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Kleine Kanonen am Nachmittag

Facturas –– die süße Geschichte der Anarchie

Wer in Buenos Aires lebt, kennt facturas als Teil der Frühstücks- oder Café- bzw. Mate-Routine. Und alle wissen, dass es bei diesen facturas nicht um Rechnungen geht, sondern um eine Vielzahl verschiedener süßer Gebäckvarianten – vergleichbar mit unseren „Teilchen“ oder Croissants. Facturas müssen frisch gegessen werden, wofür die unzähligen kleinen Bäckereien sorgen, über die faktisch jeder Straßenblock der Metropole verfügt und die schon früh morgens einen typischen Duft verbreiten. Populär sind auch die traditionellen Namen der vielen unterschiedlichen facturas, wie etwa bolas de fraile, suspiros de monja, vigilantes oder bombas und cañoncitos – also „Eier der Mönche“ und „Seufzer der Nonne“ zum Frühstück? „Polizisten“, „Bomben“ oder „kleine Kanonen“ zum Nachmittagscafé? Das hört sich interessant an.

Rolf Satzer

Die unterschiedlichen facturas sind in aller Regel extrem süß, enthalten viel Butter, Zucker und je nach Typ das vor allem im südlichen Lateinamerika unvermeidliche dulce de leche. Manche werden in Schokolade gebadet oder mit Pudding, Honig und süßen Füllungen, etwa aus Marmelade, veredelt. Daneben gibt es medialunas saladas, die weniger süß und von daher bei mitteleuropäischen BesucherInnen besonders beliebt sind. Viele Namen dieser facturas haben sich vor über 100 Jahren ArbeiterInnen in den Bäckereien von Buenos Aires ausgedacht. Verarmte MigrantInnen aus Italien und Spanien, die auf der Flucht vor miserablen Lebensbedingungen oder auch politischer Verfolgung zu Hunderttausenden nach Südamerika und vor allem nach Argentinien kamen, hatten zuvor oft in handwerklichen Berufen, beispielsweise als Bäcker, gearbeitet. Mitgebracht haben sie neben handwerklichen Fertigkeiten und Backrezepten ihre politischen Ideen und eine oft anarchistische Einstellung.

Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts hatte der Anarchismus einen starken Einfluss in der ArbeiterInnenbewegung und den ersten Gewerkschaften Italiens und Spaniens. Auch der Anarchosyndikalismus wanderte nun mit den ArbeiterInnen nach Buenos Aires ein und wurde dort schnell zur stärksten Kraft in der argentinischen Arbeiterbewegung. Wie stark der Einfluss dieser ArbeiterInnen damals war, lässt sich anschaulich in den Büchern und Arbeiten von Osvaldo Bayer zu dieser zentralen Epoche des Anarchismus nachlesen. In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts zählte die boomende Metropole Buenos Aires ca. 800 000 EinwohnerInnen; unter den 125 000 ArbeiterInnen waren 81 Prozent Ausländer (Zensus 1895). Kundgebungen zum 1. Mai waren verboten. Aber trotz aller Repression demonstrierten 70 000 ArbeiterInnen allein in der Hauptstadt. Die von Anarchisten gegründeten ersten Gewerkschaften waren eine Macht und stellten auch die Mehrheit im Dachverband FORA. Als besonders stark und kämpferisch galt die Gewerkschaft der Bäcker. Ihre Gründung ist eng verbunden mit dem legendären italienischen Anarchisten Errico Malatesta, der in Italien 1867 mit 14 Jahren zum ersten Mal festgenommen wurde, weil er einen Beschwerdebrief an den König geschrieben hatte. Zehn Jahre später führte er mit einer Handvoll MitstreiterInnen einen bewaffneten Aufstand in zwei Dörfern Kampaniens durch. Nach einem Brandanschlag auf das örtliche Finanzamt erklärte er kurzerhand das Ende der Monarchie in Italien. Das brachte ihm zwar die Sympathie der Bevölkerung ein, die militärische Lage wurde aber eher skeptisch eingeschätzt: „Die Dorfbewohner begrüßten die Aktion, lehnten es aber ab, sich daran zu beteiligen“ (Kommentar im Wikipedia-Eintrag). Vor dem anrückenden Militär konnte er fliehen. Es begann eine abenteuerliche, lebenslange Flucht durch die halbe Welt, die ihn 1884 für einige Jahre nach Argentinien brachte. Dort nahm er entscheidenden Einfluss auf die syndikalistische Ausrichtung der anarchistischen Bewegung. Ein wichtiger Schritt dabei war die Gründung der Bäckereigewerkschaft, für die Malatesta u.a. das Statut redigierte und den ersten, zehntägigen Streik der BäckereiarbeiterInnen mit organisierte.

Militante Aktionen inspirierten die anarchistischen Bäcker offensichtlich zu der Idee, eine Gruppe von facturas mit entsprechenden Namen zu belegen (Kanonen, Bomben usw.). Andere Namen für das Gebäck bezogen sich auf die bei Anarchisten besonders verhasste Dreieinigkeit aus Staat, Polizei und Kirche. Die ironischen, witzigen Namen sollten kirchliche Würdenträger und die Mächtigen im Staat lächerlich machen und provozieren. Namen und Formen der facturas ergänzten sich dabei kongenial zu doppeldeutigen Anspielungen. Eine Art „blasphemische und politradikale Gastronomie“ entstand, die bis heute populär und im wahrsten Wortsinn in aller Munde ist. Mit der aufstrebenden Massenbewegung der anarchistischen ArbeiterInnen, die nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch viele Bereiche der Kultur bis in die 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts dominierte oder beeinflusste, konnten die Namen der facturas einschließlich der darin enthaltenen Botschaften in der Bevölkerung in idealer Weise verbreitet werden. Beliebtheit und Qualität des süßen Gebäcks (unvorstellbar als Produkt industrieller Fertigung aus Backfabriken) dürften dazu beigetragen haben, dass die von den anarchistischen ArbeiterInnen erfundenen Namen bis heute überlebt haben. Auch wenn manchen Argentiniern inzwischen die eigentliche Herkunft nicht mehr bewusst ist. Die Namen der facturas kennt immer noch jedes Kind. Dabei kann man es SprachwissenschaftlerInnen überlassen, ob die ursprüngliche Bezeichnung nun bola oder brola de fraile war. Mit letzterer würde die Kopfbedeckung der Priester lächerlich gemacht. Das Volk hat sich mehrheitlich für die erste Variante entschieden.

Osvaldo Bayer berichtet über frühe anarchistische Ideen, Ideale und Prinzipien wie Autonomie und Selbstbestimmung, Unabhängigkeit von politischen Parteien und vom Staat oder eine radikale, demokratische Basisorientierung. Nicht nur in der Gewerkschaft der Bäcker wurde damals alles in Versammlungen entschieden, politische Ideen, die viel später im großen Massenaufstand 2001 in Buenos Aires, in asambleas und bei den piqueteros wieder auftauchen und heute noch in vielen der über 300 von ArbeiterInnen übernommenen Betriebe lebendig sind. An dieser Geschichte wird noch geschrieben. Nicht nur die facturas haben überlebt.