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Drei Silberne Bären für Lateinamerika

Die lateinamerikanischen Filme auf der Berlinale 2015

Filme satt gab’s auf der diesjährigen Berlinale für alle Lateinamerikabegeisterten. Gleich zwei Sektio- nen der Internationalen Filmfestspiele waren dem lateinamerikanischen Raum gewidmet. Auch im Wettbewerb war der Filmkontinent mit drei Produktionen stark vertreten und alle drei Filme erhielten eine der begehrten Bärentrophäen. Die Filme in allen Berlinalesektionen gaben einen guten Einblick in die Vielfalt des lateinamerikanischen Kinos und waren in diesem Jahr auch recht gefällig, denn sie überzeugten vor allem ihr Publikum: volle Kinosäle, interessierte Fragen und begeisterte Kommentare bei den Filmgesprächen. Und der Panorama Publikumspreis ging an einen brasilianischen Film.

Verena Schmöller

So viele Filme, so viele Preise! Von den drei im Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele von Berlin gezeigten Filmen aus Guatemala und Chile erhielten alle einen Silbernen Bären. Allein dass drei lateinamerikanische Filme für die Bären nominiert waren, war schon eine kleine Sensation, aber dass auch alle drei einen der beliebten Filmpreise mit nach Hause nehmen würden, das hätte niemand erwartet. Den Silbernen Bären im Rahmen des Großen Preises der Jury erhielt Pablo Larraín für El Club (Chile 2015), den Silbernen Bären des Alfred Bauer-Preises für einen Film, „der neue Perspektiven eröffnet“, bekam Jayro Bustamante für Ixcanul (Guatemala, Frankreich 2015) und Patricio Guzmán wurde für den einzigen Dokumentarfilm im Wettbewerb, El botón de nácar (Frankreich, Chile, Spanien 2015), mit dem Silbernen Bären für das Beste Drehbuch ausgezeichnet.

Mit Jayro Bustamantes Debütfilm Ixcanul war Guatemala zum ersten Mal als Filmland im Wettbewerb der Berlinale vertreten und hinterließ gleich großen Eindruck. Der Film erzählt die Geschichte einer Kakchiquel-Maya-Bauernfamilie, deren 17-jährige Tochter María mit den Traditionen ihrer Kultur bricht, ihr aus wirtschaftlichen Gründen aber trotzdem nicht entkommt. María soll den früh verwitweten Vorarbeiter heiraten. Doch das Mädchen ist zurückhaltend, denn sie hat ihre eigenen Pläne. Sie will mit dem Kaffeepflücker Pepe weggehen, die Welt auf der anderen Seite des Vulkans kennenlernen, sich mit ihm auf den Weg in die glorreichen USA machen. Um Pepe zu gefallen, gibt María frühzeitig Pepes Drängen nach und wird schwanger. Was als eine recht konventionelle Geschichte daherkommt, ist letztendlich vor allem ein Portrait starker und mutiger Frauen. Besonders die Rolle von Marías Mutter zeugt von dieser starken Liebe, die Eltern mit ihren Kindern verbindet und über allen Traditionen steht.

Darüber hinaus gibt der Film einen fast dokumentarischen Einblick in den Alltag der Kakchiquel-Maya und ihre spirituellen Rituale. Die Kamera fängt das Arbeiten auf dem Feld ebenso ein wie die Zubereitung einfachen Essens, das Schlachten eines Schweines oder die nächtliche Zerstreuung der Landarbeiter, ihr Griff zum aguardiente, zum Schnaps. Und leider ist der Film damit auch ein bisschen klischeehaft in seinem Portrait indigener Lebenswelten, auch wenn das Schweineschlachten zum Alltag der Menschen auf dem Land dazugehören mag, als Filmszene hat das Motiv jedoch schon oft herhalten müssen. Sorgfältig dokumentiert Ixcanul dagegen das religiöse Leben der Maya und zeigt, wie sie einerseits an die Wunder und Magie des (werdenden) Lebens glauben, andererseits aber auch ganz genau das Funktionieren von Natur und Körper kennen, das sich auch nur bedingt von spirituellen Riten beeinflussen lässt.

Für den Film ist Filmemacher Bustamante in die abgelegenen Regionen seines Landes gereist und hat vorab mit den LaiendarstellerInnen gearbeitet. Ihr Alltag und ihre Geschichten haben direkten Eingang in den Film gefunden. Diese Authen- tizität merkt man dem Film an. Sie tut ihm gut, macht den Film zu einem wertvollen Kinodokument und den Alfred- Bauer-Preis wohlverdient.

Für seinen neuesten Dokumentarfilm erhielt Altmeister Patricio Guzmán gleich zwei Preise, den Silbernen Bären für das Beste Drehbuch von der Internationalen Jury sowie den Preis der Ökumenischen Jury, einer der unabhängigen Preisrichter, die parallel zu den offiziellen Filmpreisen ihre Auszeichnungen aussprechen. Mit El botón de nácar knüpft Guzmán direkt an seine ebenfalls (u.a. mit dem Europäischen Filmpreis) ausgezeichnete Dokumentation Nostalgía de la luz (Frankreich u.a. 2010) an. Widmete er sich in letzterem Film noch dem Norden Chiles, macht sich Guzmán in El botón de nácar nun auf in den südlichen Teil des Landes, bringt die letzten der UreinwohnerInnen des patagonischen Archipels vor die Kamera, erzählt deren Geschichte(n) und konzentriert sich dabei auf ihr Verhältnis zum Wasser, wie diese Menschen im und mit dem Wasser leben.
Im zweiten Teil seines Films lenkt Guzmán seinen Blick auf das, was das Wasser begraben hat. Denn wie die Atacama-Wüste im Norden wurde auch der Pazifik für das Pinochet-Regime zum Friedhof umfunktioniert. Etwa 1200 bis 1400 Menschen, so die Mutmaßung, wurden in die Wellen des Ozeans geworfen, in Plastiktüten eingewickelt und an alte Eisenbahnschienen gebunden. In einer der eindrucksvollsten Szenen des Films lässt Guzmán das Töten, Verpacken und Verschwindenlassen eines Menschen nachstellen. Diese visuelle Deutlichkeit macht das doch so unbegreiflich Geschehene real, zeigt, dass es wirklich passiert ist. Unfassbar, unbegreiflich bleibt es trotzdem.

Die Diktatur und die Verschwundenen sind stets das Thema in den Filmen von Guzmán. El botón de nácar reiht sich damit perfekt in sein Schaffen ein und bringt wieder neue Informationen auf die Leinwand. Der Geschichte der Folter, des Verschwindens, der Vernichtung in Chile wird in El botón de nácar allerdings etwas Lebendiges und Positives entgegengesetzt, das Wasser als Ursprung allen Lebens. Guzmán ist eine kongeniale Verknüpfung der unterschiedlichen Aspekte sowohl des Wassers als auch der Vergangenheit gelungen und das rechtfertigt gerade auch den Preis für das Beste Drehbuch.

Den wohl wichtigsten der drei Wettbewerbspreise erhielt Pablo Larrains kraftvolles Kammerspiel El Club. Der Film stellt ein Haus in einem abgelegenen Küstenort in den Fokus, in dem die katholische Kirche aus unterschiedlichen Gründen ausgediente Priester versteckt. Sie sollen Buße tun, doch haben sie sich zusammen mit einer Ordensschwester einen eher recht gemütlichen Alltag zurechtgelegt, der auch Zerstreuung und Wettspiele zulässt. Durch die Ankunft eines weiteren Priesters gerät ihr beschauliches Leben aus den Fugen und entwickelt eine gewaltige, gewaltvolle Dramatik. Denn unmittelbar nachdem Padre Matías eingezogen ist, steht ein unbekannter Mann vor der Tür und klagt diesen lautstark des sexuellen Missbrauchs an. Es fällt ein Schuss und Pater Matías ist tot. Die Kirche schickt einen Ermittler und der untersucht nicht nur die jüngsten Ereignisse, sondern fördert auch einige andere Geheimnisse zutage.

El club beginnt mit einem Zitat aus dem Buch Genesis: „Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis.“ Im Film geht es allerdings gerade nicht um das Licht, das Gute, sondern um all das Schlechte, das dem Menschen innewohnt. Wohl auch deshalb ist die Lichtgestaltung des Films fast durchgehend dunkel gehalten. Auch die Filmmusik lässt die ZuschauerInnen die fortwährende Bedrohung spüren. Sie ist sakral, aber in einer unkonventionellen Weise, die eine einzigartige Stimmung erzeugt.

Vor allem aber die DarstellerInnen sind es, die dem Film diese Kraft verleihen. Die Kamera konzentriert sich auf jede Regung dieser armen (und großartig gespielten) Figuren, die einmal die Welt verändern wollten und irgendwie schuldig wurden. Sie sind gefangen in diesem Haus an der Küste, mehr aber noch in sich selbst. Der Film deutet aber auf eine viel größere Schuld hin, diejenige der Institution Kirche. Die Widersprüchlichkeiten, mit denen der Katholizismus in El club gezeichnet wird, ereignen sich im Kleinen, manifestieren sich jedoch im Großen, im System, durch das Verschleiern, Verhüllen, Verschweigen. Dabei ging es Larraín wieder um das Vergangene im Gegenwärtigen, womit sich sein neuester Film geschmeidig ins bisherige Schaffen (zuletzt die Trilogie über die chilenische Diktatur Tony Manero (2008), Post Mortem (2010) und ¡No! (2012)) einfügt.

Für Chile ist das Jahr 2015 damit schon jetzt ein Rekordjahr. Noch nie waren zwei chilenische Filme gleichzeitig im Wettbewerb der Berlinale. Darüber hinaus zeigte das Festival mit San Cristóbal (Chile 2015) von Omar Zúñiga Hidalgo einen Kurzfilm im Berlinale Shorts-Wettbewerb und sieben weitere Filme in den anderen Sektionen des Festivals. Neben den Silbernen Bären und dem arte International Prize für Marcela Said (El verano de los peces voladores, 2013) für ihr Spielfilmprojekt Los perros im Rahmen des Berlinale Co-Produktion Market sahnten die ChilenInnen außerdem im Bereich der Teddy Awards ab, der bedeutendsten queeren Filmpreise weltweit. Nasty Baby (USA 2014) des chilenischen Filmemachers Sebastián Silva wurde mit dem Teddy Award für den Besten Spielfilm ausgezeichnet, El hombre nuevo (Uruguay, Chile 2015) von Aldo Garay bekam den Teddy Award für den Besten Dokumentarfilm und San Cristóbal denjenigen für den Besten Kurzfilm. Der Teddy Award wird an diejenigen FilmemacherInnen verliehen, die „queere Themen auf einer breiten gesellschaftlichen Ebene kommunizieren und somit einen Beitrag für mehr Toleranz, Akzeptanz, Solidarität und Gleichstellung in der Gesellschaft leisten“. Und gerade für El hombre nuevo trifft dies zu. Der Film portraitiert die vielen Facetten aus dem Leben einer Frau, die einmal ein Mann war, als zwölfjähriger Junge auf der Seite der SandinistInnen in Nicaragua und später für die kommunistischen Tupamaros in Uruguay gekämpft hat.

Innerhalb der Berlinale gilt das Internationale Forum als die „risikofreudigste“ Berlinalesektion, ist dem eher künstlerischen Film gewidmet und zeigt jährlich filmische Neuentdeckungen aus aller Welt. In diesem Jahr legte die Sektion dabei den Fokus auf den lateinamerikanischen Raum und lud acht Filme aus dem Kontinent nach Berlin ein. Darunter waren ganz klassische Spielfilme zu sehen wie Beira-Mar (Brasilien 2015) von Filipe Matzembacher und Marcio Reolon, La mujer de barro (Chile, Argentinien 2015) von Sergio Castro San Martín und Mar (Argentinien, Chile 2014) von Dominga Sotomayor, aber auch experimentellere Filme wie H. (Argentinien, USA 2015) von Rania Attieh und Daniel Garcia oder Brasil S/A (Brasilien 2014) von Marcelo Pedroso. Weiterhin wurde die restaurierte Fassung des mexikanischen Film noir Cuatro contra el mundo (Mexiko 1950) von Alejandro Galindo im Forum gezeigt. Zwei Filme fielen besonders deshalb auf, weil sie einen eigenen Weg gefunden haben, um die Gesellschaft, aus der sie kommen, zu dokumentieren. La maldad (Mexiko 2015) von Joshua Gil nahm zwei ältere Herren ins Visier. Der eine möchte seinem Leben vorzeitig ein Ende machen, der andere will noch einmal loslegen und reist mit einem Drehbuch unter dem Arm in die mexikanische Hauptstadt, um bei der staatlichen Förderanstalt Gelder für „den besten Film der Welt“ zu erbitten. Der Film berührt, ist ein wunderbares Porträt über das Altern, egal wo, und gleichzeitig ein Dokument des aktuellen Mexiko. Immer wieder wirkt er wie ein Dokumentarfilm, in den das Politische ganz nebenbei einfließt.
Der Debütfilm von Jorge Forero, Violencia (Kolumbien, Mexiko 2015), trägt seinen Gegenstand im Titel: Es geht um Gewalt. In drei Kurzfilmen erzählt der Film von unterschiedlichen Formen der Gewalt, wie sie entsteht, sich im Kopf des Menschen einnistet oder ganz plötzlich passiert, wenn man überhaupt nicht darüber nachdenkt. Die dritte und vielleicht eindrücklichste Geschichte zeigt eine Figur, die Gewalt auf andere Menschen ausübt, am Nachmittag zwischen dem Kartenspiel und dem Abendessen, ansonsten aber einen ganz geruhsamen Alltag lebt – und gerade das macht seine Handlungen noch viel grausamer.

In ihrem dritten Jahr stellte auch die Berlinalesektion NATIVe den lateinamerikanischen Raum in ihr Zentrum. Zwölf Langfilme und sechs Kurzfilme aus Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Ecuador, Mexiko, Paraguay, Peru und Venezuela wurden gezeigt, die sich allesamt um ein realistisches Bild der indigenen Welten Lateinamerikas und die Bewahrung ihrer Traditionen bemühen. Programmiert waren aktuelle wie auch einige ältere Produktionen. So präsentierte Claudia Llosa, diesjähriges Jurymitglied, ihren Erstlingsfilm Madeinusa (Peru/ Spanien 2006) und auch der Film Hamaca paraguaya (Argentinien et al. 2006) von Paz Encina hatte Eingang in die Filmauswahl gefunden. Eröffnet wurde die Reihe mit dem Dokumentarfilm Eco de la Montaña (Mexiko 2014)  von Nicolás Echevarría, der 1991 mit Cabeza de Vaca im Wettbewerb vertreten war und in seinem neuesten Film den Künstler Santos Motoapohua de la Torre auf einer Pilgerfahrt nach Wirikuta begleitet. Bemerkenswert war auch Ivy Maraey- Tierra sin mal (Bolivien, Mexiko, Norwegen 2013) von Juan Carlos Valdivia, der einen weißen Mann (gespielt von Valdivia selbst ins Land der Guaraní reisen lässt und spannende interkulturelle Begegnungen dokumentiert. Beide Filme beeindruckten mit ihren Natur- und Landschaftsaufnahmen, die auf der überdimensionalen Leinwand des IMAX-Kinos am Potsdamer Platz noch an Wucht gewannen. Ergänzt, wenn man so will, wurde die NATIVe-Reihe durch weitere Filme in anderen Festivalsektionen, nicht zuletzt den beiden Wettbewerbsfilmen Ixcanul und El botón de nácar.

Und das war noch nicht alles! Auch das Panorama, die Publikumssektion des Festivals, hatte acht Filme aus dem lateinamerikanischen Raum ins Programm aufgenommen, lustige, traurige, unterhaltsame, schöne Filme, die allesamt einen aktuellen Einblick in das Leben auf dem Kontinent gaben.
Eröffnet wurde die Sektion Panorama von der brasilianischen Produktion Sangue azul (Brasilien 2014) von Lirio Ferreira. Außerdem waren Ausência (Brasilien, Chile, Frankreich 2014) von Chico Teixeira, El hombre nuevo, El incendio (Argentinien 2015) von Juan Schnitman und Jia Zhang-ke, um homem de Fenyang (Brasilien 2014) von Walter Salles zu sehen.
Der erfolgreichste Film der Sektion war die brasilianische Komödie Que Horas Ela Volta? (Brasilien 2015) von Anna Muylaert, der vom Berliner Publikum zum Besten Film gekürt wurde und den 17. Panorama-Publikumspreis der Berlinale erhielt; außerdem wurde der Film mit dem Preis des Internationalen Verbands der Filmkunsttheater ausgezeichnet.

Que Horas Ela Volta? erzählt von einem Moment, in dem mit dem Machtverhältnis zwischen Hausherren und Bediensteten gebrochen wird, und damit auch vom sozialen Wandel in Brasilien. Dies tut er jedoch auf eine so leichte und heitere Art und Weise, dass nur selten der filmische Zeigefinger durchscheint, was den Film letztendlich auch zu solch schöner Unterhaltung macht. Der Film hat vieles davon, was ein guter Film braucht: Witz, Tragik und Tränen, auch Spannung, vor allem aber eine Herzenswärme, die man mit nach Hause nimmt. Und diese liegt vornehmlich an der Hauptdarstellerin, Regina Casé, welche die überaus liebenswerte Haushälterin Val spielt. Seit 13 Jahren arbeitet sie im Hause von Bárbara und Carlos, sie ist die gute Seele des Hauses und dem Sohn Fabinho eine liebevolle Nanny. Als sich ihre eigene Tochter, Jéssica, in das Haus in São Paulo einlädt, bekommt die Harmonie Risse, denn Jéssica sieht es überhaupt nicht ein, wie eine „Zweiteklasseperson“ behandelt zu werden und übertritt Regeln wie Schwellen, sodass nichts mehr ist, wie es einmal war, weder für die Herren im Hause noch für Val.

Aber auch die anderen Filme überzeugten Publikum und Jurys, nicht zuletzt 600 Millas (Mexiko 2015) von Gabriel Ripstein, der mit dem Preis für den Besten Erstlingsfilm ausgezeichnet wurde. Der Film von Ripstein, übrigens der Sohn des Filmemachers Arturo Ripstein, ist wieder einmal ein Film über das Grenzgebiet zwischen den USA und Mexiko. Eindrücklich schildert er, wie einfach es für Drogenmafia wie Kleinkriminelle ist, von einem Land ins andere zu wechseln. Wichtiger aber ist, dass er eine ungewöhnliche Geschichte von einem kleinen Nachwuchsdealer erzählt, der in einer Kurzschlussreaktion einen US-amerikanischen ATF-Agenten mit über die Grenze nach Mexiko nimmt. Die beiden nähern sich mit der Zeit einander an, der Film wandelt sich zum Road Movie und zeigt auf spannende, weil (auch trotz der Actionszenen) so unspektakuläre Weise, wie sich der Eingeschleppte letztendlich besser im fremden Raum zurecht findet als sein Kumpane im eigenen.
Ebenso fiel der neue Film von Marco Berger (Ausente, 2011) auf, der zwei Versionen einer erzählerischen Ausgangssituation schildert. Darauf deutet auch schon der Titel hin: Mariposa, der auf die Chaostheorie verweist, auf diesen einen Schmetterling, der in einem anderen Teil der Erde einen Sturm auslöst. Beide Varianten beginnen mit der Szene, in der eine Mutter ihr Baby an einer Straße aussetzt oder dies eben nicht tut. Aus dem kleinen Mädchen wird eine junge Frau, die sich in beiden Versionen in denselben Jungen verliebt – nur ist er das eine Mal ihr Quasi-Bruder, denn seine Familie hatte das ausgesetzte Baby bei sich aufgenommen. In der Tradition von Filmen wie Lola rennt oder Sliding doors werden hier Alternativen auf die Leinwand gebracht, die eine tragisch, die andere in Form einer Komödie, was bei Berger vor allem ein erzählerisches Spiel ist und weniger eine bestimmte Weltsicht vermitteln will.

Auffällig häufig wurde die Eltern-Kind-Thematik in den lateinamerikanischen Spielfilmproduktionen verhandelt. Neben Ixcanul und Que Horas Ela Volta? sticht vor allem der brasilianische Beitrag Ausência heraus. Er erzählt überzeugend vom 15-jährigen Serginho, der sich quasi allein durchs Leben schlägt. Er verdient sich sein Geld auf dem Markt am Stand seines Onkels, seine Mutter zieht ihm dieses wieder aus der Tasche und letztendlich ist es der Junge, der seinem kleinen Bruder Liebe und Fürsorge schenkt, während seine Mutter ihren Rausch ausschläft. Seinen Geburtstag feiert Serginho bei einem Kunden seines Onkels, dem er regelmäßig eine Gemüselieferung ausfährt und der den Jungen ins Herz geschlossen hat. Eines Tages eröffnet ihm die Mutter, dass sie mit dem Kleinen zur Großmutter ziehen werde, Serginho aber in São Paulo bleiben müsse. Eine Enttäuschung jagt die nächste, die Einsamkeit umschließt den Jungen. Aber Serginho hört nicht auf, seinen Platz in der Welt zu suchen.
Auch El Gurí (Argentinien 2015) von Sergio Mazza erzählt von einem Jungen, der zu früh erwachsen werden muss. Der 10-jährige Gonzalo kümmert sich liebevoll um seine Schwester im Babyalter und wartet geduldig auf die Rückkehr seiner Mutter. Erst allmählich wird deutlich, dass diese nicht zurückkommen wird. NachbarInnen und Mitmenschen helfen Gonzalo in seinem Alltag und versuchen, eine Lösung für ihn zu finden.
Und auch Beira-Mar, ebenfalls wie El Gurí im Generation 14plus-Programm, entpuppt sich als Coming-of-Age-Film, der nicht nur das Coming Out von Tomaz verhandelt, sondern ebenso das schwierige Verhältnis von Martin mit seinem Vater in den Blickwinkel nimmt.

Wer die lateinamerikanischen Filme der Berlinale 2015 sehen wollte, hatte also viel zu tun. Es war ein bunter Reigen schöner, gewaltiger, unterhaltsamer und bewegender Filme, wobei der Großteil in diesem Jahr eher von der unterhaltenden Sorte war. Der lateinamerikanische Film wird publikumsfreundlicher, könnte man meinen oder die Berlinale. Wie auch immer, es war ein guter Jahrgang und man darf hoffen, dass viele der Berlinalefilme auch ihren Weg in die deutschen Kinos finden.