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Die andere Heimat

Edgar Reitz' Filmepos über die Hunsrücker Auswanderung nach Brasilien

Nach Abschluss der im 20. Jahrhundert angesiedelten Heimat-Trilogie hat sich der Filmemacher Edgar Reitz mit seinem jüngsten Projekt erneut dem Hunsrück zugewandt. Im neuen Film geht er zurück in die 40er-Jahre des neunzehnten Jahrhunderts, als Tausende Menschen vor Hunger und Elend aus der Region westlich des Mittelrheins und südlich der Mosel flohen und bessere Lebensbedingungen in Brasilien suchten.

Gert Eisenbürger

Im Sommer des Jahres 1816 erlebten große Teile West- und Südeuropas sowie Nordostamerikas ungewöhnlich niedrige Temperaturen. Ursache war wahrscheinlich ein Vulkanausbruch in Indonesien, dessen Staub- und Ascheemissionen das Weltklima beeinflussten. In Westeuropa waren die Temperaturen in den folgenden drei Jahrzehnten niedriger als in der Zeit zuvor. Für höher gelegene Anbaugebiete wie die Mittelgebirgsregion Hunsrück bedeutete das verkürzte Wachstumsperioden, wodurch Kartoffeln und Getreide in vielen Jahren nicht reif wurden oder die Erträge zumindest deutlich niedriger ausfielen. Dennoch waren Abgaben an die preußischen Herren fällig und auch der Landadel pochte weiter auf seine Privilegien. Zusammengenommen führte das für die Menschen auf dem Hunsrück immer wieder zu Unterernährung, weil die Ernteerträge nicht für das ganze Jahr ausreichten. Insbesondere in den langen, kalten Wintern forderte die unzureichende Nahrung ihren Tribut. Die ohnehin Schwächeren wie Kinder und Ältere starben an eigentlich harmlosen Krankheiten, ähnlich wie heute in den Krisenregionen Afrikas.

Angesichts dieser bedrückenden Situation sahen viele in der Auswanderung eine Perspektive für ein besseres Leben ohne Hunger und matierielle Not, zumal überall im Hunsrück Werber auftauchten, die potenziellen Siedlern die Überfahrt und Land in Brasilien anboten. Dort hatte Pedro I., der Sohn des portugiesischen Königs João VI., 1822 die Unabhängigkeit von Portugal erklärt und sich zum Kaiser krönen lassen. Als solcher förderte er die Einwanderung mitteleuropäischer Bauern und Bäuerinnen, die mit ihren Anbaumethoden in der Lage waren, den Süden Brasiliens mit seiner Mittelgebirgsgeographie und relativ kühlen Wintern landwirtschaftlich zu erschließen. Die Auswanderung aus dem Hunsrück nach Brasilien begann 1824 und zog sich über vier Jahrzehnte hin, wobei es laut der Website www.auswanderung.rpl, die über die historischen Migrationsbewegungen aus dem heutigen Rheinland-Pfalz informiert, besondere hohe Zahlen in den Jahren 1823, 1828, 1845/46 und 1857 bis 1862 gab. Wieviele Menschen den Hunsrück in Richtung Brasilien verlassen haben, ist schwer zu beziffern, weil es sowohl „offizielle“, also die von den preußischen Behörden gestattete und durch entsprechende Dokumente (z.B. Entlassung aus der Staatsbürgerschaft) beglaubigte, als auch „illegale“ Auswanderung gab. Natürlich wurde nur erstere erfasst. Die erwähnte Website nennt allein für die Jahre 1845/46 aus dem Kreis Simmern, der große Teile des Hnsrücks umfasste und damals 38 000 EinwohnerInnen hatte, tausend BrasilienauswandererInnen. Zwischen 1823 und 1862 dürften es zwischen Fünf- und Zehntausend gewesen sein, in einer Zeit, da auf dem Hunsrück kaum mehr als 50 000 Menschen gelebt haben. Das heißt, zwischen zehn und zwanzig Prozent der Hunsrücker Bevökerung emigrierten im 19. Jahrhundert als Armutsflüchtlinge nach Brasilien.

Diesen historischen Hintergrund verarbeitet Reitz in „Die andere Heimat“. Im Mittelpunkt der Handlung steht wie schon in seinen früheren Hunsrückfilmen die Familie Simon im fiktiven Dorf Schabbach. Hauptfigur und durch seine Tagebucheintragungen auch Erzähler ist deren jüngster Sohn Jakob. Obwohl beide Eltern Analphabeten sind, begeistert sich der Junge früh für Bücher und bildet sich, gefördert vom Pfarrer und Dorfschullehrer, autodidaktisch zum Kulturforscher aus. Er interessiert sich für ferne Länder, vor allem für Brasilien, wo ihn besonders die Kulturen und Sprachen der Indigenen faszinieren. Die übrigen DorfbewohnerInnen belächeln ihn als Spinner, der Vater bekämpft die Lesebegeisterung des Sohnes mit Schlägen, weil sie für sein vorbestimmtes Leben als Schmied und Bauer ohne jeden Nutzen sei.

Als Jakob die Werber des brasilianischen Kaisers hört, steht für ihn fest, dass er nach Brasilien auswandert, sobald er alt genug ist. Am liebsten möchte er das mit Jettchen tun, einem Mädchen aus einem Nachbardorf, auf das er ein Auge geworfen hat und das auch ihm zugetan scheint. Doch es kommt alles anders. Jakobs älterer Bruder Gustav verführt Jettchen und als sie danach schwanger wird, „müssen“ die beiden heiraten. Jakob ist darüber so verzweifelt, dass er sich auf einem Fest mit den Gendarmen anlegt und daraufhin für mehrere Monate eingekerkert wird. Sein Entschluss, nach Brasilien zu gehen, wird dadurch noch verstärkt. Zusammen mit seinem Zellengenossen Franz Olm kümmert er sich bald nach ihrer Freilassung um die entsprechenden Papiere.

Der nächste Winter wird erneut sehr kalt und hart. Die Vorräte schwinden, die Menschen hungern und immer mehr Kinder sterben an Typhus und anderen Epidemien. Auch Bärbelchen, das Baby von Gustav und Jettchen, überlebt den Winter nicht. In ihrer Verzweiflung über den Tod des Kindes entscheidet sich das Paar, nach Brasilien zu gehen, und gibt das in der Gemeinde bekannt. Jakob ist entsetzt. In der damaligen Gesellschaft war klar, dass einer der Söhne Hof und Handwerksbetrieb der Familie übernimmt und sich um die alten Eltern kümmert. Mit Gustavs Ankündigung der Auswanderung ist klar, dass Jakob, der einzige verbliebene Sohn der Familie, auf dem Hunsrück bleiben muss. So geht nicht der, der, vom Fernweh getrieben, schon lange wegwollte, sondern der, den die Not dazu treibt, obwohl er eigentlich lieber auf dem Hunsrück bleiben würde.

Während Gustav und Jettchen die Auswanderung vorbereiten und sich schließlich aufmachen, fügt sich Jakob in sein Schicksal und widmet sich weiter seinen kulturhistorischen und auch technischen Studien. Darüber korrespondiert er mit den führenden Gelehrten seiner Zeit, weist ihnen auch Fehler nach, wenn diese etwa indigene Sprachen in Brasilien als Dialekte bezeichnen, er aber zeigt, dass es eigenständige Sprachen mit unterschiedlichen grammatikalischen Systemen sind. Eines Tages taucht sogar Alexander von Humboldt auf der Durchreise von Berlin nach Paris mit seiner Kutsche in Schabbach auf, um den Kollegen Jakob Simon kennenzulernen, doch der flieht angesichts des hohen Besuches aus dem Dorf. In der Person des Jakob gibt es Parallelen zu Edgar Reitz' verstorbenem Bruder Guido, dem Widmungsträger des Films. Der hat sein Leben lang das elterliche Uhrengeschäft im Hunsrückstädtchen Morbach geführt, seine Leidenschaft galt aber der Beschäftigung mit indigenen Sprachen und deutschen Mundarten in Südamerika.

Die Filmsprache ist Hunsrückisch, eine Variante des an der Mosel, Teilen des Mittelrheins und des Saarlands, im Hunsrück, der Eifel und in Luxemburg gesprochenen Moselfränkisch. Einige DarstellerInnen sind LaienschauspielerInnen aus der Region, wobei Profis und Laien gleichermaßen überzeugen. Der Film ist überwiegend in Schwarzweiß gedreht, wobei es immer wieder in einzelnen Szenen kleine, spannende Farbeffekte gibt.

Auch wenn „Die andere Heimat“ in einigen Passagen scharf am allzu rührseligen Melodram vorbeischrammt, ist Edgar Reitz und seinem Team ein starker Film gelungen. Obwohl er fast vier Stunden dauert, wird er nie langweilig, vermeidet Längen und hat trotz zahlreicher bedrückender Momente viel Humor. Überzeugend ist „Die andere Heimat“ auch deshalb, weil er die europäische Abschottungspolitik gegen Flüchtlinge und MigrantInnen aus einer regionalhistorischen Perspektive kritisch beleuchtet. Der Film zeigt, warum sich Menschen aus ihren Herkunftsregionen aufmachen, um anderswo bessere Lebensbedingungen zu finden. Diejenigen, die aus dem Hunsrück weggehen, sind nicht politisch verfolgt, aber sehr wohl bedroht von Verelendung und extremer Not.

Zusätzlich zum Film, der derzeit in guten Kinos zu sehen ist und wohl auch später im Fernsehen ausgestrahlt wird (ARD Degeto ist Mitproduzent), sind gleich drei Bücher erschienen, die zur weiteren Auseinandersetzung einladen. Da ist zunächst die Erzählung „Die andere Heimat“ von Gert Heidenreich. Der Autor hat zusammen mit Edgar Reitz das Filmdrehbuch verfasst. Daneben hat der erfahrene Schriftsteller das Material zu einem eigenen literarischen Text verdichtet.

Viele Filme entstehen auf der Grundlage von Romanen und Erzählungen, aber in der Regel ist es so, dass es das literarische Werk zunächst als eigenständiges Projekt gibt, auch wenn manche AutorInnen schon beim Schreiben an eine spätere Verfilmung denken und ihr Buch so konzipieren, dass es sich dafür eignet. Heidenreichs Erzählung wurde dagegen im Rahmen der Arbeit an dem Filmprojekt verfasst und ist von diesem nicht zu trennen. Die Diskrepanz, die viele LeserInnen und ZuschauerInnen beim Vergleich eines Films und seiner Romanvorlage empfinden, stellt sich hier nicht ein. Natürlich sind Literatur und Kino unterschiedliche Medien, aber Heidenreichs Erzählung und der Film sind tatsächlich sehr nahe beieinander. Wem der Film gefällt, wird auch das Buch mögen – und umgekehrt.

Als sein persönliches Filmbuch bezeichnet Edgar Reitz den bei Schüren erschienenen Band „Die andere Heimat“. Es ist ein klassiches „Buch zum Film“. Es enthält das rund 180-seitige als „Filmerzählung“ bearbeitete Drehbuch, dazu auf weiteren 70 Seiten Texte von und Interviews mit Reitz, in denen er über die Stoffenwicklung, die Arbeit am Drehbuch und mit den DarstellerInnen sowie den Produktionsprozess Auskunft gibt. Im Anhang, den letzten 30 Seiten, werden die Schauspieler und das Team vorgestellt, interessante Einblicke in ein Filmprojekt von der Idee bis zur Realisierung.

Das dritte Buch trägt den Untertitel „Das Buch der Bilder“ und ist, wie damit schon angedeutet, ein großangelegter Fotoband mit 174 Abbildungen aus dem Film. Daneben enthält es Textfragmente aus dem Film, vor allem das Tagebuch des Jakob Simon sowie Gebete, Lieder und Briefe. Hier kann man sich in aller Ruhe die besondere Bildsprache und die Farbeffekte des Films vor Augen führen. Es sind „schöne“ Bilder, ein Spezifikum auch des Films, in denen Armut und Not eben nicht durch besonders krasse Darstellungen betont werden, sondern durch stille, ruhige Bilder, in denen sehr viel Melancholie liegt.

Literatur zum Thema: 

Edgar Reitz: Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht, Das Filmbuch, Schüren Verlag, Marburg 2013, 293 Seiten, 19,90 Euro

Edgar Reitz: Die andere Heimat 1843/44 – Chronik einer Sehnsucht, Das Buch der Bilder, Mit Texten von Michael Krüger und Edgar Reitz, Verlag Schirmer/Mosel, 140 Seiten, Großformat, 174 Abbildungen in Novatone und Farbe, 49,80 Euro