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Klassiker der Entwicklungstheorie. Von Modernisierung bis Post-Development
Britt Weyde

Den HerausgeberInnen dieses Büchleins fiel irgendwann auf, dass es im deutschsprachigen Raum vergleichsweise wenig Sammlungen zur Entwicklungstheorie gibt, vor allem Bände, in denen die Texte der Klassiker selbst abgedruckt sind. Diese Leerstelle möchten sie mit ihrem Buch füllen. Dafür wurden einige Texte erstmals ins Deutsche übersetzt, ältere Übersetzungen dankenswerterweise erheblich überarbeitet. Die Anordnung der Kapitel folgt grob den historischen Phasen, in denen die jeweiligen Denkschulen den Diskurs bestimmten, was laut den HerausgeberInnen aber nicht den Eindruck erwecken solle, als habe eine Theorie die jeweils vorherige ersetzt. „Vielmehr existierte und existiert stets ein Nebeneinander miteinander rivalisierender Ansätze, deren jeweilige Bedeutung stark von den politischen und weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und den ihnen zugrunde liegenden Machtverhältnissen abhängt.“ (S. 21)

Begonnen wird mit drei Aufsätzen, die unter der Überschrift „Wachstum und Modernisierung“ gruppiert wurden. So schreibt zum Beispiel Alex Inkeles im Jahr 1966 über „Die Modernisierung des Menschen“. Nicht nur ÖkonomInnen folg(t)en der Modernisierungstheorie, auch SoziologInnen oder AnthropologInnen. Ihnen allen gemeinsam ist ein binäres Denken, in dessen Zentrum der Gegensatz von Tradition und Moderne steht, wobei für diese TheoretikerInnen außer Frage steht, dass letztere sich durchsetzen wird. Da laut dem Soziologen Alex Inkeles Entwicklungsprozesse maßgeblich von kulturellen Faktoren bestimmt werden, erstellt er eine Liste von Umweltbedingungen und Eigenschaften, aufgrund derer ein Mensch zu einem mehr oder weniger „modernen Wesen“ wird; so spiele zum Beispiel eine Rolle, in welchem Umfeld er lebt (städtisch oder ländlich), wie sein Umgang mit Zeit, seine Aufgeschlossenheit für Innovationen, seine persönliche Haltungen zu Themen wie Demokratie, Planung, Verteilungsgerechtigkeit, Geburtenkontrolle etc. sind.  Diese Vorarbeit für Inkeles' umfassende „Modernitätsskala“ hält verräterische Sätze wie folgenden bereit: „Einige der staatlichen Institutionen, speziell das Militär, können eine besonders wichtige Rolle bei der Einführung des Menschen in die moderne Welt spielen… indirekt durch die Vorbildwirkung von Routine, Planung, technischen Fertigkeiten und Effektivität“ (S. 67).

Nach den Modernisierungstheoretikern werden im zweiten Teil „Erste Dissonanzen“ vorgestellt, unter anderen Gunnar Myrdals „Ökonomische Theorie und unterentwickelte Regionen“ aus dem Jahr 1957. Der schwedische Wirtschaftswissenschaftler ist für seine Theorie der räumlichen und sozialen Polarisation bekannt geworden, die den Teufelskreis der Armut und Stagnation zu erklären versucht, der einige Länder beziehungsweise Regionen in der Unterentwicklung verharren lässt. Mit seiner Erklärung, dass Entwicklungsprozesse zirkulär und kumulativ verlaufen, widerspricht er der neoklassischen Annahme, dass der Markt automatisch ein Gleichgewicht herstelle. Von daher plädiert er für geregelte öffentliche Eingriffe, die Ungleichheiten vorbeugen sollen, und weist schon in den 50er-Jahren darauf hin, „dass ein unreguliertes Bankensystem die Ersparnisse aus den ärmeren Regionen abzieht und in die reicheren und fortgeschrittenen Gebiete transferiert, wo die Kapitalerträge hoch und sicher sind“ (S. 82). Diskutierenswert ist seine Einschätzung, „dass die billigen und willfährigen Arbeitskräfte, die unterentwickelte Regionen zu bieten haben, normalerweise nicht ausreichen, um Industrie anzuziehen“ (S. 84). Wenn man an die Maquilaindustrie in Mexiko und Mittelamerika denkt, möchte man ihm zunächst widersprechen; allerdings kommt dort hinzu, dass sich die entsprechenden Niedriglohnstandorte den transnationalen Unternehmen mit Steuererleichterungen, Auflagenbefreiungen, garantierter Investitionssicherheit etc. anbiedern.

Der Querdenker Albert O. Hirschmann schreibt über „Entwicklungshindernisse: Wie man sie klassifizieren und gleichsam wegzaubern kann“ (1965). Wann sind konkrete Situationen eindeutig vorteilhaft oder nicht? Der Ökonom und ehemalige Widerstandskämpfer gegen den Faschismus sagt: Es hängt vom Kontext ab! Was zum Beispiel Teilen Südostasiens zusetze, sei „eher zu viel Individualismus und Unternehmertum als zu wenig und es ist die geringe Bereitschaft, diszipliniert in einer hierarchischen Organisation zu arbeiten“ (S. 95). Die Unart, Entwicklungsvoraussetzungen mit bestimmten Einstellungen und Persönlichkeitsmerkmalen in Verbindung zu bringen, kontert er geschickt mit einem Ausflug in die Theorie der kognitiven Dissonanz, die besagt, „dass Einstellungsänderungen nicht nur Voraussetzungen für, sondern auch Folgen von Verhaltensänderungen sein können“ (S. 102). Damit könnte man auch heutzutage wunderbar die verquasten biologistisch-rassistischen Thesen eines Thilo Sarrazin zerlegen.

Schließlich kommt im zweiten Teil auch eine Frau zu Wort, Ester Boserup, die über „Die ökonomische Rolle der Frau in Afrika, Asien, Lateinamerika“ schreibt (1970). Die dänische Ökonomin zeigt auf, wie die Modernisierung der Landwirtschaft in verschiedenen Kulturen bei Männern und Frauen unterschiedliche Ergebnisse zeitigt. Europäische Siedler, Kolonialverwalter und später technische Berater hätten bei der Einführung der modernen kommerziellen Landwirtschaft die weiblichen Arbeitskräfte vernachlässigt und nur die männliche Arbeitsproduktivität gefördert, selbst in Gegenden, wo traditionell Frauen hauptsächlich für den landwirtschaftlichen Anbau zuständig waren. Der Status der Frau hätte sich dadurch in diesen Gebieten verschlechtert (vgl. S. 113). Hier wird in anschaulichen Beispielen erzählt, wie auf eurozentristische, patriarchale Art und Weise Entwicklungsmodelle übergestülpt wurden, die notwendigerweise scheitern mussten.

Im dritten Teil werden Beiträge zu Strukturalismus, Dependenztheorie und Weltsystemanalyse vorgestellt. Der argentinische Ökonom Raúl Prebisch erklärt in seinem Text „Für eine bessere Zukunft der Entwicklungsländer“ (1964), warum die strukturellen Unterschiede in Zentrum und Peripherie dafür sorgen, dass sich die terms of trade der Entwicklungsländer verschlechtern, das heißt, die Exporterlöse für Rohstoffe langfristig fallen, während jene für Industriegüter steigen. Daraus folgte für ihn eine Entwicklungsstrategie, die auf eine staatlich gelenkte importsubstituierende Industrialisierung setzt. Konkrete Schritte gegen diese strukturelle Tendenz sieht Prebisch zum Beispiel in Rohstoffabkommen, die die Preise verbessern und Zugang zu den Industriestaaten erleichtern, oder auch in Ausgleichsfinanzierungen. Übergeordnetes Ziel ist dabei nach wie vor, „angemessene Wachstumsraten zu errei-chen“ (S. 145).

Andre Gunder Frank stellt sich in seinem Beitrag „Die Entwicklung der Unterentwicklung“ (1966) fundamental gegen die noch zu Beginn der 60er-Jahre vorherrschende Modernisierungstheorie. Seine Ausgangsthese besagt, „dass die Expansion des kapitalistischen Systems in den vergangenen Jahrhunderten sogar die scheinbar isoliertesten Bereiche der unterentwickelten Welt effektiv und vollständig durchdrungen hat“ (S. 150). Als Folge davon hat sich ein weltweites System aus Metropole-Satellit-Beziehungen herausgebildet, das sich nicht auf die internationale Ebene beschränkt, sondern auch das wirtschaftliche und soziale Leben der lateinamerikanischen Kolonien und Länder durchdringt und strukturiert. Dabei wird jeder Satellit benutzt, „um Kapital oder ökonomisches Surplus aus seinen eigenen Satelliten abzusaugen und einen Teil dieses Surplus in die Weltmetropole zu lenken, der gegenüber alle Satelliten sind“ (S. 152).

Somit ist die herrschende Unterentwicklung gerade Ergebnis der kapitalistischen Expansion und besteht eben nicht aufgrund von Kapitalmangel oder archaischer Institutionen (wie es NeoklassikerInnen und ModernisierungstheoretikerInnen behaupten). Der überzeugende Beleg für seine These: Die Regionen, die heute am meisten unterentwickelt sind, hatten in der Vergangenheit die engsten Verbindungen zur Metropole, waren die wichtigsten Rohstoffexporteure und stellten die bedeutendsten Kapitalquellen dar, bis sie von der Metropole fallen gelassen wurden, weil sich – aus den verschiedensten Gründen – das Geschäft nicht mehr lohnte. Als Beispiel werden die zuckerexportierenden Karibikinseln und die ehemaligen Bergbaugebiete Perus und Boliviens genannt. Das verspricht für die heutzutage vom Extraktivismus am stärksten betroffenen Regionen nichts Gutes.

Der vierte Teil erteilt zwei Vertretern des Neoliberalismus das Wort. Peter T. Bauer arbeitete sich bereits 1958 in „Wirtschaftswachstum und die neue Orthodoxie“ (1958) an der Theorie vom „Teufelskreis der Armut“ ab und liefert ein gutes Beispiel dafür, wie Entwicklungstheorien in Zeiten des Kalten Krieges funktionierten. Entwicklungshilfe lehnte er ab, treibende Kräfte für Entwicklung, wie unternehmerische Eigeninitiative, gelte es zu unterstützen. Da neoliberales Gedankengut auch heutzutage noch recht hegemonial ist, soll hier nicht weiter darauf eingegangen werden. Seine Konzepte fanden Mitte der 80er-Jahre Eingang in die Forschungsabteilung der Weltbank. Und unter der Leitung von Deepak Lal, der als zweiter neoliberaler Vertreter in dem Buch vertreten ist, wurden dort die marktradikalen Strukturanpassungsmaßnahmen entworfen, die als Washington Consensus bekannt geworden sind und den Ländern des Südens im Zuge der Schuldenkrise aufoktroyiert wurden.

Im fünften Teil schließlich werden kritische und alternative Denkansätze aufgezeigt, die das herrschende Entwicklungs- und Wachstumsparadigma in Frage stellen, etwa die Thesen Arturo Escobars, eines führenden Vertreters des Post-Development-Ansatzes (siehe auch Beitrag „Post-Development und Buen Vivir“ auf S. 8). Des Weiteren wird die Subsistenzperspektive der feministischen Soziologinnen Veronika Bennholdt-Thomsen und Maria Mies anhand von Auszügen aus ihrem 1997 erschienenen „Eine Kuh für Hillary“ (1997) dargestellt. Auch hier lassen sich Bezüge zum Buen Vivir-Ansatz aus den Anden herstellen, etwa wenn die Vorstellung von Fortschritt als linearem, evolutionärem Prozess infrage gestellt wird. Vor allem betonen die Autorinnen die Notwendigkeit, in einer begrenzten Welt dem grenzenlosen Wachstums- und Fortschrittsglauben abzuschwören, da dies unweigerlich auf Kosten anderer geschehe. „Fortgesetzte Akkumulation ist nur möglich, wenn dauernd weitere Milieus und Gebiete für mehr Arbeitskräfte, mehr Rohstoffe und mehr Märkte erschlossen werden.“ (S. 250) Diese Gebiete nennen sie „Kolonien“, womit sie wiederum die Natur, Frauen, fremde Völker, Gebiete und Naturen meinen.

Insgesamt ist das kompakte Buch eine gut lesbare Zusammenstellung von nicht allzu langen Originaltexten. Das erklärte Ziel, eine Einführung in die oder auch Auffrischung der verschiedenen Denkansätze zu Entwicklung und Unterentwicklung der letzten sieben Jahrzehnte zu bieten, wird auf jeden Fall erreicht.

Gerald Hödl, Wiebke Sievers, Karin Fischer (Hg.), Klassiker der Entwicklungstheorie. Von Modernisierung bis Post-Development, Mandelbaumverlag, Wien 2010 (2. Auflage), 224 Seiten, 16,80 Euro