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Sie tat, was sie tun musste

Eine Biographie der deutsch-argentinischen Menschenrechtsverteidigerin Ellen Marx
Gert Eisenbürger

Am 11. September 2008 starb in Buenos Aires Ellen Marx. Zur Erinnerung an das Leben und den Kampf der engagierten Menschenrechtsverteidigerin veröffentlichten wir im November desselben Jahres ein längeres Interview mit ihr (ila 320). Nun hat die Journalistin und Ethnologin Jeanette Erazo Heufelder eine Biographie über Ellen Marx vorgelegt, die den geradlinigen und gleichzeitig vielfach gebrochenen Lebensweg dieser außergewöhnlichen Frau ausführlich und fundiert beleuchtet.

Ellen Marx wurde am 24. März 1921 als Ellen Pinkus und einziges Kind einer relativ wohlhabenden jüdischen Familie geboren. Bis zum Tag der Reichspogromnacht, dem 9. November 1938, besuchte sie ein Gymnasium in Berlin-Charlottenburg. Danach musste sie die Schule auf Anordnung der NS-Behörden verlassen.

Seit 1934 war sie im „Ring“ aktiv, einem aus der Jugendbewegung der Weimarer Republik hervorgegangenen jüdischen Pfadfinderverband. Zwei der Gruppenleiter, Kurt Julius Riegner und Günter Friedländer, betrieben ab 1935 das Projekt einer gemeinsamen Emigration möglichst vieler der 13- bis 17-jährigen Ring-Mitglieder aus Nazideutschland. Standen die meisten Eltern und die Leitung der jüdischen Gemeinde diesem Vorhaben zunächst skeptisch bis ablehnend gegenüber, verringerten sich die Vorbehalte, je aggressiver der NS-Staat die deutschen Juden und Jüdinnen bedrohte. Trotz vielfältiger Schwierigkeiten bei Ausreisevorbereitung und Visabeschaffung gelang es Riegner und Friedländer, zwischen Januar 1938 und Mai 1939 in drei Gruppen 70 jüdische Jugendliche aus Deutschland nach Argentinien zu bringen. Ellen Pinkus gehörte zur letzten Gruppe, die im Mai 1939 Buenos Aires erreichte. Wegen einer Verschärfung der Einreisebestimmungen hatten diese Jugendlichen keine Visa für Argentinien bekommen, sondern reisten mit bolivianischen Visa. Während ihres auf fünf Tage angesetzten Zwischenstopps in Buenos Aires erreichten jüdische Hilfsorganisationen dann aber, dass sie in Argentinien bleiben konnten.

Wie die anderen Mitglieder der Gruppe suchte und fand auch Ellen Pinkus schnell Arbeit, was für die weiblichen Jugendlichen fast immer eine Tätigkeit als Dienstmädchen bedeutete. Nach einem Jahr als Haushaltshilfe begann sie als Kindergärtnerin in einem Hort für die Kinder jüdischer EmigrantInnen zu arbeiten. Kurz vor ihrem 21. Geburtstag heiratete sie am 11. März 1942 den zwölf Jahre älteren Erich Marx. Beide waren in der von jungen EmigrantInnen gegründeten Nueva Comunidad Israelita (Neue Israelitische Gemeinde) aktiv.

Das Paar bekam bis 1948 drei Kinder, zwei Mädchen und einen Jungen. Als Anfang der sechziger Jahre die ultrarechte Tacuara-Bewegung begann, jüdische Einrichtungen anzugreifen, diskutierte die Familie Marx wie viele andere Juden und Jüdinnen in Buenos Aires, ob sie in Argentinien noch sicher seien. Der jüdische Staat Israel übte eine starke Anziehungskraft aus – endlich ein Ort, wo man keine Angst vor antisemitischen Angriffen haben musste. Ellen Marx und die beiden ältesten Kinder Miriam und Daniel konnten sich eine Übersiedlung vorstellen, Erich Marx und die jüngere Tochter Nora wollten in Argentinien blieben – der Vater, weil er nicht noch einmal von vorne anfangen wollte, die Tochter, weil sie sich als Argentinierin fühlte. Nora schloss sich einer jüdischen Selbstverteidigungsgruppe an, um die Gemeinde und ihre Einrichtungen gegen die Angriffe der Faschisten zu schützen. Einige Jugendliche aus dieser von israelischen Offizieren ausgebildeten Gruppe schlossen sich später bewaffneten Organisationen an.

Während Miriam und Daniel Marx nach Israel auswanderten, bleiben die Eltern und Nora in Argentinien. 1964 wurde die 43-jährige Ellen Marx noch einmal schwanger. 16 Jahre nach ihrer jüngsten Tochter brachte sie ihren Sohn Rubén zur Welt.

Als sich in den frühen siebziger Jahren die politischen Auseinandersetzungen in Argentinien verschärften und mehrere revolutionäre Gruppen entstanden, zog es Nora zu den linksperonistischen Montoneros. Ihre Mutter sah das mit Sorge, machten doch seit 1973/74 rechte Todesschwadronen Jagd auf linke AktivistInnen. Die Bedrohung wurde ungleich größer, als sich das Militär im März 1976 an die Macht putschte. Nun begann ein regelrechter Krieg gegen die meist jugendlichen AktivistInnen. Die Militärs entführten Menschen, folterten sie, um Informationen aus ihnen herauszupressen, und brachten sie dann um. Sie waren nicht offiziell verhaftet worden, sondern „verschwanden“ einfach.

Am 21. August 1976 hatte sich Nora mit FreundInnen im Kino verabredet. Als sie nicht erschien, rief ihr Freund bei Ellen an. Da sie sich noch vor dem Aufbruch zum Kinobesuch von ihrer Mutter verabschiedet hatte, war klar, dass etwas passiert war. Obwohl sie sich bis dahin nie politisch engagiert hatte, hatte Ellen Marx genug von dem mitbekommen, was in Argentinien geschah, um zu wissen, dass sie sofort handeln musste. Sie gab sofort eine Vermisstenanzeige auf und wurde bei allen Polizeikommissariaten vorstellig. Überall bekam sie nur Ausflüchte zu hören. Doch sie gab nicht auf. Auf den Polizeidienststellen begegnete sie weiteren Eltern, die ihre verschwundenen Kinder suchten. Weil alle ähnliche Erfahrungen machten, begannen sich die Eltern zu treffen, um ihre Aktivitäten zu koordinieren. Irgendwann 1977 entstand die Idee der Mütter, auf der Plaza de Mayo, dem zentralen Platz vor dem Präsidentenpalast, zusammenzukommen, die Bilder ihrer verschwundenen Kinder zu zeigen und auf Pappschildern zu fragen ¿Dónde están? – Wo sind sie? Unter diesen Müttern war auch Ellen Marx.

Bald wurde der schweigende Protest der Mütter der Plaza de Mayo in Argentinien und international zur Kenntnis genommen. Sie lenkten den Blick auf die massenhaften Verbrechen der Militärs. Damit gerieten sie selbst ins Fadenkreuz der Repression. Am 10. Dezember 1977 verschwand ihre Sprecherin Azucena Villaflor.

Den Frauen war klar, dass sie internationale Unterstützung brauchten. Da Argentinien ein Einwanderungsland war, hatten viele der Verschwundenen europäische Vorfahren. So wandten sich die Angehörigen an die Botschaften der Länder, aus denen ihre Familien einst emigriert waren. Ellen Marx, die 1939 von den Nazis ausgebürgert worden war, hatte 1964 wieder die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Nun sprach sie in der bundesdeutschen Botschaft vor. Sie wurde zwar höflich behandelt, Hilfe erhielt sie freilich keine, auch wegen des formalen Arguments, dass ihrer Tochter Nora leider keine deutsche Staatsbürgerin sei. Auch andere Eltern deutschstämmiger Verschwundener machten ernüchternde Erfahrungen – übrigens auch, wenn ihre Kinder deutsche StaatsbürgerInnen waren. Die Botschaft präsentierte ihnen ihren Verbindungsoffizier „Major Peirano“, der sie angeblich unterstützen könne. Die Eltern hatten freilich den Eindruck, dass es ihm vor allem darum ging, Informationen über das Umfeld ihrer verschwundenen Kinder vorzuenthalten. Hilfe bei der Suche nach ihnen leistete er nicht – anders als die Eltern wusste er, dass sie längst ermordet waren.

Ellen Marx und die anderen Eltern versuchten daher, andere potentielle UnterstützerInnen aus Deutschland zu mobilisieren. Dafür brauchte es Organisation. Es bildete sich eine Gruppe, deren Sprecherinnen wurden Ellen Marx, Annemarie Zieschank, deren Sohn Klaus verschwunden war, und die Paraguayerin Idalina Tatter, die ihren deutschstämmigen Mann Federico suchte. Die Gruppe erstellte eine Liste der deutschstämmigen Verschwundenen – sie kam auf 72 Namen – und leitete sie an die deutschen Behörden weiter.

Für Ellen Marx war diese Arbeit eine doppelte Herausforderung. Die Deutschen, mit denen sie zu tun hatte, waren für sie nicht nur Botschaftsangehörige oder Beamte, sondern sie fragte sich bei Älteren auch, was sie vor 1945 gemacht hatten. Selbst ihre Mitkämpferin Annemarie Zieschank hatte als junge Frau der NSDAP angehört.

Als die argentinische Militärdiktatur nach dem Malvinenkriegsdesaster 1983 zurücktreten und Wahlen ausschreiben musste, war Ellen Marx längst klar, dass ihre Tochter nicht mehr lebte. Später erfuhr sie, dass Nora wenige Wochen nach ihrem Verschwinden ermordet worden war. Nun ging es um Wahrheit und Gerechtigkeit, also Aufklärung über das Schicksal der Verschwundenen und Bestrafung der Täter. Zunächst gab es ermutigende Zeichen. Eine Kommission unter Führung des Schriftstellers Ernesto Sábato untersuchte die Verbrechen der Diktatur und stellte nach einigen Monaten der Öffentlichkeit ihren erschütternden Bericht vor, den sie ¡Nunca Más! (Nie Wieder!) betitelt hatte. Die Putschgeneräle wurden vor Gericht gestellt und zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Doch dann stoppte die Regierung des sozialliberalen Präsidenten Alfonsín die Verfolgung der Täter. Zunächst wurde eine sehr kurze Frist für die Anstrengung weiterer Verfahren gesetzt, danach sollte endgültig Schluss sein. Dann wurde nach mehreren Militärrevolten das Gesetz über den „Befehlsnotstand“ verabschiedet, das nur den höchsten Militärs Verantwortung zuschrieb. Alle anderen Offiziere und Soldaten hätten nur Befehle befolgt und wären daher nicht anzuklagen. Der ab 1988 amtierende rechtsperonistische Präsident Menem setzte schließlich mit einem Amnestiegesetz auch die Militärs auf freien Fuß, die rechtmäßig verurteilt waren.

Doch die Menschenrechtsorganisationen gaben nicht auf. Als in Argentinien weitere Verfahren fast unmöglich waren, riefen sie Gerichte im Ausland an, konkret in denjenigen Ländern, aus denen die Familien der Opfer stammten. Auch in Deutschland brachten die Angehörigen der deutschstämmigen Verschwundenen, unterstützt von der „Koalition gegen die Straflosigkeit in Argentinien“, Fälle von verschwundenen Deutschen zur Anzeige. Darunter war auch der von Nora Marx, der von Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck vertreten wurde. Wie schon bei Ellen Marx’ ersten Kontakten zur bundesdeutschen Botschaft im Jahr 1977 argumentierte die deutsche Justiz erneut, Nora Marx sei keine Deutsche gewesen, und lehnte eine Zuständigkeit ab.

Im Zuge ihrer Aktivitäten als Sprecherin der Gruppe der Angehörigen der deutschstämmigen Verschwundenen reiste Ellen Marx mehrfach in die Bundesrepublik. Das erste Mal 1983, 44 Jahre nach ihrer Flucht aus Berlin. Sie trat beim Evangelischen Kirchentag auf, gab Pressekonferenzen, sprach auf Veranstaltungen und mit politischen Verantwortlichen. Das Verschwinden ihrer Tochter hatte ihr Leben grundlegend verändert. All das, was sie nach dem August 1976 tat, hätte sie sich wenige Jahre zuvor nicht träumen lassen.

Ellen Marx machte diese Arbeit, weil sie sich dazu verpflichtet fühlte. Ein ehernes Pflichtbewusstsein und eine geradezu preußische Disziplin prägten ihr ganzes Leben. Und sie machte diese Arbeit gut. Ohne ihr Engagement und ihre Fähigkeit, Menschen mitzureißen, hätten die anderen vielleicht aufgegeben. So erreichten sie letztlich, den unerträglichen Zustand der Straflosigkeit in Argentinien zu beenden. Mit den politischen Veränderungen nach 2002 wurden das Amnestie- und das Schlusspunktgesetz annulliert. Die Strafverfolgung der Täter wurde wieder aufgenommen.

Jeanette Erazo Heufelder erzählt in ihrem Buch „Von Berlin nach Buenos Aires“ die Lebensgeschichte der Ellen Marx mit großem Respekt und Sympathie, ohne jedoch die Protagonistin zu glorifizieren. Sie zeichnet das Bild einer Frau, die in den entscheidenden Momenten ihres Lebens wusste, was zu tun war, und dies dann auch in die Tat umsetzte.