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Mythos Copacabana

Dawid Danilo Bartelts Sitten- und Kulturgeschichte Rio de Janeiros
Gert Eisenbürger

Wahrscheinlich ist sie der bekannteste Strand der Welt, die rund vier Kilometer lange und vielleicht 150 Meter breite Sandfläche in der Bucht von Copacabana in Rio de Janeiro. Diesem „Sehnsuchtsort“ hat Dawid Danilo Bartelt ein ganzes Buch gewidmet, das unlängst in Berlin bei Wagenbach erschienen ist. Sowohl das Profil des Verlages als auch das des Autors – er war acht Jahre lange Pressesprecher der deutschen Sektion von amnesty international, leitet heute das Brasilienbüro der Heinrich-Böll-Stiftung und war Autor des Einleitungsartikels unseres Rio-de-Janeiro-Städteheftes vor zwei Jahren – deuten bereits daraufhin, dass wir hier keinen Reiseführer für potentielle BrasilienurlauberInnen zu erwarten haben. Dawid Bartelt beschreibt keine Strandkulisse, sondern erzählt eine Geschichte, nämlich die, wie aus einer kleinen Bucht, an der vor gut 100 Jahren noch Ananas und Bananen angebaut wurden, das angesagteste Viertel von Rio de Janeiro wurde, und wie sich die soziale Struktur und kulturellen Trends der Metropole in Copacabana widerspiegeln.

Strandvergnügen, so erfahren wir zunächst, ist eine sehr junge Freizeitbeschäftigung – zumindest für EuropäerInnen und damit auch die europäischstämmigen brasilianischen Eliten. Sofern sie nicht Fischer oder Seefahrer waren, hielten sie nämlich bis ins 19. Jahrhundert zum Meer einen gebührenden Abstand. Erst im 19. Jahrhundert entdeckten Mediziner die gesundheitsfördernde Wirkung von „Salzwasserbädern“ und des maritimen Reizklimas. In Großbritannien entstanden alsbald die ersten Seebäder, Kurorte für die gehobene Gesellschaft. Selbstverständlich stellte man im prüden viktorianischen Zeitalter die Körper nicht zur Schau, vielmehr ließ man sich von Bediensteten in geschlossenen Badekarren ins Wasser schieben, in dem man die vom Arzt verordnete Zeit verweilte.

Bald kamen die medizinischen Salzwasserbäder auch andernorts in Mode, unter anderem in Brasilien. Aber lange bevor sich die sogenannte bessere Gesellschaft an den Strand kutschieren ließ, hatten die afroamerikanischen SklavInnen in ihrer spärlichen Freizeit gerne ein erfrischendes Bad im Meer genommen. Jedenfalls entdeckten irgendwann auch die Weißen jenseits und diesseits des Atlantiks, dass Meerbäder nicht nur gesund waren, sondern bei warmem Wetter auch Spaß machten. Ein Aufenthalt am Strand wurde bald zum Inbegriff von Freizeit, Freiheit und Urlaub.

In Rio de Janeiro begann die Entdeckung des Strands zunächst an den zentrumsnahen Sandflächen der Lagune, die heute teilweise zubetoniert sind und Promenaden oder repräsentativen Bauten zum Opfer fielen. Copacabana war durch einen Bergrücken von der Stadt getrennt, die dort ansässigen Fischer und Obstbauern brachten ihre Waren mit Booten nach Rio de Janeiro.

Der Dornröschenschlaf Copacabanas endete am 6. Juli 1892. An diesem Tage wurde die Bucht nämlich an das Straßenbahnnetz von Rio angeschlossen. Dafür hatte die Betreibergesellschaft, die Garden Rail Road Company, in zweijähriger Bauzeit einen Tunnel in den Berg sprengen lassen, sodass nun von Botafogo im südlichen Teil des Zentrums eine Pferdetram nach Copacabana verkehrte. So wurde die Bucht zunächst Naherholungsgebiet für die Metropole. Diejenigen, die sich Straßenbahnbillets leisten konnten, fuhren am Wochenende nach Copacabana, um dort Picknicks (portugiesisch: piquenique, ausgesprochen: pickinicki) mit Meerblick zu veranstalten.

Die Verbesserungen der infrastrukturellen Anbindung – die Straßenbahn wurde elektrisch, 1904 wurde ein zweiter Tunnel gebaut und erste wohlhabende BürgerInnen legten sich Autos zu – führten im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts dazu, dass Copacabana nicht mehr nur als Ausflugsziel, sondern auch als Wohnort für gutsituierte Cariocas (BewohnerInnen Rios) interessant wurde. Zwischen 1900 und 1920 erlebte das einstige Dorf einen (ersten) Bauboom. Wer es sich leisten konnte, zog in das neue Viertel, dessen Grundstücksmakler mit seinem Meerblick, seiner guten Luft und seiner Weitläufigkeit (gegenüber der Enge des Zentrums) warben.

Gebaut wurden repräsentative Villen und großzügige Häuser, Copacabana wurde zu einem zunächst eher ruhigen Nobelvorort Rios. Doch dies änderte sich schon bald. In den 20er-Jahren wurden an der neu errichteten Strandpromenade elegante Hotels – darunter das bis heute äußerst exklusive Copacabana Palace – gebaut, die nicht nur über Gästezimmer, sondern auch Kabaretts, Casinos, Bars und elegante Restaurants verfügten. Damit entwickelte sich bald ein reges Nachtleben, Copacabana wurde zur exklusiven Amüsiermeile für die Reichen Rios und bald auch ganz Brasiliens. Und es wurde weiter gebaut. Alle, die etwas auf sich hielten und über die erforderlichen Mittel verfügten, wollten in Copacabana wohnen, längst nicht mehr wegen seiner guten Luft, sondern weil es schick war.

Die Grundstückspreise explodierten. Man begann die erst ein, zwei Jahrzehnte zuvor errichteten Häuser und Villen wieder abzureißen und an deren Stelle exklusive Appartementhäuser zu errichten. Das Appartement in Copacabana wurde für die Elite zum Sinnbild eines neuen Lebensstils. Das soziale Gefüge änderte sich dadurch freilich nicht. Wie alle herrschaftlichen Häuser hatten auch die Appartements zwei Eingänge, einen für die Herrschaften, den anderen für das Personal, der meist direkt in die Küche oder das Waschzimmer führte, wo es immer auch einige zwei, drei Quadratmeter große fensterlose Räume gab, in denen das Personal „wohnte“.

Nach den Eliten drängten auch die aufstrebenden Mittelschichten in den neuen Stadtteil. Wer eine Adresse in Copacabana hatte, gehörte dazu – das hofften die AufsteigerInnen zumindest. Neben den eleganten Appartementhäusern im Stil des Art Déco oder der Moderne entstanden riesige Wohnkomplexe mit Klein- und Kleinstappartements, häufig kleiner als 25 Quadratmeter. Für ein solches Wohnklo gaben die Mittelschichten oft geräumige Wohnungen in anderen Stadtteilen auf, nur um in Copacabana zu leben. Dass sie oft Tür an Tür mit den zahlreichen Prostituierten beiderlei Geschlechts lebten, die dort ihrem Gewerbe nachgingen, dürfte ihnen sicher nicht besonders gefallen haben.

Die Dienstboten, Straßen- und StrandhändlerInnen, kleinen Handwerker, Pförtner und AbfallsammlerInnen Copacabanas konnten sich natürlich nicht einmal die Miniappartements leisten. Sie bauten an den Hängen ihre bei Unwettern immer abrutschgefährdeten Hütten, sodass auch das schicke Copacabana bald seine Favelas – mit durchaus imponierender Aussicht – hatte.

Im Zuge der Entwicklung Copacabanas wurde auch sein Sandstrand zum Teil seines Mythos. War er zunächst nur Teil einer beeindruckenden Kulisse, wurde er zunehmend zum „Wohnzimmer“ des Stadtteils. Hier verbrachte man seine Freizeit, pflegte Kontakte und Beziehungen. Dabei war (und ist) der Strand immer auch Ort sozialer und politischer Auseinandersetzungen. Eines der Konfliktfelder war über Jahrzehnte stets die Badebekleidung und -mode. War man und frau anfangs noch ausschließlich frühmorgens in Ganzkörper- badeanzügen und -kostümen zum Strand gegangen, setzten sich den 20er-Jahren bei Männern die kurze Badehose und bei Frauen der Maillot durch, ein einteiliger Badeanzug, der Arme und Beine frei ließ. Gegen die „Freizügigkeit“ (der Damenbademode versteht sich) kämpften Konservative im Namen der Tugend und der guten Sitten an, was auch immer sie darunter verstanden.

Das gleiche Spiel wiederholte sich in den 50er-Jahren bei der Einführung des Bikini und später des Tanga. Stets sahen Konservative in neuen Bademoden eine Verrohung der Sitten. Kurzzeitig, wenn die Rechte die Stadt- oder Nationalregierung stellte, gab es sogar Verbote bestimmter Badetextilien, die aber meist nach kurzer Zeit wieder aufgehoben wurden, weil sie nicht durchsetzbar waren. Bei Männern erlebte die Knappheit in der Bademode ihren Höhepunkt, als Ende der 70er-Jahre der ehemalige Guerillero und spätere Schwulenaktivist und Grünen-Politiker Fernando Gabeiro und der Sänger Caetano Veloso in selbstgehäkelten Stringtangas am Strand vom Copacabana erschienen. Zum Trendsetter wurden sie damit freilich nicht. Anders als bei den Frauen, bei denen bis heute extrem knappe Badekleidung angesagt ist, wurden die Hosen bei den Männern wieder länger, heute sind Bermudas Standard am bekanntesten Strand der Welt.

Mit der zunehmenden Entblößung der Körper ging die Entwicklung eines regelrechten Körperkultes einher. War die Befreiung von den Auflagen der selbsternannten Tugendwächter ein zweifellos emanzipatorischer Akt – schließlich hat jedeR das Recht, so herumzulaufen, wie es ihm/ihr gefällt – unterwarfen sich viele BrasilianerInnen danach einem vielleicht ebenso repressiven Regiment, nämlich dem Zwang, gut auszusehen, einen möglichst perfekten Körper anzustreben. Dafür leisten sie nicht nur tagtäglich Schwerstarbeit in den unzähligen Academias (Fitnessstudios) – die gibt es am Strand von Copacabana sogar unter freiem Himmel – sondern investieren auch viel Geld in Schönheitsoperationen, im Verhältnis weit mehr als EuropäerInnen, und zwar in fast allen sozialen Schichten, mit Ausnahme der Ärmsten. Die Einkommenszuwächse in den letzten Jahren haben nicht nur zu höheren Umsätzen bei Autos, Unterhaltungselektronik, Reisen und Büchern geführt, sondern auch zu einem starken Zuwachs in der plastischen Chirurgie.

Obwohl in Brasilien alle Strände öffentlich sind, gibt es auch am Strand von Copacabana vielfältige soziale Differenzierungen, sei es nach Hautfarbe, sexueller Orientierung oder Kaufkraft (wer bringt sein Essen mit, wer kann es sich leisten, sich bei den StrandhändlerInnen und Strandbars zu verköstigen?). Dies stellt Dawid Bartel in einem weiteren Abschnitt seines Buches sehr anschaulich und kenntnisreich dar. Ein anderes spannendes Kapitel widmet er dem Bossa Nova, dem sanft-lässigen Musikstil, der weltweit mit Brasilien und Copacabana verbunden wird.

Mit dem Buch „Copacabana – Biographie eines Sehnsuchtsortes“ gelingt es dem Autor, eine Kultur- und Sittengeschichte Rio de Janeiros und in Teilen auch Brasiliens vorzulegen. Dabei vermeidet er, exotische Brasilienklischees zu bedienen, indem er soziologische und kulturanthropologische Kriterien anwendet, die keinen Raum für Mythenbildung lassen. Dass er das noch in einer sehr ausgewählten und gepflegten Sprache tut, ohne dabei verschnöselt distinguiert zu wirken, erhöht das Lesevergnügen ungemein.

P.S. Übrigens: Das brasilianische Copacabana ist nur eine Kopie. Das Original, von dem die Marienstatue der Nossa Senhora de Copacabana einst nach Rio de Janeiro gelangte, liegt auf 3800 Meter Höhe am bolivianischen Ufer des Titicacasees. Dort gibt es auch einen schönen Strand, allerdings ist es dort für knappe Bademoden eindeutig zu frisch.

Dawid Danilo Bartelt: Copacabana – Biographie eines Sehnsuchtsortes, Wagenbach Verlag, Berlin 2013, 221 Seiten, 9,80 Euro