ila

Die Scherben zusammengefügt

Nora Strejilevichs Roman „Ein einzelner vielfacher Tod“
Gert Eisenbürger

Spätestens seit Auschwitz gibt es eine Debatte darüber, ob und wie alle Vorstellungskraft übertreffendes Leid in Worte gefasst werden kann. Ist Schreiben und Literatur darüber überhaupt möglich? Inzwischen kann diese Frage eindeutig mit „Ja“ beantwortet werden. Sowohl Autoren und Autorinnen, die selbst in den Lagern waren und das Grauen überlebt haben, als auch solche, die damals noch gar nicht geboren waren, haben beeindruckende literarische Texte verfasst. Aber stets steht die Frage im Raum, wie man darüber schreibt. Diese Frage stellt sich AutorInnen natürlich immer, aber das Schreiben über Genozide, Massaker oder Kriegsgräuel erfordert eine besondere Sensibilität in der Suche nach der angemessenen Form und Sprache. Dies gilt auch für das Schreiben über das „Verschwindenlassen“ während der letzten Militärdiktatur in Argentinien. Nora Strejilevich hat dafür in ihrem Roman „Ein einzelner vielfacher Tod“ eine überzeugende Form gefunden. Doch dazu später.

Zunächst einige Sätze über den Hintergrund der Autorin. Nora Strejilevich (Jg. 1951) wurde im Juli 1977 von Angehörigen der argentinischen Sicherheitskräfte in Buenos Aires entführt und in ein geheimes Folterlager verschleppt. Anders als viele andere junge ArgentinierInnen, die zwischen 1975 und 1984 „verschwanden“, war Nora Strejilevich keine politische Aktivistin, sie kannte nur die falschen Leute. Ihr Bruder, dessen Verlobte und zwei ihrer Cousins waren in politischen Zusammenhängen tätig und so lag es in der simplen Logik der argentinischen Militärs, dass auch sie etwas „damit zu tun“ haben musste. Als sie nach immer neuen Folterungen und Verhören feststellten, dass dem nicht so war, kam sie frei. Nicht dass sie offiziell „entlassen“ wurde, sie wurde mit verbundenen Augen irgendwo in der Landschaft von einem Wagen gestoßen, ausgesetzt.

Von da an war sie eine doppelt Gezeichnete. Sie musste mit den Schmerzen, der Angst und der brutalen Entwürdigung während der Monate in dem geheimen Haftzentrum fertig werden und sie musste, so paradox das zunächst klingen mag, damit klar kommen, dass sie überlebt hatte, während die meisten anderen Verschwundenen am Ende ihres Leidenswegs brutal ermordet wurden, so auch ihr Bruder, dessen Verlobte und die Cousins. Sie verließ Argentinien. Nach verschiedenen Zwischenstationen in Israel und Europa kam sie schließlich nach Kanada, wo sie politisches Asyl erhielt. Dort setzte sie ihr Studium fort, promovierte und begann zu schreiben. 1997 veröffentlichte sie in einem Verlag in Miami das Buch Una sola muerte numerosa. Erst neun Jahre später (2006) erschien es in Argentinien und nun liegt es auch auf Deutsch vor.

Um über das von ihr Erlebte und den Verlust ihres Bruders und weiterer Verwandten zu schreiben, wählte sie die Form einer Collage aus Berichten über ihre Zeit im geheimen Gefängnis, Zitaten aus Dokumenten, etwa dem Untersuchungsbericht Nunca Más (Nie Wieder), Traumsequenzen, Kinderreimen, Rückblenden in ihre Kindheit und zu Erlebnissen mit ihrem getöteten Bruder Gerardo, Notizen aus der Zeit des Exils, Aufzeichnungen über Besuche und Erlebnisse im Post-Diktatur-Argentinien.

Viele Passagen sind nur schwer zu ertragen, gerade weil sie nur mittelbar über die Folter und die in der Haft erlittenen Qualen spricht. Aber die Beschreibung des Elektrostabs, den die Folterer benutzten, oder das Zitieren ihrer Sprüche sagen weit mehr über das völlige Ausgeliefertsein der Gefangenen aus. Alles zielte darauf, sie psychisch zu zerstören, bevor man sie physisch ermordete. Die Häftlinge mussten alle Kraft aufbringen, um sicht nicht aufzugeben und etwas Würde zu bewahren, und das in einer Situation, wo ihnen klar war, dass sie das Folterzentrum kaum lebend verlassen würden.

Stärker noch als Beschreibungen aus dem geheimen Gefängnis haben mich andere Textstellen berührt, wo Nora Strejilevich über die Zeit danach schreibt, etwa als sie bei den ersten freien Wahlen nach der Diktatur Argentinien besucht und auf den im Wahllokal ausgehängten Wählerlisten die Namen ihres Bruders und ihrer beiden Cousins entdeckt, die offiziell ja nicht tot sind. Oder dass eine Entschädigungszahlung, die ihr als Angehörige ihres ermordeten Bruders zusteht, zunächst daran scheitert, dass in dessen Akte die Straftat „Betrug“ vermerkt ist. Bei ihren Recherchen stellt sie fest, dass er zum Zeitpunkt seines Verschwindens ein Buch in der Universitätsbibliothek ausgeliehen hatte. Weil er das trotz mehrerer Mahnungen nicht zurückgegeben hatte und auch einer Vorladung in dieser Sache nicht gefolgt war, galt er als „Betrüger“. Oder der Suizid ihres Vaters, der nach dem Tod seiner Frau, dem Verlust des Sohnes und der bevorstehenden erneuten Abreise der Tochter nach Kanada keine Kraft mehr zum Weiterleben hat.

Im vorstehenden Interview spricht Nora Strejilevich viel über die befreiende und entlastende Funktion, die das Schreiben für sie hatte. Wenn es „nur“ Therapie gewesen wäre, wäre „Ein einzelner vielfacher Tod“ nicht so ein starkes, literarisch überzeugendes Buch geworden. Die unterschiedlichen Elemente sind klug angeordnet und verbunden, der Text ist sehr sorgsam komponiert, ohne dass ihm dadurch die Unmittelbarkeit des Erlebten genommen wurde. Dazu benutzt sie eine sehr eigene bildhafte Sprache, die die Übersetzerin Elisabeth Schmalen beeindruckend übertragen hat.

Nora Strejilevich: Ein einzelner vielfacher Tod, Übersetzung: Elisabeth Schmalen, Hentrich & Hentrich Verlag, Berlin 2014, 194 Seiten, 17,90 Euro