Eins aus dem Heim gehörig ins Verhör und konfrontiert sie damit, dass sie sich zu bequem in ihrem Refugium eingerichtet haben. Wahre Buße sehe anders aus. García ist ein Vertreter der „Neuen Kirche“, er strebt weniger Scheinheiligkeit an. „Das hier ist kein Spa und auch kein Altersheim!“ Als er bei den Padres gegen Wände anredet und nicht weiterkommt, verkündet er drohend, dass ab sofort ein anderer Wind wehe. „Das heißt auch: mehr Gemüse und weniger Hühnchen!“

Doch die Bibel scheint für alles eine Rechtfertigung bereitzuhalten. „Windhunde sind die einzigen Hunde, die in der Bibel erwähnt werden“, bringt Padre Vidal beflissen hervor. Er ist derjenige, der am meisten an dem Hausmaskottchen hängt. „Er gibt mir Zuneigung.“ Doch auch mit den Turnieren und Wetteinsätzen will Padre García aufräumen und duldet keine Ausflüchte: „Schaffen Sie sich eine Katze an, die passt besser zu Ihnen, schauen Sie sich doch mal an!“ Der so geschmähte Padre Vidal ist schwul und scheint in seinem Leben schon beachtliche Verdrängungsleistungen erbracht zu haben. Mit grotesker Ernsthaftigkeit behauptet er: „Die Sexualität der Homosexuellen ist tiefgehender. Zwischen Frau und Mann dient sie nur zur Fortpflanzung.“ Das ist insofern bizarr, als er es gegenüber einem Mann sagt, der als Junge von einem Priester missbraucht und dessen weiterer Lebensweg in der Folge zerstört wurde. Eines der wenigen modernen Tabus ist zu Recht die Pädophilie. Doch sie findet sich über­all, bei Politikern jedweder Couleur und eben in der katholischen Kirche und ihren Institutionen. Pädophile versuchen immer wieder, ihr Tun zu begründen, zu legitimieren. Der Täter ist ein Mensch, der sich seinen Zwängen nicht entziehen kann; er entscheidet, ob er nachgibt oder widersteht. Ob ein Bewusstsein oder gar ein Eingestehen der Schuld möglich ist, bleibt häufig eine quälend offene Frage.

Missbrauch und nicht geduldete sexuelle Neigungen sind aber nicht die einzigen Gründe dafür, dass bestimmte geistliche Würdenträger aus dem Amt gezogen werden. Padre Silva steckte offensichtlich zu sehr mit Pinochets irgendwann doch diskreditierten Militärs unter einer Decke und Padre Ortega betrieb in einer Armensiedlung krumme Geschäfte mit ungewollten, neugeborenen Babys von Teenager-Müttern: „Das ist doch letztlich eine Klassenfrage!“, rechtfertigt er sich. „Jetzt haben wir negritos bei den Reichen!“

In einem scheinbar reduzierten Setting mit einer überschaubaren Anzahl von Beteiligten verhandelt der Film so große Themen wie Straflosigkeit, Vergangenheitsbewältigung und verschiedene Ebenen des Rechts: das der Reichen und das der Armen.

Regisseur Pablo Larraín ist selbst in katholischen Schulen erzogen worden. Er hatte mit respektablen Priestern zu tun, aber auch mit solchen, die heute im Gefängnis sind. Dann gibt es noch die Priester, die plötzlich verschwinden, aus dem Verkehr gezogen werden. Sie landen in den Rückzugshäusern. Warum sind sie dort und wie verleben sie den Rest ihres Lebens? Das waren die Fragen, die den Regisseur zur Recherche für das Drehbuch von El Club anregten. Beim Drehbuchschreiben hatte Larraín für alle Personen bestimmte SchauspielerInnen im Kopf. So konnte er laut Interview „sehr präzise, gefährliche und außerordentlich rätselhafte und ambivalente Charaktere“ entwickeln. Die Dreharbeiten waren sehr intensiv, da das Drehbuch noch nicht fertig geschrieben war, während gleichzeitig schon Aufnahmen vorbereitet wurden. Innerhalb von dreieinhalb Wochen drehten sie den Film ab. Die SchauspielerInnen kannten nicht das komplette Drehbuch, nur den groben Rahmen, parallel wurde an Details und Nuancen gefeilt. Der Regisseur wollte dadurch mehr Unmittelbarkeit erreichen. In welche Richtung sich die Handlung entwickeln würde, war den SchauspielerInnen nicht bekannt, was natürlich die Spannung am Set erhöhte.

Die Musik spielt eine zentrale Rolle in El Club, was von der ersten Filmminute an klar wird. Zum Glück ist der Regisseur, wie er von sich selbst sagt, ein „obsessiver Fan klassischer Filmmusik“. Ob er wohl den Film „Winterschläfer“ von Tom Tykwer aus dem Jahr 1997 kennt? Auch hier geht es um ein verdrängtes Verbrechen; das Unheil kündet sich schon vor dessen Eintreten im Soundtrack an. Eine lauernde, dräuende Atmosphäre wird allein durch ein geniales Musikstück erzeugt, durch Fratres for strings and percussion des estnischen Komponisten Arvo Pärt, das sowohl in dem deutschen Winteralptraum von Tykwer als auch im chilenischen Verdrängungsmarathon von Larraín verwendet wird.

Regisseur Larraín findet, dass El Club ein offener Film ist. „Der Film braucht einen aktiven Zuschauer, der ihn ausgehend von seiner eigenen Geschichte, seinem eigenen moralischen Kanon, seiner Ethik, seiner Religion, seiner eigenen Art, die Welt zu sehen, beurteilt und Schlüsse daraus zieht. Der Film selbst tut das nicht.“ Das könnte er auch gar nicht. Denn die Abgründe, die sich hier auftun, sind unermesslich tief, die Fässer, die hier aufgemacht werden, gigantisch. Was für ein Film!