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Von kreolischer Gentrifizierung und städtischen Angsträumen

Rezension zum Sammelband „Stadtforschung aus Lateinamerika“

Obwohl Lateinamerika mit seinen Megastädten wie Mexiko-Stadt, Buenos Aires, São Paulo, Lima oder Bogotá den weltweiten Rhythmus für eine massive Verstädterung vorgibt – 2010 lebten 80 Prozent der Bevölkerung in Städten –, haben Forschungsergebnisse und Ansätze aus Lateinamerika nur selten Eingang in den deutschen Diskurs gefunden. Die Stadtforschung folgte damit dem allgemeinen Trend, dass die Sozial- und Kulturwissenschaften außerhalb der Regionalwissenschaften kaum transnational aufgestellt sind. Die Kulturwissenschaftlerin Anne Huffschmid und die Stadtethnologin Kathrin Wildner leisten mit ihrem Sammelband demnach einen wichtigen Beitrag zur Sichtbarmachung lateinamerikanischer AutorInnen aus dem Feld der Stadt- und Raumforschung im deutschsprachigen Raum, denn alle Artikel sind aus dem Spanischen und Portugiesischen übersetzt.

Andreas Hetzer

LateinamerikaforscherInnen dürften einige Texte und AutorInnen geläufig sein, aber eine Zusammenstellung dieser Art ist meines Erachtens einzigartig. So nimmt es nicht Wunder, dass das Werk 460 Seiten geballten Lesestoff und eine große Bandbreite an Beiträgen bietet. Die LeserInnen sollten sich davon nicht abschrecken lassen, denn die Zweiteilung des Buches in theoretische Zugänge und einzelne konkrete Forschungsfelder ermöglicht eine selektive Lektüre ganz unterschiedlicher Couleur. Das Großprojekt wurde im Rahmen des internationalen Graduiertenkollegs „Zwischen Räumen/Entre Espacios“ des Lateinamerika-Instituts der Freien Universität Berlin verwirklicht und ist in der Reihe Urban Studies des transcript-Verlags hervorragend positioniert. Bei der Lektüre ist zu beachten, dass die Artikel allesamt von WissenschaftlerInnen verfasst und dementsprechend voraussetzungsreich geschrieben sind. In den empirischen Studien laufen anthropologische, ethnographische, geographische, sozial- und kulturwissenschaftliche Methoden zusammen, um den komplexen Gegenstand des Urbanen zu erfassen. Wer also hofft, dass städtische soziale Bewegungen oder Recht-auf-Stadt-Netzwerke ihre Kämpfe vorstellen, der wird enttäuscht werden. Wie im Titel des Buches bereits deutlich wird, geht es in erster Linie um den wissenschaftlich-analytischen Zugang zum komplexen Phänomen Stadt.

Die AutorInnen des Sammelbands folgen einem Verständnis von „Stadt als einem verdichteten und komplexen Raum, der kontinuierlich mittels kultureller, sozialer und politischer Praktiken verhandelt wird“, der also eben „kein objektives, statisch festgelegtes Behältnis“ (S. 9) ist. Demnach träfen in der Stadt materielle Strukturen und soziale Akteure, die durch ihr Handeln, ihre Vorstellungen und Diskurse urbane Räume produzieren, aufeinander. Letztere haben selbstredend konträre Ansichten darüber, wie urbane Räume zu gestalten oder zu nutzen seien, so dass damit Konflikte um Inklusion und Exklusion einhergehen. Das permanente Aushandeln des öffentlichen Raumes und das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Interessen seien unumgänglicher Bestandteil der städtischen Gemeinschaft. Gesellschaftliche Kämpfe fänden hier in verdichteter Form ihren Ausdruck, wobei die lateinamerikanischen Metropolen durch eine krasse soziale Spaltung gekennzeichnet seien. Als weitere Besonderheiten der Verstädterung Lateinamerikas werden in der Einleitung vier Merkmale eingeführt: 1) die verschiedenen architektonischen Schichten aus verschiedenen historischen Epochen; 2) die kulturelle Verschiedenheit und Mischungsprozesse zwischen Ethnien und Klassen; 3) eine ausgeprägte Kultur des öffentlichen Raumes im Sinne von zivilgesellschaftlicher und politischer Mobilisierung; 4) das Informelle bzw. das Unregulierte als grundlegendes Element. Damit sind bereits einige Orientierungslinien gesetzt, die sich in unterschiedlicher Art und Weise in den Beiträgen widerspiegeln.

Der Band ist zugleich eine Kritik an der internationalen Arbeitsteilung im Wissenschaftsbetrieb, wonach bisher der Norden für die Theorieproduktion über das Städtische und der globale Süden als empirisches Feld gedient hätten. Dabei funktionierte die „neo-koloniale Imagination der Südmetropolen“ (S. 17) lange Zeit so, dass die urbanen Zentren Lateinamerikas als anormale und befremdliche Mutationen normaler Stadtentwicklung galten. Indem im vorliegenden Band fast nur ForscherInnen aus Lateinamerika selbst zu Wort kommen, macht das Kompendium die lateinamerikanische Perspektive stark. Die AutorInnen beziehen sich durchweg auf westliche Theorien und Modelle, konfrontieren sie jedoch mit den Eigenheiten der lateinamerikanischen Metropolen, so dass die besondere Spannung der Lektüre darin besteht, westlich zentrierte Zerrbilder und Verallgemeinerungen durch neue Denkanstöße und Erkenntnisse aus der lateinamerikanischen Stadt- und Raumforschung zu korrigieren.

Die Herausgeberinnen identifizieren drei Grundachsen in den Beiträgen, die zur Navigation durch den Band dienen: Erstens sei die städtische Topographie nicht allein durch Segregation geprägt, sondern werde durchbrochen von den alltäglichen Bewegungen der BewohnerInnen, die verschiedene Zonen der Stadt miteinander in Beziehung setzen. Zweitens würden die AutorInnen interkulturelle Überlagerungen und multiple Identitäten als spannungsreiche Beziehung jenseits des Ethnischen anerkennen, die in verschiedenen Räumen produziert und reproduziert werden. Drittens schließlich spiele das Konzept des „Vorgestellten“ (imaginario, also der symbolischen Produktion und Aneignung von Stadt sowie der Vorstellungen vom Städtischen) eine zentrale Rolle bei vielen AutorInnen. Diese subjektiven und kollektiven Raumwahrnehmungen und -erfahrungen hätten Auswirkungen auf das Verhalten der BewohnerInnen und der materiellen Gestaltung ihrer urbanen Lebensrealität.

In den eher theoretisch fokussierten Texten rekurrieren die AutorInnen auf unterschiedliche konzeptionelle Ansätze, um die Vielschichtigkeit des Städtischen in Lateinamerika in den Griff zu bekommen. So darf der wohl bekannteste Stadt- und Kulturanthropologe Lateinamerikas, Néstor García Canclini, nicht fehlen, der einmal in einem Interview mit den HerausgeberInnen und einmal in einem Beitrag zu Mexiko-Stadt die Besonderheiten der städtischen Frage in Lateinamerika zu erläutern versucht. Weiterhin treten AutorInnen in Erscheinung, die überwiegend europäische Klassiker der Stadt- und Raumforschung mit ihren eigenen Forschungsperspektiven konfrontieren. So dienen die Thesen des französischen Philosophen und Soziologen Henri Lefebvre als Ausgangspunkt zum Verständnis des öffentlichen Raums in Brasilien und der französische Soziologe Pierre Bourdieu wird zur Analyse des Zusammenhangs zwischen Wohnraum und Habitus in Mexiko-Stadt herangezogen.

Die Unterscheidung von Orten, an denen wir leben, und Nicht-Orten, an denen wir als PassantInnen vorübergehen, herausgestellt von dem französischen Ethnologen und Anthropologen Marc Augé, mündet in ein Plädoyer für die Bedeutung des Ortes in der Stadtforschung in Zeiten von Globalisierung und Postmoderne. Besonders lesenswert ist der Bezug auf die britische Humangeographin Doreen Massey, die für eine stärkere Verknüpfung von Geschlechter- und Stadtforschung eintritt. Auf diesem Wege sei die räumliche Wirklichkeit der Stadt besser zu verstehen, weil u.a. Stadtpolitik von Frauen sowie weibliche Repräsentationen und Stadterfahrungen stärker berücksichtigt und kontrastiert würden. Weitere theoretische Beiträge beschäftigen sich u.a. mit der kollektiven Konstruktion von Räumen im Modus des politischen Protests in den Barrios von Buenos Aires, dem Disput um die Stadt aufgrund unterschiedlicher Ciudadaníapraktiken, der Ästhetik städtischer Erfahrung in den persönlichen imaginarios oder der Verknüpfung von Stadträumen durch die Fortbewegung und Wegeszenarien des Städters.

Auch im zweiten Block des Sammelbandes, in dem eher die Erforschung von Stadt entlang konkreter Phänomene im Mittelpunkt steht, spielt Mobilität eine tragende Rolle. So geht es z.B. um die alltäglichen Interaktionen und Verhaltensregeln der NutzerInnen des öffentlichen Nahverkehrs in Mexiko-Stadt, die dem direkten Kontakt sowohl des Transportmediums als auch der anderen anonymen NutzerInnen in ihrer Körperlichkeit ausgesetzt sind. Ein anderer Beitrag untersucht, wie subkulturelle Jugendgruppen miteinander und mit der Stadt in Beziehung treten und dadurch eine Neudefinition des öffentlichen Raumes jenseits von „öffentlich“ versus „privat“ auslösen. Eine andere Form von Mobilität und Bewegung im Städtischen thematisiert ein Text zur Transformation der Favelas zum touristischen Ausflugsziel. Gleichwohl ist all diesen Bewegungen zu eigen, dass ihnen durch die Beschaffenheit der städtischen Infrastruktur, die sozioökonomischen Ressourcen der StadtbewohnerInnen oder die Vorstellungen des Städtischen immer auch Grenzen gesetzt sind. Bolivianische MigrantInnen in Buenos Aires erleben ihre Differenz und Ungleichheit in dem Maße, in dem sie in ihren Möglichkeiten, die Stadt zu bewohnen oder zu durchqueren, beschränkt sind. Anders geartete Beschränkungen der Mobilität ergeben sich durch eine Vorstellung der Stadt als gefährlichem Angstraum, was für mehrere Texte zentral ist. In der Reaktion darauf entwickeln BewohnerInnen verschiedene Strategien des „aus dem Weg Gehens“ oder „Umschiffens“. Entweder flüchten Mittelschichten in eine Narration, die einen geschützten und sauberen Schutzraum entwirft und sich physisch in gated communities äußert, oder es wird als Antwort auf die Bedrohung eine Kriegsmetaphorik zur Rechtfertigung der Militarisierung des öffentlichen Raumes entworfen.

Einen weiteren inhaltlichen Schwerpunkt in den eher empirisch geleiteten Beiträgen bilden die Kämpfe um die Nutzung des Stadtraumes im Schatten ökonomischer Umstrukturierungsprojekte. Im Fokus des Interesses mehrerer Beiträge stehen die Stadtzentren und Altstädte. Einerseits werden sie zum Ziel urbaner Kunst und politischer Artikulationen, andererseits sichern sie den StraßenhändlerInnen ihr wirtschaftliches Überleben, so dass sie Organisierungsprozesse durchlaufen und gegen ihre Vertreibung mit der Stadtverwaltung informelle und formelle Verhandlungsbeziehungen pflegen. Schließlich stehen die Auseinandersetzungen um die historischen Stadtzentren Lateinamerikas im Lichte einer Bewusstwerdung und Rückeroberung des ehemals vergessenen und verfallenen Kulturerbes. Der in den 80er-Jahren einsetzende Prozess der Instandsetzung des kulturellen Erbes (patrimonio) – nicht zuletzt befördert durch die UNESCO – rührt daher, dass eine radikale Politikveränderung gegenüber dem Zentrum stattgefunden hat, die von einer Nostalgie des urbanen Erbes und einer historischen Identitätspolitik gespeist wird. Der kulturelle Reichtum wird zunehmend als Ressource revitalisiert, über deren Grad an Nutzung und Zugänglichkeit gesellschaftliche Machtbeziehungen und Erinnerungspolitik zum Ausdruck kommen. Mit der Rückkehr einer bestimmten Wohnbevölkerung in der Sehnsucht nach einem traditionellen urbanen Leben, dem Aufblühen des kulturellen Stadttourismus und der Etablierung der kreativen Klasse in den Zentren setzte eine „kreolische Gentrifizierung“ der Altstädte ein, ein „Prozess, der von importierten Modellen geprägt ist, sich dabei aber auch an die lokalen Realitäten anpasst“ (S. 390f.).

Die Tendenz einer Rückkehr in die Stadt, verbunden mit einer Neubewertung von Handels- und Wohnimmobilien, führen zu einer Verdrängung der traditionellen Wohnbevölkerung, die die ehemals verfallenen und gefährlichen Zentren bewohnten und maßgeblich deren heute als attraktiv empfundene Lebensart prägte. Damit verbinde sich in diesen Zentren auf eigenartige Weise das instand gesetzte materielle Kulturerbe mit einem immateriellen Erbe subalterner Gruppen. Kreolisch ist diese Gentrifizierung laut dem Autor deshalb, weil ein relatives Scheitern der Wiederansiedlung von Wohnbevölkerung festzustellen ist. Die Gründe dafür lägen in der Permanenz der marginalisierten Bevölkerung und ihrer ökonomischen Subsistenzformen im historischen Zentrum, in dem nicht zu erfüllenden Wohnflächenbedarf der Mittelschichten, in der unklaren Sicherheitslage, aber auch der Entvölkerung der Zentren durch touristische Infrastrukturen oder repräsentative Nutzflächen politischer Macht. Der Beitrag zur spezifischen Ausprägung von Gentrifizierungsprozessen in Lateinamerika steht exemplarisch für eine anregende Lektüre des Sammelbands, die LeserInnen auch außerhalb der Urbanismusforschung das Verstehen lateinamerikanischer Gesellschaften ermöglicht. Das einzige Manko des Sammelbandes besteht darin, dass in einem Großteil der Texte die Megametropolen Mexiko-Stadt, Buenos Aires und São Paulo als Bezugspunkte dienen. Darin äußert sich eventuell eine Vernachlässigung anderer Städte wie Bogotá, Lima, Quito oder Santiago de Chile in der Stadtforschung Lateinamerikas, die andere Entwicklungstrends und Eigenheiten (z.B. die Siedlungen gewaltsam Vertriebener in Bogotá) zu Tage fördern könnten. Erst unter deren Berücksichtigung lassen sich Aussagen zu Lateinamerika wirklich verallgemeinern und mit anderen Weltregionen vergleichen.

Anne Huffschmid und Kathrin Wildner (Hg.), Stadtforschung aus Lateinamerika. Neue urbane Szenarien: Öffentlichkeit – Territorialität – Imaginarios, transcript-Verlag, Bielefeld 2013, 464 Seiten, 25,90 Euro