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Die Bestie in uns

Filmbesprechung von „Wild Tales – Jeder dreht mal durch“
Britt Weyde

In einem grandiosen Song der Liedermacherin „Kleingeldprinzessin“ heißt es im Refrain: „Ich hab viel zu viel Ärger und viel zu wenig Wut.“ Die Lösung könnte heißen: Einfach mal ausrasten. So auch das Leitmotiv von Wild Tales – Jeder dreht mal durch von Damián Szifrón. Der Film, der in der zweiten Januarwoche des Jahres 2015 anlief, zeigt Menschen am Rande des Nervenzusammenbruchs, die dem angestauten Druck freien Lauf lassen. Er wurde 2014 zum meistbesuchten argentinischen Film aller Zeiten und ist nun Anwärter für den Auslands-Oscar. In dem Episodenfilm werden sechs Szenarien vorgeführt, in denen kleinere oder größere Katastrophen die ProtagonistInnen zum Handeln zwingen, viel Zeit zum Abwägen bleibt ihnen dabei nicht. Ihre Reaktionen sind überrumpelnd impulsiv, roh bis brutal. Die hier präsentierte Gesellschaft ist mies und hinterhältig. Der gedemütigte, gepeinigte Mensch, der im Spätkapitalismus einem immensen Stress und immerwährender Konkurrenz ausgesetzt, von Abstiegsängsten gezeichnet oder angestrengt bemüht ist, die Fassade aufrechtzuerhalten, wird hier vorgeführt, aber auch als handelndes Subjekt gezeigt, das nach einem Ventil für seine Wut sucht.

Machismo, Rassismus und Klassendünkel durchziehen die sozialen Beziehungen (nicht nur in Argentinien), was die Geschichten, die in der weißen Mittel- bzw. Oberschicht angesiedelt sind, trefflich widerspiegeln. Die Eröffnungsepisode Pasternak zelebriert das Racheprojekt eines gescheiterten Mannes, der sein Umfeld für sein Loserdasein verantwortlich macht und mit einem individualterroristischen Gegenschlag für Genugtuung sorgt. Die trostlose Schnellrestaurantepisode Las Ratas („Die Ratten“) verhandelt, wie einem überheblichen Immobilienspekulanten effektiv der Garaus gemacht werden kann. La Propuesta („Der Vorschlag“) zeigt, wie schnell sich das ganze schöne Lebensprojekt, das prächtige Haus mit Garten und Swimmingpool, die fetten Autos, der gute Ruf, in Luft aufzulösen droht, wenn Sohnemann mit Vaters Wagen im Suff eine schwangere Frau überfährt. Mit dem nötigen Kleingeld wird der Gärtner der Familie hastig dazu gebracht, als Schuldiger einzuspringen. Ein perfekter Ausweg, wenn da nicht der gierige Anwalt der Familie wäre ...

Der Film ist schnell, poppig, grell. Mit seinen Gewaltexzessen erinnert er an den frühen Tarantino, etwa in El más fuerte („Der Stärkere“), wobei in der deutschen Übersetzung der rassistische Gehalt verlorengeht, der den Gockelkampf zwischen zwei Autofahrern auslöst: Der Schnösel mit dem Sportwagen beschimpft den „Bauern“ vor ihm, der ihn auf der Landstraße am Überholen hindert, als negro resentido. Gelegenheit zur Rache findet der so geschmähte „Schwarzkopf“ kurz darauf, als der andere mit seinem schnellen Schlitten eine Reifenpanne hat. Eine Quintessenz des Films: Je niedriger die soziale Stellung, desto unvermittelter und roher die gewaltvollen Lösungen. Die Kampfmittel gehen von Exkrementen, Rattengift oder Küchenmessern über Psychoterror, Bloßstellung, Sprengsätze bis hin zu hohen Schweigegeldsummen oder eigens gemieteten Flugzeugen.

In zwei Episoden wird der herrschende Druck fast körperlich spürbar. In Bombita soll der Familienvater eine Geburtstagstorte für seine Tochter besorgen und „nicht schon wieder zu spät kommen“, so die Ehefrau, die jede gefühlte zweite Minute anruft; der Stau im Großstadtverkehr ist dem nicht förderlich. Als der gestresste Mann endlich das überteuerte Zuckerwerk erstanden hat, ist sein Wagen aus dem nicht eindeutig markierten Parkverbot abgeschleppt worden. Es folgt eine zermürbende Odyssee durch die städtischen Behörden, inklusive aggressiv-schnippischem Schalterpersonal, das absurd hohe Gebühren verlangt. Das Ende ist vorhersehbar, in seiner letzten Wendung aber sehr sympathisch. Auch in Hasta la muerte los separe („Bis dass der Tod euch scheidet“) überträgt sich die Anspannung aufs Publikum: ohrenbetäubender Poptechno und überdrehte, aufgedonnerte Gäste auf einem durchgestylten Hochzeitsevent, bei dem die Braut feststellen muss, dass ihr Angetrauter sich erdreistet hat, seine attraktive Arbeitskollegin und sidechick eingeladen zu haben. Aus der anfangs selbstmitleidigen Eifersucht entwickelt die gehörnte Braut ein souveränes Psychomanöver, mit dem sie den trotteligen Fremdgänger erpresst und ihn mitsamt der ganzen gekünstelten Hochzeitsgesellschaft bloßstellt.

Die sorgfältig inszenierten Befreiungsschläge lassen allerdings nicht frei aufatmen, denn der bedrückende Gedanke drängt sich auf: Das ist also der Zeitgeist – eine Apologie der Gewalt und des Kontrollverlustes?
Szifrón hat für seinen Film bekannte argentinische Schauspieler wie den notorischen (gleichwohl großartigen) Ricardo Darín gewinnen können, für den fetten Soundtrack sorgt Erfolgsmusiker und Grammy-Gewinner Gustavo Santaolalla. Das knallige, krawallige Werk wurde passenderweise von El Deseo produziert, der Produktionsfirma des spanischen Filmemachers Pedro Almodóvar, sowie von Kramer & Sigman Films des Dr. Hugo Sigman von der argentinischen Pharmaholding Insud. Für Verschwörungstheoretiker ist so ein Financier hinter dem Film eine klare Sache. Wenn die Gesellschaft so kaputt und hemmungslos ist und selbst (oder gerade) diejenigen, die eigentlich genug Kohle haben, so schnell zur Bestie werden, dann können wir ja froh sein, dass es für alles Pillen gibt: Bluthochdruck, Burnout, Angstzustände, Depressionen, Hauptsache der zivilisatorische Kitt wird irgendwie zusammengehalten.