ila

Wo die Grenzen offen blieben

Zwei neue Bücher zum Exil in Uruguay und Mexiko
Gert Eisenbürger

Mehr als 25 Jahre wurde die ila-Berichterstattung über Uruguay zu einem beträchtlichen Teil von Ernesto Kroch (1917-2012) bestritten. Ernesto musste wegen seiner gewerkschaftlichen Arbeit in der Zeit der uruguayischen Militärdiktatur (1973-85) aus Montevideo nach Frankfurt am Main fliehen. Im Exil kämpfte er weiter gegen das Folterregime der Generäle, er organisierte Veranstaltungen, hielt Vorträge und publizierte in linken Medien über die Zustände in Uruguay. Anders als andere Flüchtlinge aus Lateinamerika, die eine ähnliche Arbeit machten, hatte Ernesto bereits Erfahrung mit dem politischen Kampf im Exil. Zwischen 1941 und 1946 hatte er sich im „Deutschen Antifaschistischen Komitee“ in Montevideo gegen die NS-Diktatur engagiert. Nach Uruguay war er 1939 gekommen, nachdem er zuvor wegen seiner Aktivitäten im jüdisch-sozialistischen Widerstand gegen das NS-Regime vier Jahre Gefängnis- und KZ-Haft durchgemacht hatte.

Ernesto war einer von rund 10 000 Flüchtlingen aus Nazideutschland, die in dem kleinen Land am Rio de la Plata Asyl gefunden hatten. Ihre Geschichte(n) erzählt Sonja Wegner in dem kürzlich erschienenen Buch „Zuflucht in einem fremden Land – Exil in Uruguay 1933-1945“. Anders als Ernesto, der 1934 wegen seines Widerstandskampfes inhaftiert worden war, waren die meisten anderen Flüchtlinge, die nach Uruguay kamen, allein wegen ihrer jüdischen Herkunft verfolgt und akut bedroht. Sie gingen nicht ins politische Exil, sondern sahen ihren Weggang aus Deutschland als Auswanderung aus einem Land, in dem es für sie keine Zukunft mehr gab.

Im ersten Teil der bearbeiteten Fassung ihrer Dissertation schildert Sonja Wegner die zunehmende Entrechtung der deutschen Juden und Jüdinnen. Bereits 1933 wurden jüdische StudentInnen aus den Universitäten geworfen und jüdische Beamte entlassen. Später verloren jüdische MedizinerInnen und JuristInnen ihre Zulassung. Jüdische Geschäftsleute und HandwerkerInnen sahen sich mit Boykotten und dem wachsenden Druck konfrontiert, ihre Betriebe – meist unter Wert – an nichtjüdische Deutsche zu verkaufen. Schließlich wurden im Zuge des Novemberpogroms 1938 Tausende jüdische Männer verhaftet und in Konzentrationslager gebracht. Spätestens zu diesem Zeitpunkt beschlossen viele jüdische Familien endgültig, Deutschland zu verlassen, und betrieben ihre Auswanderung. Doch dies war Ende der 30er-Jahre sehr schwierig geworden. Immer weniger Länder waren bereit, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen, auch weil das NS-Regime die Ausreisewilligen mit perversen Mitteln wie etwa der „Reichsfluchtsteuer“ ausplünderte und es ihnen immer schwerer machte, Vermögenswerte und Hausrat ins Ausland zu transferieren. So wurden sie zu mittellosen Bittstellern.

Während traditionelle Einwanderungsländer wie Argentinien oder Chile ihre Grenzen Ende der 30er-Jahre weitgehend dichtmachten, nahm Uruguay weiter Flüchtlinge auf – auch wenn rechte Kreise und Medien dagegen massiv zu Felde zogen.

In Uruguay angekommen, waren die Verfolgten zwar in Sicherheit, doch standen sie vor dem Problem, sich in einem ihnen völlig fremden Land zurechtzufinden und ökonomisch zu überleben. Ihren in Deutschland ausgeübten Berufen konnten sie oft nicht mehr nachgehen, weil ihre Abschlüsse nicht anerkannt wurden (z. B. bei MedizinerInnen), sie die Landessprache Spanisch nur unzureichend beherrschten oder weil es einfach keine entsprechenden Stellenangebote gab. So mussten sich viele zunächst mit Kleinhandel, Hilfsarbeiten oder als Hausangestellte durchschlagen, ehe es ihnen gelang, sich ökonomisch etwas zu etablieren. Ohne die Unterstützung jüdischer Hilfsorganisationen hätten viele die erste Zeit in Uruguay kaum überleben können.

Sonja Wegner erzählt in ihrem Buch sehr viele dieser Geschichten. Das tut sie immer aus der Perspektive der geflüchteten Menschen, die sie entweder persönlich getroffen und interviewt oder deren Schicksale sie anhand schriftlicher Quellen rekonstruiert hat. Sie beschreibt den ungeheuren Kraftaufwand, die Ausreise aus Deutschland zu bewerkstelligen und in Uruguay einen Platz zu finden. Sie berichtet aber auch von den religiösen, politischen und kulturellen Aktivitäten deutsch-jüdischer Flüchtlinge in Uruguay, die sich vom Aufbau einer Synagogengemeinde über die Ausstrahlung einer täglichen deutschsprachigen Radiosendung, der Organisation einer semiprofessionellen Theatergruppe bis zu politischen Aktivitäten, wie dem eingangs erwähnten „Deutschen Antifaschistischen Komitee“, erstreckten. Und sie würdigt in den Worten vieler Flüchtlinge die Offenheit und Großzügigkeit der EinwohnerInnen und politischen Institutionen eines kleinen Landes, das in Europa meist nur als zweifacher Fußballweltmeister bekannt ist.

Obwohl Mexiko mit rund 1600 Verfolgten nur einen Bruchteil der Flüchtlinge aufnahm, die in Uruguay, dem kleinsten Land Südamerikas, oder in Bolivien, dem ärmsten Land des Subkontinents, Zuflucht fanden, wird es bis heute als bedeutendes Asylland für NS-Verfolgte wahrgenommen. Dafür gibt es mehrere Gründe. Nach Mexiko kamen besonders viele Prominente, vor allem KünstlerInnen, deren Biographien vielfach dokumentiert sind, und die Mexiko auch in ihren Werken würdigen. Erwähnt seien hier nur die AutorInnen Anna Seghers, Gustav Regler, Ludwig Renn, Alice Rühle-Gerstel oder Bodo Uhse.

Zudem war in Mexiko der Anteil der politisch Exilierten besonders hoch. Von ihnen kehrten, im Unterschied zu den jüdischen EmigrantInnen, nach 1945 viele nach Deutschland zurück, vor allem in die DDR, wo sie zunächst wichtige Funktionen in den Medien sowie der Polit- und Kulturbürokratie einnahmen, ehe viele Anfang der 50er-Jahre als „Westemigranten“ diffamiert wurden und unter Druck gerieten. Seit den 70er-Jahren wurde Mexiko in der DDR als Exilland für NS-Verfolgte in zahlreichen Publikationen gewürdigt und hervorgehoben.

Nach 1939 war Mexiko eines der wenigen Ländern, das verfolgten Linken – egal ob sie sozialistischen, kommunistisch-stalinistischen, kommunistisch-trotzkistischen, libertär-kommunistischen, surrealistischen oder anarchistischen Gruppen angehörten – explizit Asyl gewährte. Das hielt allerdings einige deutsche Parteikommunisten nicht davon ab, gegen Angehörige anderer linker Strömungen zu intrigieren, um ihre Namen von den Listen derer, die besonders gefährdet waren und daher dringend Visa brauchten, zu streichen.

Symbolfigur der offensiven Asylpolitik seines Landes wurde der mexikanische Generalkonsul in Marseille, Gilberto Bosques. Was er und seine MitarbeiterInnen leisteten, ist wohl einmalig in der Geschichte der internationalen Diplomatie. Denn das mexikanische Konsulat in Marseille erteilte politisch Verfolgten nicht nur großzügig Visa, sondern war faktisch eine Fluchthilfeorganisation mit diplomatischem Status. Bosques und seine Leute unterstützten auch die AntifaschistInnen, die im Untergrund lebten, weil die Vichy-Polizei sie suchte, um sie an die Gestapo auszuliefern. Die KonsulatsmitarbeiterInnen organisierten ihnen Arbeitsbescheinigungen und legale Papiere (häufig unter falschen Namen), brachten sie in eigens angemieteten Räumlichkeiten außerhalb der Stadt unter, gründeten ein Kinderheim, um wenigstens den Kleinen das Leben im Untergrund zu ersparen, so dass die Eltern mehr Raum hatten und die erforderlichen Ausreisedokumente und Schiffspassagen beschaffen konnten. Außerdem kooperierten Bosques und seine MitarbeiterInnen mit Gruppen, die Flüchtlinge (meist illegal) über die Pyrenäen nach Spanien schleusten und von dort ihre Weiterreise ins neutrale Portugal organisierten, wo viele Passagierschiffe nach Lateinamerika abgingen. Wegen dieser Aktivitäten wurden sie nach der Besetzung Südfrankreichs 1942 unter Verletzung der Wiener Verträge von der Gestapo festgenommen und fast zwei Jahre in Bad Godesberg als Kriegsgefangene inhaftiert.

Diesem Engagement war die Ausstellung „Letzte Zuflucht Mexiko – Gilberto Bosques und das deutschsprachige Exil nach 1939“ gewidmet, die vom Dezember 2012 bis zum März 2013 in der Akademie der Künste in Berlin zu sehen war. Unter dem gleichen Titel hat das „Aktive Museum Faschismus und Widerstand in Berlin“ einen sehr ansprechend gestalteten Katalog herausgegeben, der über den Buchhandel erhältlich ist. Im ersten Teil des Katalogs werden vergleichsweise knapp die mexikanische Außen- und Asylpolitik sowie das Leben und die Tätigkeit Gilberto Bosques' dargestellt, dazu gibt es Auszüge aus dem Interview von Sybille Flaschka mit dem damals bereits 101 Jahre alten Gilberto Bosques, das in der ila 172 (Februar 1993) veröffentlicht worden ist.

Den Hauptteil des Buches bilden 25 Biographien von Einzelpersonen oder Paaren aus Berlin, die in Mexiko Zuflucht fanden. Alle Portraitierten werden in einem kurzen biographischen Text (zwei Buchseiten) und durch Fotos, Briefe und Zitate (jeweils fünf Buchseiten) vorgestellt. Bei einer Ausstellung, die in Berlin gezeigt werden soll, ist es nachvollziehbar, Menschen mit einem Bezug zu dieser Stadt in den Mittelpunkt zu stellen. Das bedeutet aber, dass der Katalog, wie schon in den DDR-Publikationen der 70er- und 80er-Jahre, die KPD-Intellektuellen, die in Mexiko im Exil waren, in den Mittelpunkt stellt. Denn die haben überwiegend vor oder nach ihrer Emigration in Berlin gelebt. Zwar war Mexiko mit über 70 KPD-Mitgliedern das zweitwichtigste Exilzentrum der Partei nach Moskau, dennoch stellten die KommunistInnen und ihre Familien nur maximal zehn Prozent der Flüchtlinge aus Nazideutschland und dem besetzten Österreich, die in Mexiko Aufnahme fanden. Über die mehrheitlich unbekannten jüdischen EmigrantInnen erfährt man leider sehr wenig.

Im Unterschied zu den DDR-Publikationen, die vor allem von dem Historiker Wolfgang Kießling verfasst bzw. herausgegeben wurden, stellen die Berliner AusstellungsmacherInnen erfreulicherweise aber auch die Geschichten KPD-kritischer linker Intellektueller wie Walter Reuter, Franz Feuchtwanger, Babette Groß, Franz Pfemfert und Alexandra Ramm-Pfemfert, Anni und Max Diamant sowie Gustav Regler und Mieke Vogeler dar. Die Genannten waren in den DDR-Publikationen Kießlings entweder nicht erwähnt oder teilweise übel diffamiert worden. Schade ist, dass das wahrscheinlich intellektuell hochkarätigste Paar des mexikanischen Exils, nämlich der libertäre Psychologe und Publizist Otto Rühle und die linksfeministische Autorin Alice Rühle-Gerstel, nicht gewürdigt werden, zumal Otto Rühle von 1912 bis 1918 als Reichstagsabgeordneter in Berlin gelebt hatte.

Bedrückend ist die Darstellung der politischen Probleme, die fast alle RemigrantInnen aus Mexiko in den frühen 50er-Jahren in der DDR hatten. Sie reichten von politischen und beruflichen Degradierungen bis hin zum Vorwurf, „heimatlose Kosmopoliten“ oder wahlweise „trotzkistische“, „imperialistische“ oder „zionistische“ Agenten zu sein, was im Falle Walter Jankas und Paul Merkers zu mehrjährigen Haftstrafen führte. Rudolf Feistmann, damals Redakteur des „Neuen Deutschland“, nahm sich aufgrund der Verfolgungen das Leben. In der DDR-Presse wurde danach zynisch verlautbart, der „verdiente Genosse“ Feistmann sei an einer Fleischvergiftung gestorben.

Sonja Wegner: Zuflucht in einem fremden Land. Exil in Uruguay 1933-1945, Verlag Assoziation A, Hamburg/Berlin 2013, 375 Seiten, 22,- Euro

Aktives Museum Faschismus und Widerstand in Berlin e.V. (Hg.): Letzte Zuflucht Mexiko. Gilberto Bosques und das deutschsprachige Exil nach 1939, Berlin 2012, 255 Abbildungen, 320 Seiten, 20,- Euro