Und jetzt die authentische FMLN
Am 9. März 2014 gewann die FMLN mit einer Mehrheit von 0,22 Prozent die Stichwahl um das Präsidentenamt. Denkbar knapp, aber ausreichend. Seither bereitet eine Kommission, bestehend aus dem Führungsgremium der FMLN, der Comisión Política, und einem ausgewählten Stab des amtierenden Präsidenten Mauricio Funes, die Übergabe des Amts an den Neuen, den ehemaligen Guerillakommandanten Salvador Sánchez Cerén, am 1. Juni 2014 vor. Beide Präsidenten sind Männer der FMLN. Das Zelebrieren einer reibungslosen Amtsübergabe wirkt deshalb etwas ungewöhnlich und sieht nach zähen Verhandlungen mit dem scheidenden Präsidenten aus, der sich 2009 bereit erklärt hatte, als „unabhängiger“ Kandidat für die FMLN ins Rennen zu gehen, und auch seine eigene Crew mit ins Amt brachte. Oder nach dem Bemühen, sich auf der Zielgeraden keine Fehler zu erlauben.
Die FMLN erreichte am 16. März das Ziel, das sie seit 1994, seit den ersten demokratischen Wahlen nach dem Friedensabkommens anstrebt: einen FMLN-Präsidenten, der auch wirklich aus den Reihen der FMLN stammt. Das Oberste Wahlgericht (TSE – Tribunal Supremo Electoral) erklärte die FMLN zur Siegerin der Präsidentenstichwahl. Dieser Entscheidung ging der Versuch des unterlegenen Präsidentschaftskandidaten Norman Quijano von der rechten ARENA-Partei voraus, das Wahlergebnis anzufechten. Ihrerseits beim Thema Wahlfälschung alles andere als unerfahren, bezichtigte ARENA die FMLN, die Wahlen manipuliert zu haben.
Da ARENA zumindest bei der zweiten Runde jede finanzielle Unterstützung einflussreicher Unternehmer des Landes in Anspruch nehmen konnte, gab es nach der Wahl ein wahres Mediengewitter aus Fernsehspots, Talkshows und emotionalen Inszenierungen, so zum Beispiel auch die Behauptung, der politische Gegner habe die Haftgefangenen am Wahltag herausgelassen, damit diese für die FMLN stimmten. Besorgniserregender war der Aufruhr, zu dem ARENA seine AnhängerInnen mobilisierte. Straßensperren und wütende Proteste sind in El Salvador nicht völlig ungewöhnlich. Ungewöhnlich und deshalb unberechenbar ist es allerdings, dass solche Demonstrationen von einer rechten, ehemaligen Regierungspartei kommen und vom Aufruf an die Armee gekrönt sind, jetzt einzugreifen, um die Demokratie gegen die FMLN zu schützen. Die Reaktion der Zivilgesellschaft auf den Aufruf zum Staatsstreich kam prompt. Institutionen und soziale Organisationen wie die Rechtshilfeorganisation FESPAD, die Jesuitenuniversität UCA oder der Verband ASALDIG, der kriegsversehrte FMLN-Veteranen vertritt, äußerten sich scharf gegen das Vorgehen von ARENA. Dass der Versuch, „die Armee zu rufen“, das Trauma einer gesamten Gesellschaft aktivieren musste, hatten sich die Strategen der ARENA-Partei wohl nicht so richtig überlegt.
Ein Aspekt ihrer Strategie liegt klar auf der Hand: Der designierte Präsident Salvador Sánchez Cerén und sein Vize Oscar Ortíz sollen bereits „als Betrüger entlarvt“ in die neuen Ämter gehen. Dahin zielte wohl auch die Verfassungsklage, die ARENA nach der Entscheidung des TSE, ihren Antrag auf die erneute Auszählung jeder einzelnen Wählerstimme abzulehnen, beim Obersten Gerichtshof einreichte. Die Verfassungskammer wies die Klage am 26. März ab und erklärte sich für nicht zuständig – allerdings mit der Gegenstimme zweier Verfassungsrichter, die die Auffassung vertraten, die Verfassungskammer wäre schon das richtige Gremium, um über mögliche nicht-verfassungskonforme Inhalte des Wahlgesetzes zu entscheiden. Doch die streng formelle Auslegung der Mehrheit der Richter, die die Argumentation in der Klage von ARENA aufgrund von mangelnden Argumenten und falschen Zeitpunkten zerpflückten, beendete höchstrichterlich das politisch zermürbende Hin und Her nach den Wahlen.
Für beide Parteien geht es unmittelbar nach der Wahl übergangslos weiter in den nächsten Wahlkampf: Am 1. März 2015 finden Parlaments- und Kommunalwahlen statt. Das erklärte Ziel der FMLN ist es, eine so stabile Mehrheit im Parlament zu gewinnen, dass ihre Regierungsfähigkeit nicht von mehr oder weniger festen Bündnissen mit anderen Parteien abhängt. Im Juni will sie sich zu der wichtigen Frage äußern, wer als KandidatIn für das Bürgermeisteramt in der Hauptstadt San Salvador in den Ring steigen wird, ein prestigeträchtiger Posten, auf dem überdies zur Zeit der Herausforderer der FMLN in den Präsidentschaftswahlen, Norman Quijano, sitzt. Derzeit wird die First Lady und Ministerin für Inklusion, Vanda Pignato, als mögliche Kandidatin gehandelt. Wahlverlierer Norman Quijano hat sich als amtierender Bürgermeister durch sein brutales Durchgreifen gegen die StraßenhändlerInnen im Zentrum San Salvadors viele Sympathien verscherzt.
Mauricio Funes seinerseits gilt Umfragen zufolge als einer der beliebtesten Präsidenten Lateinamerikas. Auch das mag ein Grund sein, weshalb die eingangs erwähnten Kommissionen aus FMLN-Führung und Präsidentenberatern gerade so eng zusammenarbeiten. Auf das Prestige des eigenwilligen FMLN-Zugpferds von 2009 möchte die neue Regierung ungern verzichten. Doch sowohl FMLN-Funktionäre als auch große Teile der FMLN-Basis wünschen sich jetzt, dass auch mal die „authentische“ FMLN zum Zuge kommt.
Salvador Sánchez Cerén und Oscar Ortíz kündigten kurz nach dem Wahlsieg an, für alle SalvadorianerInnen regieren zu wollen. Auch mit den UnternehmerInnen und ihren Verbänden wolle die neue Regierung in Dialog treten. Wichtiger noch: Der designierte Präsident rief die Bevölkerung, die durch die Spannungen nach den Wahlen beunruhigt war, zur „Versöhnung“ auf. Für das Regieren „für alle SalvadorianerInnen“ gibt es in El Salvador eine sehr viel breitere Mehrheit, als es das knappe Wahlergebnis vermuten lässt. „Die Leute wollen arbeiten“, sagte Luis Armando González. „Sie wollen keine Straßenschlachten, sie wollen sich um ihre Anliegen kümmern.“ Schon vor der zweiten Wahlrunde kam der ruppige Ton im Wahlkampf bei vielen nicht gut an.
Die FMLN-Regierung ist erstmals mit einem Gespann aus „historischen“ FMLN-Kämpfern angetreten: der eine mit einem streng „marxistisch-leninistischen“ Hintergrund, ehemaliger Vizepräsident und Erziehungsminister ad honorem, der andere seit Jahren Bürgermeister Santa Teclas im Einzugsgebiet der Hauptstadt San Salvador, mit dem Image eines „gemäßigten“ und sehr ehrgeizigen Berufspolitikers. Die Regierung wird sich in den nächsten Jahren einer Reihe von Herausforderungen zu stellen haben. Generell stehen die Top-Themen an, die auch schon die Regierung von Mauricio Funes beschäftigten, teils mit wenig positiven Ergebnissen: Neben der öffentlichen Sicherheit die Schaffung von Arbeitsplätzen und der Aufbau eines funktionierenden Steuersystems. Recht gute Noten bekam Funes für die Bildungspolitik, die Förderung der Landwirtschaft oder die Umstellung der staatlichen Förderung für das landesweit zum Kochen verwendete Flüssiggas. Staatsgelder für die Flüssiggasunternehmen wurden durch einen direkten finanziellen Zuschuss vor allem für bedürftige Haushalte ersetzt.
Als die FMLN 2012 bei den Bürgermeisterwahlen schwere Schlappen hinnehmen musste, sahen viele BeobachterInnen das Problem darin, dass die Regierung Funes „nichts“ für den Mittelstand getan hatte, dessen Stimmen sie 2009 immerhin den Wahlsieg verdankt hatte. Stattdessen fokussierte die Funes-Regierung die Hilfen auf die ärmsten Bevölkerungsschichten, insbesondere die Landbevölkerung. Diese Option zahlte sich in den Wahlen 2014 allerdings aus. Die Sympathie dieser Bevölkerungsteile – traditionell Wahlvolk der rechten ARENA-Partei – für die FMLN stieg leicht an. Mit den begrenzten Finanzmitteln eines sehr armen Staats wird die FMLN-Regierung in den nächsten fünf Jahren versuchen müssen, einen Mittelweg einzuschlagen, der sowohl den Ansprüchen des Mittelstands als auch der Armen gerecht wird.
Bei der Politik der öffentlichen Sicherheit steht die FMLN vor einer der schwersten Herausforderungen. Nicht nur sehen über 62 Prozent der SalvadorianerInnen (laut Umfrage der iudop) Kriminalität und Unsicherheit, die kriminellen Jugendbanden (Maras) sowie die Gewalt als schwerwiegendste Probleme des Landes an. Die Regierung erbt auch von ihrer Vorgängerregierung den unseligen „Pakt“ mit den Maras. Dieser vor zwei Jahren von Kirchenvertretern und Vertrauten der Banden ausgehandelte „Gewaltverzicht“ der Maras funktionierte mehr schlecht als recht. Über Gegenleistungen wird nicht gerne gesprochen und die Funes-Regierung versuchte stets, sich mehr als Beobachterin denn als Akteurin bei diesem Pakt zu präsentieren. Immerhin ist ein „Pakt“ einer linken Regierung mit – im besten Fall – Handlangern des organisierten Verbrechens kein guter Ausgangspunkt und die neue FMLN-Regierung wäre gut beraten, sich ab jetzt rechtsstaatlichen Maßnahmen der Konfliktlösung zuzuwenden, wie der Reform des Strafvollzuges, des Jugendstrafrechts, Reintegrationsmaßnahmen und der Schaffung sozialer Alternativen in den Stadtvierteln.
Um regieren zu können, benötigt die FMLN politische Ansprechpartner. BeobachterInnen sehen in der Partei GANA, die 2010 von ARENA-AussteigerInnen gegründet wurde, eine neue „gemäßigte“ Rechte, die diese Rolle durchaus übernehmen kann. Da 2014 jedoch das Motto „Nach den Wahlen ist vor den Wahlen“ gilt, muss sich die FMLN auf einen schwierigen politischen Zickzackkurs einstellen. Einerseits muss sie genug neue AnhängerInnen überzeugen, ihre Stimme im März 2015 für die FMLN abzugeben. Andererseits ist sie daran interessiert, dass GANA als politische Partnerin bestehen bleibt.
Für einen Teil der FMLN-Basis und zahlreiche einflussreiche FMLN-PolitikerInnen wird eine stärkere Integration El Salvadors in das von Venezuela geführte wirtschaftliche und politische ALBA-Bündnis eine wichtige Rolle spielen. Vom politischen Standpunkt aus liefe El Salvador damit jedoch die Gefahr, eine Rolle als unbedeutende Schachfigur in einer zunehmend internationalen Auseinandersetzung anzunehmen. Die große außenpolitische Stärke der Funes-Regierung bestand darin, es sich nicht mit den USA zu verderben, wo fast zwei Millionen SalvadorianerInnen leben, die ihre Familien in El Salvador finanziell unterstützen, ohne auf gute Beziehungen zur ALBA zu verzichten.
Die neue FMLN-Regierung wird ebenfalls abwägen müssen zwischen ideologischen Präferenzen und der Verantwortung ihrer Bevölkerung gegenüber. Daneben wird sich die neue Regierung mit einem Thema beschäftigten müssen, vor dem sich über 20 Jahre lang jede andere Regierung El Salvadors hat drücken können. Im letzten Jahr erklärte der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte das nach den Friedensabkommen in El Salvador 1993 erlassene Amnestiegesetz für Verbrechen im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg für verfassungswidrig, soweit es sich um schwere Menschenrechtsverletzungen handelt. Damit wird sich El Salvador der lange ausstehenden Auseinandersetzung mit diesem Teil seiner Vergangenheit nicht mehr entziehen können.