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Straßenhandel – Straßenkampf

Interview mit Martín Montoya von der Bewegung der Vereinigten StraßenhändlerInnen in El Salvador

Seit 22 Jahren ist Martín Montoya Straßenhändler in San Salvador. Die „Bewegung der Vereinigten StraßenhändlerInnen“ (MVU) ist eine Gewerkschaft innerhalb des Dachverbandes der Salvadorianischen Gewerkschaftsfront FSS, in der auch Genossenschaften nach Straßenblocks organisiert sind. „Ich bin einer der Vertreter des informellen Sektors, ich organisiere die Genossen, bin vor Ort und entwickle mit den Kollegen zusammen unsere Strategien“, erzählt Montoya im Interview mit der ila. „Meine Arbeit ist wichtig und nützlich, aber es gibt selbst Linke, die uns verachten.“ Die MVU wurde vor vier Jahren gegründet, nachdem Norman Quijano (von der rechtsextremen ARENA-Partei) 2009 Bürgermeister von San Salvador geworden war und die StraßenhändlerInnen im November 2010 zum ersten Mal zwangsräumen ließ. Davor gab es zwar auch schon Auseinandersetzungen, vor allem in Montoyas Sektor, in dem Raubkopien von CDs und DVDs verkauft werden. Aber mit der Zwangsräumung sahen sich die HändlerInnen gezwungen, sich besser zu organisieren.

Anna Theißen

Du verkaufst CD- und DVD-Raubkopien auf der Straße und bist organisiert – erzähl uns mehr davon.

Nach der ersten Zwangsräumung im November 2010 wurden im Oktober 2012 erneut mehrere Straßenzüge gewaltsam geräumt. Die Polizisten zerstörten die Verkaufsstände und konfiszierten unsere Waren. Dabei hatte Bürgermeister Quijano anscheinend überhaupt keinen Plan für eine Neuordnung der Innenstadt. Wir sind aber wiedergekommen, haben unsere Stände neu aufgebaut und verkaufen weiter, denn das ist unsere Arbeit. Heute bin ich 50 Jahre alt und finde, dass meine Arbeit wichtig und nützlich ist. Es gibt Leute, die auf uns herabschauen und uns informelle VerkäuferInnen nennen, aber wir sind ein Teil der Volkswirtschaft unseres Landes. Nach Angaben der UNESCO und des UNDP arbeiten in El Salvador über 50 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung im informellen Sektor. 

Es gibt auch Arme, die uns diskriminieren, und auch Leute, die sich Linke nennen und uns trotzdem verachten. Das habe ich immer wieder gespürt und man hat es mir auch ins Gesicht gesagt. Sie missachten uns, weil sie eine feste Arbeit haben und nicht wissen, was es heißt, auf der Straße zu verkaufen. Wir haben kein festes Gehalt wie zum Beispiel die Angestellten des Öffentlichen Dienstes, die oft vergessen, dass wir unser Geld damit verdienen, tagtäglich auf der Straße etwas zu verkaufen, um unsere Familien zu ernähren – egal ob es regnet, die Sonne sticht oder Norman Quijano uns räumen lässt. Wir StraßenhändlerInnen sind aber auch nicht gegen eine Neuordnung des Stadtzentrums, wir sind nur gegen die Methoden, mit denen der Bürgermeister das bewerkstelligen will. Er ist arrogant und gewalttätig, zugleich unfähig, da er nicht einmal einen minimalen Plan für die Neuordnung hat. 

Wir sind damit einverstanden, dass die Straßen und Trottoirs geräumt werden, aber nur wenn es eine würdige und nachhaltige Alternative für uns gibt, die mit allen Betroffenen erarbeitet werden muss. Dabei ist uns die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr wichtig, denn an den Bushaltestellen steigt unsere Kundschaft ein und aus. Beim Umsteigen kommen die Leute an unseren Verkaufsständen vorbei und besorgen schnell dieses oder jenes. Wir verkaufen an ArbeiterInnen und Angestellte, die mit dem Bus fahren und zu Fuß gehen, um an ihre Arbeitsplätze zu kommen: Tomaten, Zwiebeln, Öl, Toilettenpapier, Shampoo, Kaffee, billige Kleider und Schuhe – alles für den täglichen Bedarf. Mit einem verantwortungsvollen Bürgermeister und einem gesellschaftlichen Dialog könnten wir sehr wohl eine würdige Alternative finden und dann würden wir auch die Straßen räumen.

In der Stadt Zacatecoluca hat der Bürgermeister zum Beispiel einen runden Tisch eingerichtet, an dem sich alle Sektoren beteiligt haben. Danach haben die StraßenhändlerInnen ihre Stände friedlich geräumt und sind in den neuen Markt gezogen. Man kann die Stadtzentren neu ordnen und den Straßenhandel umsiedeln. Aber dafür bedarf es umfassender Gespräche und einer verantwortungsbewussten Stadtverwaltung. 

Um auf die Raubkopien zurückzukommen: Wie ist der Handel damit organisiert?

In den Jahren 2005 und 2006, als es um die Freihandelsverträge und das geistige Eigentum ging, haben wir für das Recht auf Raubkopien gekämpft – nicht um das Raubkopieren an sich zu verteidigen, sondern um die Arbeitsplätze zu verteidigen, die damit verbunden sind. Leider haben unsere Regierungen keine Beschäftigungspolitik. Deshalb haben wir SalvadorianerInnen nur zwei Alternativen. Entweder wir verkaufen im informellen Sektor oder wir wandern in die Vereinigten Staaten aus. Wer keine Arbeit hat oder entlassen wird, wie es in den Maquiladoras häufig passiert oder wenn die Stadtverwaltung wechselt, landet im Straßenverkauf oder versucht sein Glück im Norden. Wir haben uns für den Straßenhandel entschieden. 

Manchmal kaufen wir unsere Waren bei der Oligarchie, verkaufen praktisch für sie in den Straßen. Andere verkaufen eben raubkopierte CDs und DVDs. Als Mauricio Funes 2009 Präsident wurde, gab es – trotz des Freihandelsabkommens mit seinem Abschnitt zum Schutz des geistigen Eigentums – von Seiten der Zentralregierung keine Repression gegen uns. Hätte damals die Rechte gewonnen, wären bestimmt Tausende von VerkäuferInnen in den Knast gewandert, weil sie diese Produkte verkaufen. So aber wurden verschiedene Kommissionen eingerichtet, wir konnten weiter unserem Geschäft nachgehen und uns weiter organisieren. 

Gibt es in diesem Bereich einen einzigen Lieferanten?

Heutzutage hat jeder Verkäufer dank des technischen Fortschritts seinen eigenen Brenner zu Hause. Die sind jetzt billiger und es gibt welche, wir nennen sie Türme (torres), die in großen Mengen produzieren. Einige Filme laden wir aus dem Internet runter, andere kaufen wir, da muss man sich halt umschauen, wenn ein Film neu anläuft. Nochmals: Wir verteidigen das Raubkopieren nicht, wir verteidigen die Arbeit, die wir dadurch bekommen. Wenn ein Film neu nach El Salvador kommt, dann wurde in den USA damit bereits Geld verdient (in El Salvador laufen nur Hollywood-Produktionen, A.d.Ü.) Die Multis, Sony Music zum Beispiel, die die Filme produzieren, haben bereits viel Geld damit gemacht. Die Musik- und Kinokonzerne werden vom Raubkopieren nicht betroffen. Mit einem Film wie „Rio“ werden vier Millionen US-Dollar verdient, egal ob wir den raubkopieren oder nicht. 

Verkaufst du immer noch raubkopierte CDs und DVDs?

Nein, ich habe praktisch damit aufgehört, weil ich jetzt voll und ganz mit dem Organisieren beschäftigt bin. 

Wie sehen eure Kosten und Preise aus?

25 US-Cents kostet ein Rohling das Stück, zusammen mit Hülle und Beiblatt. Wenn wir zwei CDs oder DVDs für einen US-Dollar verkaufen, verdienen wir 50 Cent. Verkaufen wir eine für einen Dollar, verdienen wir 75 Cent. Die neuen Filme oder Alben verkaufen sich schnell. Wer für einen Dollar das Stück verkauft, verkauft weniger, verdient aber pro CD/DVD mehr. 

Diejenigen, die zwei Stück für einen Dollar verkaufen, sind wohl jene, die ihren eigenen Brenner haben, während diejenigen, die einen Dollar pro CD/DVD nehmen, eher im Großhandel kaufen?

So ist es. 

Wie finanziert ihr den Ankauf?

Mit den Einnahmen. Wenn ich für 100 Dollar einkaufe, muss ich sehen, wie ich die Scheiben mit entsprechendem Gewinn in Werkstätten oder Läden oder auf der Straße verkauft bekomme. Es kommt immer etwas dabei heraus. Wer arbeitet, kann auch davon leben. Im Augenblick läuft der Verkauf freilich schlecht – wegen der wirtschaftlichen Lage im Land, aber auch wegen der Kriminalität. Aber wir versuchen uns weiter durchzuschlagen. Zurzeit verkaufen wir weiter CDs und DVS, aber auch Dinge zum Muttertag, oder wir probieren es zusätzlich mit Tomaten und Zwiebeln, die verkaufen sich schneller. 

Was wird am meisten gekauft?

Neuerscheinungen. Bei den CDs vor allem Perreo, also Reggaetón, und traditionelle Schlager. Manchmal gibt es was Alternatives, wie zum Beispiel Filme über den Krieg in El Salvador, was aber wenig gekauft wird. 

Welche Bilanz zieht ihr nach fast sechs Jahren Norman Quijano als Bürgermeister? 

Norman Quijano interessiert sich nur für sich selbst, er geht über Leichen. In den letzten fünf Jahren hat er uns misshandelt, es hat Tote gegeben, andere sind nach den großen Zwangsräumungen krank geworden. Dabei hat er wie gesagt überhaupt keinen Plan für die Neuordnung des historischen Zentrums. Obwohl wir damals an einem runden Tisch saßen, hat er überraschend und mit Gewalt räumen lassen. Aber wir sind zurückgekehrt und verkaufen an denselben Standorten weiter. Mit anderen Worten: Er hat keine einzige Straße wirklich frei bekommen, im Gegenteil – wo wir zuvor auf zwei Straßen verkauft haben, verkaufen wir heute auf vier, aber er behauptet weiter, Ordnung geschaffen zu haben. Wegen der Unsicherheit kommen viele Leute nicht mehr ins Zentrum. Deshalb wissen viele Leute gar nicht, was Norman Quijano angerichtet hat und wie es heute aussieht. 

Welche Straßen hat er räumen lassen?

Verschiedene Straßen und Avenidas, auf denen der Hauptverkehr durchläuft, die Gebiete um das Rosales-Krankenhaus, die Technologische Universität und verschiedene Parks. Aber wenn du heute ins Zentrum gehst, wirst du sehen, dass wir immer noch da sind, auch wenn die Massenmedien uns und unseren Kampf verschweigen. Wir haben Quijano sogar dazu gezwungen, für die Geräumten neue Partyzelte aufstellen zu lassen. Nach der Zwangsräumung im Oktober 2012 um den Hula Hula Platz (Hauptverkehrsknotenpunkt, d. Red.), als es da aussah wie nach einem Erdbeben und die Polizei unser gesamtes Hab und Gut konfisziert hatte, sind wir zurückgekommen. Rosa Chávez, der Weihbischof von San Salvador, sprach damals von einem „sozialen Erdbeben“. Nachdem er die Partyzelte für uns aufstellen lassen musste, sagten viele Leute, der ist unfähig, erst räumt er sie weg und nachher stellt er ihnen neue Stände hin. Am 10. Januar 2013 verkündete Quijano, dass es keine Zwangsräumungen mehr geben werde, vielmehr werde er am Hula Hula und beim Parque Libertad im Zentrum Märkte bauen lassen, dafür stünden 

10 Millionen Dollar zur Verfügung. Dann ist nichts passiert und am Ende hat er am Hula Hula einen Parkplatz bauen lassen. Danach sagte er, am Hula Hula könne man keinen Markt bauen, weil die Stadt keinen Titel für das Grundstück habe, somit nicht einmal wisse, wem es eigentlich gehört. So betrügt Quijano uns und die ganze Bevölkerung. In den mittelständischen Stadtteilen lässt er die Bäume und Telefonmasten weiß streichen, das ist alles, während sich in den ärmeren Vierteln der Müll aufhäuft und entlang der Bachläufe, die vom Vulkan herunterkommen, die Gefahr von Erdrutschen in der Regenzeit bestehen bleibt. Das alles verschweigen die Massenmedien, deshalb müssen wir weiter kämpfen. 

Gibt es Angaben darüber, wie viele Leute bei den Zwangsräumungen vertrieben und verletzt wurden?

Der Bürgermeister behauptete, dass 900 Stände geräumt worden wären, aber wir haben am Hula Hula 1100 zerstörte Stände gezählt, die in einer einzigen Nacht mit Bulldozern weggeräumt wurden. Weil hier ganze Familien, einige sogar mit Angestellten, arbeiten, gehen wir davon aus, dass es mehr als 4000 Personen getroffen hat. Wenn wir noch die anderen Räumungen berücksichtigen, waren ungefähr 6300 KollegInnen von den Zwangsräumungen betroffen. Bei der ersten Räumung am 25. November 2010 in dem Gebiet um die technologische Universität wurde zum Beispiel die Genossin Luli verprügelt – an dem Tag, als im Parlament das Gesetz zum Schutz der Frauen vor Misshandlungen verabschiedet wurde. 

Wir mussten Luli mit gebrochenem Schlüsselbein und Kiefer ins Krankenhaus bringen. Bei der Basilica-Kirche, ebenfalls im Zentrum, gab es eine weitere Zwangsräumung, weil Quijano damals alle vier Monate räumen lassen wollte. Ein Genosse bekam dabei ein Gummigeschoss der Polizei in die Augen und ist seither blind. Als wir von der Polizei und dem Militär eingekesselt wurden, bekam ein anderer einen Kollaps, weil er ein schwaches Herz hat. Seit den Zwangsräumungen leiden etliche Kollegen an den Nerven. 

Wie war das vor der Zeit unter Norman Quijano?

Wir hoffen heute, dass die FMLN bei den kommenden Gemeinderatswahlen im März 2015 gewinnen wird, weil deren Bürgermeister nie so arrogant und gewalttätig waren. Im Gegenteil, nach Gesprächen konnten einige Straßen neu geordnet werden. Als Norman Quijano 2009 gegen die damalige FMLN-Bürgermeisterin Violeta Menjívar antrat, passierte etwas Schlimmes. Während sie jederzeit mit uns diskutierte, machten ihre Mitarbeiter eine sehr schlechte Arbeit. Wenn die FMLN schlechte Kader einsetzt, sind die Leute enttäuscht.

Deshalb wählten damals viele Norman Quijano. Auch weil er ein Wolf im Schafspelz ist, kaum war er Bürgermeister, zeigte er uns die Krallen. Wir StraßenhändlerInnen kennen Quijano. Jetzt haben wir ihn bei den Präsidentschaftswahlen besiegt, demnächst werden wir ARENA auch in der Gemeinde San Salvador loswerden. Für den Fehler, den wir damals gemacht haben, als Quijano ins Amt kam, haben wir teuer bezahlt. Jetzt kennen wir seine Politik und wollen Politiker, die auf unserer Seite stehen. 

Wählen die StraßenhändlerInnen alle oder gibt es viele, die gar nicht wählen gehen?

Bei der Präsidentschaftswahl gab es kein Problem damit, aber bei den kommenden Gemeinderatswahlen werden wir das Problem haben, dass viele von uns gar nicht aus San Salvador sind. Die Mehrzahl von uns wird also gar nicht hier wählen. Wie sollen wir da Quijano besiegen? Wir werden eine Medienkampagne starten, um den WählerInnen klar zu machen, wer dieser Mann ist. Dafür haben wir inzwischen genügend Material. Dass er schon fünf Jahre regiert und nichts erreicht hat, werden wir darstellen und die entsprechenden Infos vor allem in den mittelständischen Vierteln, wo die Leute nur diese weiß gestrichenen Bäume sehen, Haus für Haus verteilen. Dieser Quijano, der den Leuten zum Beispiel auch eine neue Straßenbeleuchtung versprochen hatte, mit LED-Lampen, und dass er Geld dafür habe. Keine einzige Straßenlaterne ist aufgestellt worden. Das sollen die Leute in diesen Vierteln wissen und natürlich auch, was für ein gewalttätiger und überheblicher Kerl er ist.

Das Interview führte Anna Theißen am 9. Mai 2014 in San Salvador. Übersetzt und bearbeitet von Eduard Fritsch.