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Ein Abbild unerfüllter Erwartungen

Ein Besuch im „Museo de la memoria y los derechos humanos“ in Santiago de Chile

Im Januar 2010 wurde in Santiago de Chile das Museo de la memoria y los derechos humanos (Museum der Erinnerung und der Menschenrechte) von der damaligen und nun wieder neuen Präsidentin Michelle Bachelet eröffnet. Der Errichtung des Museums war ein längerer Verhandlungsprozess zwischen den Parteien der zentristischen Concertación (vor allem Christ- und Sozialdemokratie), der politischen Rechten, die in großen Teilen die Pinochetdiktatur bis heute rechtfertigt, und den Opfer- und Menschenrechtsorganisationen vorausgegangen. Entsprechend sind das Museum und seine Dauerausstellung Ausdruck eines Kompromisses zwischen verschiedenen Sichtweisen auf die Diktatur. Im folgenden, persönlichen Text berichtet Tamara Vidaurrázaga, deren Eltern, Onkel und Großeltern zu den Verfolgten gehörten, was sie bei ihrem ersten Besuch in diesem Museum empfunden hat.

Tamara Vidaurrázaga

Als ich beschloss, das Gedächtnismuseum zu besuchen, bereitete ich mich seelisch auf das vor, was kommen würde. Ich fuhr bis zur Metrostation Quinta Normal und kreuzte die Matucana-Straße, während ich mir den Schmerz der Begegnung mit Abschnitten meines eigenen Lebens hinter dem Glas der Schaukästen vorstellte. Ich versuchte, mich vorzubereiten, um keinen erschütternden Überraschungen ausgesetzt zu sein, denn eines war mir klar: ich wollte nicht weinen.

Vorher hatte ich überlegt, ob ich meine siebenjährige Tochter mitnehmen sollte oder nicht. Könnte der Besuch dazu dienen, eine Geschichte zusammenzufügen, von der sie nur Bruchstücke gehört hatte? Dann fragte ich mich, was ich tun würde, wenn man im Museum über Folter berichtete. Wäre es angebracht, dass sie in ihrem Alter von einer Ungeheuerlichkeit erfährt, die noch unerklärbarer als der Tod ist? Ich erinnerte mich an mich selber, wie ich als Kind von der Welt der Erwachsenen erfuhr, von Waffen, Morden und Leben im Untergrund. Ich erinnerte mich, wie ich meine Worte maß, wie eine Erwachsene überlegte, aber kindgemäß handelte, um den so schon schwer besorgten Eltern nicht noch mehr Sorgen zu bereiten.

Ich nahm sie nicht mit. Ich wusste nicht, wie ich ihr das hätte erklären können, was für sie keine abstrakten, sondern an nahestehende Menschen gebundene Ereignisse waren. Meine Ausführungen über Gefängnis und Folter würden sich nicht auf „die Leute“ beziehen, sondern auf ihre Großeltern, auf die Tole und den Tata Nacho, ganz konkrete Menschen, die sie in ihrer heutigen Unschuld abgöttisch liebt. Nachdem ich es gesehen habe, kann ich mir überlegen, ob ich sie mitnehme, war meine Schlussfolgerung.

Als ich eintrat, vermittelten mir zwei Landkarten Information, über die ich nicht verfügt hatte: auf der einen waren die Gedenkstätten, die es in Chile gibt, eingezeichnet; auf der anderen gaben rote Lichter alle unter der Diktatur existierenden Folter- und Haftzentren an. Endlos viele Lichtpunkte leiteten den Besuch ein, machten den Umfang und die Vielfalt des Horrors sichtbar, der mir in den Tagen meiner Kindheit so nahe gewesen war.

Es war seltsam, die ausgestellten Gegenstände zu sehen und mich in ihnen wiederzufinden. Die Geschichte meiner Kindheit ausgestellt in Glaskästen, damit sie nicht nur mit einem Kennerblick gesehen wird, sondern auch mit Überraschung angesichts mancher Einzelheiten, die für andere nur Teil der Geschichte und nicht ihrer eigenen Geschichte sind. Die Anhänger und Lederartikel, die von „den Gefangenen“ hergestellt wurden und die für mich die Erinnerung an die Geschenke meines Vaters oder seiner Mitgefangenen waren. Die arpilleras, aus Stoffresten hergestellte und mit Wolle bestickte Bilder, die ich meine Mutter und ihre Freundinnen sticken sah, ein Wollfaden nach dem anderen, zusammengedrängt von einer Nähnadel, die allmählich die freien Stellen auslöschte. Die Miniaturbriefe auf fast durchsichtigem Papier, um sie ganz klein zu machen und im Mund oder einem anderen Ort zu verstecken, wo sie nicht gelesen werden könnten. Briefe, die ich bis heute wie einen Schatz aus einer Zeit aufbewahre, die bei so viel an Einkaufszentren und nationalem Zirkus manchmal irreal erscheint.

Was mich am meisten erstaunte war, dass ich angesichts so vieler Gegenstände und so vieler Erinnerungen nicht weinte. Alles war mir nahe, als wäre ich auf einem Territorium, das mir schon lange gehörte. Vor der Wand mit den Gesichtern der Verschwundenen und Hingerichteten setzte ich mich lange hin, um die zu suchen, die mir schon bekannt waren. Neben mir tat ein weiterer Besucher dasselbe. Während alle anderen eine Collage von jungen Gesichtern voller Hoffnung in ihre Revolution sahen, suchten wir die bekannten Geschichten und Antlitze wie jemand, der einen Angehörigen oder einen Freund inmitten einer Menschenmenge erkennt. Würde ich die Augen meines Onkels unter so vielen Blicken finden können? Ich wollte ihn finden, um dann später mit meiner Cousine wiederzukommen und ihr ihren Vater inmitten dieses Gedenkwerkes zu zeigen. Aber es waren zu viele, um ihn bei diesem ersten Besuch und der immer drängenden Zeit zu finden.

Auf jeden Fall wusste ich, dass ich irgendwann, da das Museum einen chronologischen Ablauf aufwies, nach dem Attentat auf Pinochet auf sein Foto stoßen würde. Und wir kamen hin. Da war sein Antlitz neben dem von Felipe Rivera, Abraham Muskablit und José Carrasco Tapia, die alle am 8. September 1986 ermordet wurden1, um den Tod der Mitglieder der Eskorte von Pinochet zu rächen, die beim Attentat gegen den Diktator umgekommen waren. Auch deren Gesichter wurden gezeigt, obwohl ich nicht verstehe warum. Ich frage mich immer noch, was sie dort zu tun haben und ob damit nicht eine Gleichstellung stattfindet, wie bei einem Krieg zwischen zwei gleichrangigen Seiten und nicht so, wie es wirklich war: ein Staat gegen die Zivilgesellschaft, die auch dann noch, wenn es minimal bewaffnete Gruppen gibt, weiterhin Zivilgesellschaft bleibt.

Bevor ich das Foto anblickte, atmete ich tief durch. Ich wusste, dass ich gleich weinen müsste, oder irgendetwas ähnliches. Und da war nicht nur sein Antlitz, es gab auch eine Zeichnung mit einem Liebesgedicht, wahrscheinlich für Marisol, meine Tante, dachte ich. Ich überlegte, was wohl in Valentina, meiner Cousine, vorgehen würde, wenn ich ihr das Bild ihres Vaters und die Zeichnungen zeigte, ausgestellt in einem Museum als etwas sehr Wichtiges. Ob es ihr gefallen würde? Würde es seltsam sein, ihren verhätschelnden Vater so heroisiert durch die Museologie zu sehen? Ich guckte mir alles aufmerksam an. Und trotzdem weinte ich nicht.

Ich ging den gesamten Horror meiner Kindheit durch. Carmen Gloria Quintana und Rodrigo Rojas Denegri als Offenbarer des Gipfelpunktes pinochetistischer Grausamkeit.2 Die drei Kommunisten, denen die Kehle durchschnitten wurde3 und zwei von denen Väter von Schulfreundinnen waren, zwei, die vor den Toren, die ich durchschritt, um zur Schule zu gehen, festgenommen und entführt wurden. Die Geschichte war mir weiterhin nahe. Ich sah mir jedes Videoband, jeden Brief, jedes Erinnerungsstück, jedes Dokument und jede Zeitung an. Nichts brachte mich zum Weinen und ich hatte schon fast das Ende der Ausstellung erreicht. Ich wunderte mich über mich selbst.

Dann hörte ich in der Ferne eine bekannte Musik, mir schnürte sich die Kehle zu und die Tränen brachen unkontrollierbar aus. „Chile, die Freude ist schon naheeeee“. Es waren die Musik der Kampagne des NEIN und die Spots voller Hoffnung, die ich mir als Elfjährige pünktlich in all jenen nervösen Nächten ansah (am 5. Oktober 1988 wurde ein Plebiszit durchgeführt, um zu entscheiden, ob Pinochet bis 1997 an der Macht bleiben sollte oder nicht – d. Übers.). Und dann verstand ich.

Der Horror der Morde, des Verschwindenlassens, die Trennung von unseren Eltern, das Auseinanderfallen der Familien, die Angst davor, mir jede Nacht vorzustellen, dass ich in den Nachrichten den Namen meiner Mutter oder meines Vaters hören würde als einen mehr in der Liste der Ermordeten, waren angesichts des Endergebnisses um vieles entsetzlicher. Denn wenn die Versprechen, die man uns machte, als wir klein waren, erfüllt worden wären und wir heute in jenem Land der Revolution und sozialen Gerechtigkeit leben würden, dann hätte all der Horror einen Sinn gehabt. Die eigenen, persönlichen Schmerzen wären Opfer gewesen, die man vergessen kann, während jene neue Welt aufgebaut wird, von der wir dachten, dass sie am Ende des Weges unser unantastbares Recht sein würde.

Und was mir gerade dieses Liedchen vom Spot des NO offenbarte, war, dass „am Ende des Weges“ wir kaum dieses haben: ein mittelmäßig demokratisches Land, das in seiner angeblichen Freiheit einen Präsidenten wie Piñera wählt, einen Vertreter jener dunklen, diktatorischen und menschenrechtsverletzenden Vergangenheit. Ich wurde darauf vorbereitet, als Erwachsene in einer neuen Welt zu leben oder andernfalls zur Guerrillera zu werden, bis das erreicht wird. Was mache ich dann in diesen Tagen voller Uneindeutigkeit und Individualismus, die ich mir nie vorgestellt habe, überlegte ich, während ich mir das Lied anhörte.

Ich war nicht die einzige, die das Videoband perplex machte. Neben mir betrachteten weitere junge Menschen den Bildschirm und rissen sarkastische Witze über die versprochene Freude. Der Besuch war zu Ende und es waren nicht die Schrecknisse, die mich zum Weinen brachten, sondern die Enttäuschung angesichts der versprochenen Zukunft.

  • 1. Felipe Rivera, Abraham Muskablit, José Carrasco Tapia und Gastón Vidaurrázaga wurden am 8. September 1986 ermordet.
  • 2. Carmen Gloria Quintana und Rodrigo Rojas wurden am 2. Juli 1986 während eines Nationalstreiks von Militärs mit Benzin übergossen und angezündet, eine Greueltat, die er nicht überlebte.
  • 3. José Manuel Parada, Manuel Guerrero und Santiago Nattino wurden am 28. bzw. 29. Márz 1985 festgenommen und einen Tag darauf fand man ihre Leichen mit durchschnittener Kehle

Der Beitrag erschien zuerst in der von der Menschenrechtsorganisation Cintras herausgegebenen Zeitschrift Reflexión (39/2010) und wurde von deren Redakteurin Beatriz Brinkmann für die ila übersetzt.