ila

Befreiung als internationales Projekt

Neue Bücher über den Internationalismus der sechziger Jahre

In den 1960er-Jahren formierte sich unter den Studierenden zahlreicher europäischer und außereuropäischer Länder eine internationalistische Bewegung. Deren AktivistInnen empörten sich über den Krieg der USA in Vietnam, die Unterdrückungspolitik des Schah-Regimes im Iran oder die sozialen Ungerechtigkeiten in Lateinamerika und unterstützten die revolutionären Bewegungen in der Dritten Welt oder – wie es damals hieß – im Trikont, den Kontinenten Afrika, Asien und Lateinamerika. Nun sind gleich drei neue Bücher erschienen, die sich mit dem Internationalismus jener Jahre beschäftigen, eines mit dem Blick auf Westberlin und die Bundesrepublik, ein weiteres mit dem Fokus auf Frankreich und Cuba und ein drittes, das das politische Denken Rudi Dutschkes, des wichtigsten Kopfes der bundesdeutschen Bewegung, rekapituliert.

Gert Eisenbürger

In ihrem Buch „Aufbruch in die Dritte Welt“ untersucht die Historikerin Dorothee Weitbrecht, wie internationale Fragestellungen in den Blick bundesdeutscher und Westberliner Studierender rückten und 1967/68 zu zentralen Themen der Revolte wurden. In der Einleitung bemerkt die Autorin, dass sie sich auch aus biographischen Gründe mit diesem Thema beschäftigt hat. Sie ist eine Nichte der 1977 von der argentinischen Militärdiktatur entführten und ermordeten Elisabeth Käsemann, die 1968 im Berliner SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) aktiv war. In der Fortführung dieses Engagements war Elisabeth Käsemann 1969 zunächst nach Bolivien und später nach Argentinien gegangen und hatte sich dort der revolutionären Linken angeschlossen.

Nach den üblichen wissenschaftlichen Einordnungen stellt die Autorin zunächst die frühen internationalistischen Initiativen in der Bundesrepublik dar, so die wenigen kritischen Stimmen zur US-Invasion in Korea Anfang der fünfziger oder die etwas breitere Bewegung gegen die französische Kriegführung in Algerien zu Beginn der sechziger Jahre. Letztere, in der sich vor allem linke Gewerkschafter und studentische AktivistInnen betätigten, leisteten eine bemerkenswerte Arbeit, publizistisch mit der Zeitschrift „Freies Algerien“ oder ganz konkret mit der Unterstützung untergetauchter algerischer Kader und Deserteure der französischen Armee, die sichere Zufluchtsorte brauchten. Die Beteiligung des SDS an der Algerien-Solidarität war einer der Gründe für den Bruch der SPD mit ihrem damaligen Hochschulverband, der fortan als eigenständige sozialistische Studierendenorganisation agierte und 1967/68 die Speerspitze der Außerparlamentarischen Opposition (APO) wurde.

Wichtige intellektuelle Protagonisten des neuen Internationalismus waren für die kritischen StudentInnen der französische Philosoph Jean-Paul Sartre und – für jüngere ila-LeserInnen vielleicht überraschend – der Schriftsteller Hans-Magnus Enzensberger. Sartres Kritik am Kolonialismus, insbesondere sein Vorwort zu Frantz Fanons „Die Verdammten dieser Erde“, beeinflusste eine ganze Generation unabhängiger Linker. Enzensberger gab zwischen 1965 und 1972 die wichtige Zeitschrift „Kursbuch“ heraus, die von Beginn an internationalistische Themen aufgriff.

Äußerst interessant sind die Überlegungen Dorothee Weitbrechts, dass die Auseinandersetzung der deutschen StudentInnen mit dem Nationalsozialismus ihren Internationalismus mit angestoßen habe. Die „68er“ waren die erste Generation, die sich den von weiten Teilen der deutschen Bevölkerung getragenen Verbrechen des NS-Regimes stellte. Dies habe Schuldgefühle erzeugt, für die nach einer Entlastung gesucht wurde. Ein Ventil sei der Kampf gegen neue politische Verbrechen, wie etwa die Kriegführung der US-Truppen in Vietnam, gewesen. In den Aufrufen und Mobilisierungen gegen diesen Krieg wurden auffällig oft (falsche!) Parallelen zu den Verbrechen der Nazis hergestellt. So wurde etwa der Kampf gegen den US-Einsatz in Indochina damit begründet, dass gerade Deutsche zu einem solchen Engagement verpflichtet seien.

Im nächsten Kapitel widmet sich die Autorin der Bedeutung Rudi Dutschkes, der zwischen 1966 und April 1968, als er bei einem Attentat lebensgefährlich verletzt wurde, sowohl als theoretischer Kopf als auch als praktischer Organisator eine herausragende Stellung in der Bewegung einnahm (s.u.). Interessant ist die Darstellung des religiösen Hintergrunds Dutschkes und anderer studentischer AktivistInnen. Eine ganze Reihe von Mitgliedern des wichtigen Westberliner SDS waren christlich, vor allem protestantisch geprägt, viele waren in der Evangelischen Studentengemeinde (ESG) aktiv. Wird heute nach den Vorbildern und Wegbereitern der bundesdeutschen Studentenbewegung gefragt, fällt meist zuerst der Name Herbert Marcuse. Vielleicht werden noch Ernst Bloch oder für einen Teil des Spektrums auch Wolfgang Abendroth genannt. In einer Umfrage an deutschen Universitäten aus dem Jahr 1967 nannten die Studierenden aber weit vor Marcuse zwei andere Namen, den erwähnten Hans-Magnus Enzensberger und den Berliner evangelischen Theologieprofessor Helmut Gollwitzer. Der engagierte Christ und Sozialist Gollwitzer war eine positive Vaterfigur (die eigene Vätergeneration war durch den Nationalsozialismus diskreditiert) und vermittelte den kämpfenden StudentInnen zudem, das moralisch Richtige zu tun. Ich habe selbst einen kirchlichen (katholischen) Hintergrund und erinnere mich gut daran, wie wichtig uns in unserer Politisierung ein Jahrzehnt nach der Revolte die Aufrufe und politisch-moralischen Interventionen Gollwitzers waren.

Ein weiterer spannender Aspekt der Arbeit ist die Untersuchung der transnationalen Kontakte der AktivistInnen. Deren Internationalismus war zunächst eine sehr theoretische Angelegenheit. Man sympathisierte zwar mit sozialrevolutionären und antikolonialen Bewegungen, kannte meist aber niemanden aus der Dritten Welt, auch wenn es im Umfeld des SDS einige wenige Führungspersönlichkeiten aus dem Süden gab, vor allem den Iraner Barum Nirumand – bis heute eine engagierte Stimme in politischen Debatten – und den Chilenen Gaston Salvatore. Weitbrecht zeigt, dass aber Rudi Dutschke und sein engstes Umfeld in ihrem Internationalismusverständnis stark durch lateinamerikanische Studenten geprägt wurden. 1964/65 gab es in Berlin einen Lateinamerika-Arbeitskreis, zu dem auch Rudi gehörte. Initiatoren des Arbeitskreises waren der Ecuadorianer Bolívar Echeverría, die Bolivianer René Mayorga, Hugo C. F. Mansilla und León Enrique Bieber (vgl. die Besprechung von dessen Buch zur jüdischen Einwanderung in Bolivien in der ila 358) sowie der Chilene Alex Schubert. Von ihnen lernte Rudi viel über Lateinamerika und entwickelte daraus sein internationalistisches Selbstverständnis.

Im Juli/August 1968 ging eine vom SDS organisierte Arbeitsbrigade nach Cuba, an der etwa 40 Leute teilnahmen. Dabei kam es zu einigen Reibereien zwischen der Gruppe und ihren cubanischen BetreuerInnen. So kritisierten die SDSlerInnen autoritäre Elemente des cubanischen Systems – damals endete gerade die Phase revolutionärer Demokratie und wurde durch einen Sozialismus sowjetischer Prägung abgelöst (s.u.). Während diese Kritik sicher ihre Berechtigung hatte, wirkten andere Vorwürfe im Rückblick unglaublich arrogant und selbstgerecht. Etwa wenn deutsche AktivistInnen, die zu Hause gerade die sexuelle Revolution gegen die spießige Nachkriegsmoral versuchten, die cubanische „Sexualverdrängung“ kritisierten, ohne auch nur das Geringste vom Sexualleben und dem Machismo der cubanischen Gesellschaft zu verstehen.

Breiten Raum widmet Dorothee Weitbrecht den Lateinamerikareisen und Studienaufenthalten von insgesamt zwölf vormaligen SDSlerInnen in den Jahren nach 1968. Fast alle kamen an lateinamerikanischen Universitäten in Kontakt zu den dortigen linken und revolutionären Bewegungen und arbeiteten mit diesen zusammen. In den sich zuspitzenden politischen Konflikten gerieten mehrere ins Visier der Repressionskräfte. So wurde Klaus Meschkat nach dem Militärputsch in Chile festgenommen und war mehrere Wochen inhaftiert, ehe der SPD-Politiker Hans-Jürgen Wischnewski seine Freilassung erreichte. Gisela Richter wurde 1968 in Venezuela als angebliche Kurierin „des internationalen Castro-Kommunismus“ verhaftet und kam erst nach einer Intervention des damaligen bundesdeutschen Justizministers Gustav Heinemann, einem der wenigen Radikaldemokraten in der westdeutschen Nachkriegspolitik, frei. Dorothee Weitbrechts Patentante Elisabeth Käsemann wurde 1977 in Argentinien von Sicherheitskräften verschleppt und nach wochenlanger Haft und Folter in geheimen Gefängnissen schließlich ermordet, auch weil das seinerzeit von Hans-Dietrich Genscher geführte Auswärtige Amt wenig tat, um ihr Leben nach der Verschleppung zu retten.

Einige der Lateinamerikareisenden aus dem Umfeld des Westberliner SDS bauten nach ihrer Rückkehr Solidaritätsinitiativen auf. Urs und Clarita Müller-Plantenberg gehörten im Juli 1973 zu den GründerInnen der Chile-Nachrichten (den heutigen Lateinamerika-Nachrichten). Andere, wie Klaus Meschkat, arbeiten bis heute wissenschaftlich zu Lateinamerika. Schließlich gab es einige, die gar nicht zurückkehrten, wie etwa Bernard Mommer. Der Sohn des SPD-Politikers Karl Mommer lebt in Venezuela und war dort zeitweilig Vize-Energieminister unter Hugo Chávez.

Wenn „1968“ auch ein globales Phänomen war, so gab es doch erhebliche nationale Unterschiede. Dies wird deutlich, wenn man Dorothee Weitbrechts Darstellungen mit Thomas Neuners Buch „Paris, Havanna und die intellektuelle Linke“ vergleicht. In der ebenfalls als Dissertation entstandenen Arbeit untersucht der Autor die französisch-cubanische Kooperation in den sechziger Jahren. Dabei behandelt er sowohl die Beziehungen auf Regierungsebene als auch das Engagement nichtstaatlicher Solidaritätsgruppen, die überwiegend im linken universitären Milieu angesiedelt waren.

Während sich die bundesdeutschen Studierenden eine kritische Analyse des Kapitalismus, des bürgerlichen Staates und der internationalen Beziehungen erst neu erarbeiten mussten, gab es in Frankreich eine Kontinuität marxistischen Denkens und Engagements. Anders als in Deutschland, wo das Bürgertum den KommunistInnen nicht verzeihen wollte, dass sie Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet hatten und deshalb ihre fortgesetzte Verfolgung guthieß, zollten große Teile der französischen Gesellschaft, bis weit ins konservative Lager, der Parti Communiste Français (PCF) Respekt für ihren Kampf gegen die NS-Besatzung. Auch der deutsche Anti-Intellektualismus, der von den Nazis erfolgreich instrumentalisiert und von der Nachkriegs-CDU bruchlos übernommen worden war, existierte in Frankreich nicht. Die Intellektuellen genossen weithin ein hohes Prestige und wurden als kritisches Gewissen der Gesellschaft betrachtet.

Dieser kleine Exkurs ist notwendig, um die Rezeption der cubanischen Revolution im Frankreich der sechziger Jahre zu verstehen. Denn während die bundesdeutsche Gesellschaft die Entwicklung in Cuba zunächst kaum wahrnahm und sie dann im Zuge der „Raketenkrise“ 1962 in die Logik des Kalten Kriegs einordnete, gab es in Frankreich ein vergleichsweise großes Interesse am Veränderungsprozess auf der Karibikinsel. Bereits 1958 hatte der linkskatholische Journalist Claude Julien die Guerilleras/os der „Bewegung 26. Juli“ in der Sierra Maestra besucht und darüber größere Reportagen in der linksliberalen Tageszeitung Le Monde und verschiedenen anderen Zeitschriften veröffentlicht. Julien, der in der Résistance aktiv gewesen war, also im Untergrund gegen die deutsche Besatzung gekämpft hatte, hegte große Sympathien für die cubanischen RevolutionärInnen. Er sah in der Aufstandsbewegung vor allem einen antikolonialen Befreiungskampf mit dem Ziel, den unvollendeten Unabhängigkeitsprozess der Insel abzuschließen und ihre Abhängigkeit von den USA zu beenden. Diese Sicht übernahm zwei Jahre später – die „Bewegung 26. Juli“ hatte inzwischen das Batista-Regime gestürzt und am 1. Januar 1959 die Macht übernommen – auch Jean-Paul Sartre, der wohl angesehenste französische Intellektuelle jener Zeit. Über das Erreichen der nationalen Unabhängigkeit hinaus sah Sartre in der cubanischen Revolution ein Modell für die Dritte Welt: Sie zeige, dass es möglich sei, sich aus der neokolonialen Abhängigkeit zu befreien und einen selbstbestimmten Entwicklungsweg einzuschlagen. Die Kritik der beiden einflussreichen Publizisten an der feindseligen US-Politik gegenüber Cuba fand in weiten Kreisen der französischen Gesellschaft Gehör. Anders als die bundesdeutsche Öffentlichkeit, die die USA als Schutzmacht gegen die „kommunistische Gefahr“ sahen, betrachteten viele Franzosen und Französinnen die US-Hegemonialpolitik mit Misstrauen.

Der positive historische Bezug der französischen Regierung auf die eigene Revolution und die Distanz des seit Anfang 1959 amtierenden Präsidenten De Gaulle zu den USA nährten bei den cubanischen RevolutionärInnen die Hoffnung, in Frankreich einen Alliierten zu finden. Doch dem stand in den ersten Jahren der Revolution der algerische Unabhängigkeitskrieg entgegen, in dem Cuba sich eindeutig auf der Seite der Befreiungsbewegung FLN in deren Kampf gegen die französische Kolonialmacht befand. Erst mit der Unabhängigkeit Algeriens verbesserten sich die offiziellen Beziehungen, und Frankreich wurde zu Cubas wichtigstem Handelspartner im westlichen Lager. Verstärkt wurde die Orientierung der Revolutionsführung auf eine engere Kooperation mit Paris – nach Einschätzung Thomas Neuners war das cubanische Interesse daran stets größer als das französische – durch eine Abkühlung des Verhältnisses Cubas zur Sowjetunion in der Folge der sogenannten „Raketenkrise“. Der sowjetische Parteichef Chruschtschow hatte sich am 28. Oktober 1962 mit dem US-Präsidenten Kennedy auf einen Abzug sowjetischer Raketen aus Cuba geeinigt, ohne die Regierung in Havanna zu konsultieren, was diese als schweren Vertrauensbruch empfand.

Neben der Intensivierung der Beziehungen zum offiziellen Frankreich bemühte sich die cubanische Regierung, Intellektuelle und die Linke für eine Unterstützung der Revolution zu mobilisieren. Diese Engagement zeitigte bald Erfolge. Verschiedene französische KünstlerInnen und Intellektuelle reisten nach Cuba und warben nach ihrer Rückkehr für den dort eingeleiteten Veränderungsprozess. Höhepunkt und zugleich Endpunkt des cubanischen Werbens um die Aufmerksamkeit und Unterstützung kritischer Intellektueller war der Internationale Kulturkongress im Februar 1968 in Havanna, dessen Vorgeschichte und Debatten Thomas Neuner breiten Raum widmet.

In Frankreich wurden bereits bald nach dem Sieg der cubanischen RevolutinärInnen Organisationen gegründet, um die Solidaritätsarbeit und Unterstützung zu institutionalisieren, so etwa die 1961 unter Regie der PCF entstandene Gruppe France-Cuba. Wie die meisten Vorfeldorganisationen kommunistischer Parteien präsentierte sie sich überparteilich, die politische Linie bestimmte freilich das Zentralkomitee der PCF.

Doch obwohl oder besser gesagt weil France-Cuba von der PCF kontrolliert wurde, war das Verhältnis der cubanischen Revolutionsführung zu dieser Solidaritätsorganisation kompliziert und von starken Schwankungen gekennzeichnet. Die PCF unterhielt traditionell Beziehungen zu ihrer cubanischen Schwesterpartei, der Partido Socialista Popular (PSP). Als die „Bewegung 26. Juli“ im November 1956 den bewaffneten Kampf gegen die Batista-Diktatur aufnahm, kritisierten die PSP-KommunistInnen die Guerilleros/as scharf. Erst als die RebellInnen 1958 beträchtliche Teile des Landes unter ihre Kontrolle gebracht und die Nachschubwege der Streitkräfte Batistas unterbrochen hatten, also kurz vor dem Sieg standen, änderte die Partei ihre Haltung und schlug sich auf die Seite der Revolution. 

Nach deren Triumph gewann die PSP bald großen Einfluss in den neuen Institutionen, weil sie anders als die Guerilleros/as der „Bewegung 26. Juli“ über Erfahrungen im Aufbau und der Führung bürokratischer Apparate verfügte und zudem Hilfe aus den sozialistischen Staaten und der internationalen kommunistischen Bewegung mobilisieren konnte. Als die PSP-Führung 1961/62 in Cuba begann, Mitglieder der „Bewegung 26. Juli“ aus Schlüsselpositionen zu verdrängen und durch eigene Leute zu ersetzen, holte Fidel Castro 1962 zum Gegenschlag aus. Er initiierte den „Prozess gegen das Sektierertum“, in dessen Rahmen führende PSP-Repräsentanten aus Leitungsfunktionen entfernt und degradiert wurden. Höhepunkt der Auseinandersetzung mit den moskautreuen Kräften war 1964 der Prozess und das Todesurteil gegen den früheren PSP-Politiker Marcos Rodríguez, der 1957 Widerstandskämpfer des Directorio Revolucionario Estudiantil bei der Polizei des Batista-Regimes denunziert hatte.

Die Widersprüche zwischen den Kräften um Fidel Castro und der PSP führten auch zu einer Abkühlung des Verhältnisses der cubanischen RevolutionärInnen zur PCF-Führung. Die Botschaft in Paris suchte verstärkt die Zusammenarbeit mit kritischen Kräften innerhalb und außerhalb der PCF und France-Cuba. Vor allem im PCF-nahen Studierendenverband Union des Etudiants Communistes (UEC) gewannen AktivistInnen an Einfluss, die die Politik der PCF-Führung und der Sowjetunion kritisierten und in der cubanischen Revolution eine Alternative zum Sozialismus osteuropäischer Prägung sahen. Sie bezogen sich positiv auf den bewaffneten Kampf zur Eroberung der Macht und kritisierten den Bürokratismus sowie die von der Sowjetunion und der PCF proklamierte Politik der friedlichen Koexistenz. Für diese radikale und in Teilen antiautoritäre Linke wurde Ernesto Guevara zur wichtigsten Identifikationsfigur, dessen Kritik am sowjetischen System der materiellen Anreize sie ebenso teilten wie seine im Februar 1965 in Algier geäußerte Kritik an der Handelspolitik der sozialistischen Länder. Während der deutsche SDS – zumindest bis zur „Tomatenattacke“ gegen Hans-Jürgen Krahl1 – eine sehr männliche Geschichte war, gab es bei den Linksradikalen in der französischen UEC wichtige Protagonistinnen wie Évelyne Pisier und Jeannette Pienkny. Letztere lebte unter dem Decknamen Jeannette Habel, den sie bis heute in ihren Veröffentlichungen benutzt, zwischen 1962 und 1965 in Havanna und koordinierte zwischen der unabhängigen französischen Soliszene und cubanischen Stellen.

Während man in Havanna also die Zusammenarbeit mit den unabhängigen Linken an den französischen Universitäten suchte, sah man deren politische Radikalisierung in den Jahren 1967/68 eher skeptisch. Jenseits des gerne artikulierten Edikts, dass es die Pflicht eines jeden Revolutionärs sei, die Revolution zu machen, hatte man in Cuba keineswegs ein Interesse daran, die Regierung De Gaulle zu destabilisieren. Diese wurde schließlich als Bündnispartner gegen die USA betrachtet. Die Revolution sollte nach den cubanischen Vorstellungen in den Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas stattfinden, den Solidaritätsbewegungen in Frankreich/Europa fiel danach die Rolle zu, diesen Prozess zu unterstützen und ggf. politisch abzusichern, etwa durch Mobilisierungen gegen konterrevolutionäre Militärinterventionen. 

Als radikale Studierende, von denen sich viele in der Cuba-Solidarität politisiert hatten, und ArbeiterInnen im Mai 1968 für einen kurzen Moment die Machtfrage in Frankreich stellten und ein Aufstand gegen die Regierung De Gaulles im Bereich des Möglichen lag (wobei die Streitkräfte für dessen militärische Niederschlagung bereits mobilisiert waren), hatten Castro und seine Regierung ein Problem. Zumal die französische Regierung in ihrer Propaganda unterstellte, die Revolte sei von Havanna gelenkt. Da es – wie der bolivianische Vizepräsident Alvaro García Linera einmal weise bemerkte – in der Außenpolitik keine Freundschaften, sondern nur Interessen gibt, distanzierte sich die cubanische Führung von den AktivistInnen des Pariser Mai und bemühte sich, bei der französischen Regierung gutes Wetter zu machen. So leitete der Pariser Mai 1968 einen Prozess der Entfremdung zwischen der cubanischen Revolution und der radikalen Linken in Frankreich ein, der sich über mehrere Jahre hinzog und damit endete, dass die Regierung in Havanna 1972 alle Verbindungen zu linksradikalen Gruppen abbrach. Dies natürlich auch vor dem Hintergrund der ab Ende der sechziger Jahre vollzogenen vollständigen Integration Cubas ins realsozialistische Lager, die der Revolution zweifelsohne half, ökonomisch zu überleben, aber das Ende aller Optionen im Hinblick auf einen eigenständigen, selbstbestimmten Entwicklungsweg bedeutete.

Einen ganz anderen Charakter als die Dissertationen von Dorothee Weitbrecht und Thomas Neuner hat das Buch „Rudi Dutschke. Aufrecht gehen – 1968 und der libertäre Kommunismus“ von Helmut Reinicke. Der Autor, vielen ila-LeserInnen sicher durch Beiträge in unserer Zeitschrift bekannt, lehrte bis zu seiner Emeritierung an der Universität Flensburg Philosophie. In den sechziger Jahren war er im Frankfurter SDS und während eines Studienaufenthaltes in den USA in der dortigen Bürgerrechtsbewegung aktiv, also an gleich zwei Orten in die weltweite Revolte involviert. Ihm geht es in seinem Buch nicht um die historische Rekonstruktion der damaligen Geschehnisse und Debatten, sondern um die Herausarbeitung dessen, was Rudi Dutschke und seine politisch-theoretischen Mitstreiter für die (Wieder-)Entdeckung der emanzipatorischen Inhalte des Marxismus und die Neubestimmung einer befreienden – Helmut Reinicke würde eher sagen: revolutionären – Perspektive geleistet haben. Seinen Ansatz dabei würde ich „sozialphilosophisch“ nennen, denn er ist der Meinung, dass die Philosophie „stets die gesellschaftlichen Veränderungen genauestens reflektiert – ohne es zu wissen, von Hegel abgesehen – man muss es nur so lesen können“ (S. 189) Dabei mutet Helmut Reinicke seinen LeserInnen sprachlich und intellektuell Einiges zu, vor allem jenen, die es nicht gewöhnt sind, philosophische Texte zu lesen. Hat man aber seine Formulierungen erst einmal verstanden, finden sich darin, wie übrigens auch in den meisten Texten von Karl Marx, viel erfrischender Humor und Ironie.

Es seien Dutschke und einige andere – wobei ihm der 1970 bei einem Autounfall ums Leben gekommene Hans-Jürgen Krahl besonders wichtig ist – gewesen, die das Marxsche Werk aus den Klauen der Orthodoxie kommunistischer Parteiideologen in Ost und West befreit und die Ökonomiekritik ins Zentrum ihres kritischen Marxismus gestellt hätten. Sie hätten Marx neu gelesen und auch seine frühen Schriften wie etwa die „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte“ herangezogen, in denen er die Überwindung von Herrschaft, also die wirkliche Befreiung von Macht- und Gewaltstrukturen, antizipiert.

Neben den Arbeiten von Herbert Marcuse aus den fünfziger und sechziger Jahren konnten sie sich dabei auf die Vorarbeiten unorthodoxer Linker aus den zwanziger Jahren stützen, wie den 1926 aus der KPD ausgeschlossenen Karl Korsch oder den niederländischen Rätekommunisten Anton Pannekoek. Darüber hinaus setzten sie sich auch mit den Arbeiten der AnarchistInnen, vor allem Bakunin, auseinander, deren Gedanken sie für die Konzeption eines wirklichen Sozialismus als unerlässlich empfanden. Rudi Dutschke veröffentlichte 1966 für den SDS eine „Ausgewählte und kommentierte Bibliographie des revolutionären Sozialismus von K. Marx bis in die Gegenwart“, die in Helmut Reinickes Buch komplett dokumentiert ist. Sie gibt Zeugnis davon, wie intensiv sich der damals 26jährige Rudi mit der Literatur von den Frühsozialisten über Karl Marx, Bakunin, Rosa Luxemburg, Lenin, Trotzki, Thalheimer bis hin zu den kritischen Geistern seiner Epoche auseinandersetzt. Dabei interessierten ihn nicht nur theoretische Texte, sondern auch historische Arbeiten über die Pariser Kommune, die Geschichte der Internationalen, der Rätebewegung in Russland, linke Organisationsversuche jenseits von Sozialdemokratie und Stalinismus und natürlich die revolutionären Denker der Dritten Welt von Mao, über Fanon bis Che. Außerdem empfiehlt Rudi einige Bücher des belgischen Wirtschaftswissenschaftlers Ernest Mandel, übrigens der Einzige, auf den in allen drei besprochenen Büchern eingegangen wird. Der „flämische Internationalist jüdischer Herkunft“ (Selbstbezeichnung) war sowohl mit seinen Arbeiten als auch persönlich in Paris, Berlin, Brüssel und anderen Orten der Revolte präsent. Zudem führte er 1963/64 in Havanna eine äußerst spannende wirtschaftspolitische Debatte mit Che und dem französischen marxistischen Ökonomen Charles Bettelheim.2

Ein Moment, das für die Beteiligten an der damaligen Revolte prägend war, war ihre weitgehende gesellschaftliche Isolierung. In einer Gesellschaft, die noch stark von den autoritären Strukturen des Nationalsozialismus geprägt oder wo der Antikommunismus weithin akzeptierte Staatsdoktrin war, kamen sie mit ihrer Agitation gegen den Krieg in Vietnam, den Imperialismus und den Kapitalismus selten über das studentische Milieu hinaus. Insbesondere die Westberliner ArbeiterInnen zeigten wenig Sympathien für die Revolte, ließen sich sogar von Gewerkschaften und Senat gegen sie mobilisieren. Die Reaktion der AktivistInnen auf ihre gesellschaftliche Isolierung waren einerseits fragwürdig-elitäre Analysen, nach denen die Arbeiterklasse im Spätkapitalismus so in das System eingebunden sei, dass sie gar nicht mehr in der Lage sei, selbständig zu denken und ihre wahren Interessen zu erkennen. 

Sehr viel interessanter waren die Konsequenzen, die Dutschke für die praktisch-politische Arbeit zog, nämlich, dass es nicht mehr ausreiche, nur zu agitieren, sondern, dass die von den Herrschenden gesetzten und von den meisten BürgerInnen akzeptierten Grenzen nicht nur verbal, sondern auch durch direkte Aktionen überschritten werden müssten. Konkret wurde das beim Besuch des kongolesischen Diktators Moises Tschombé im Dezember 1964 in Berlin. Damals durchbrachen die studentischen AktivistInnen erstmals polizeiliche Demonstrationsverbote. Der „zivile Ungehorsam“ als politisches Kampf- und Mobilisierungsinstrument war ein Kind der US-Bürgerrechtsbewegung, die durch Aktionen wie Sit-ins, Mahnwachen, spontane Demonstrationen oder Boykotte das System der Rassentrennung und dessen TrägerInnen permanent herausforderte. Im postnazistischen Deutschland hatte die Überschreitung der vom Staat vorgegebenen Grenzen und Spielregeln eine noch politischere Dimension, sie bedeutete den massenhaft praktizierten Bruch mit dem vom Faschismus erzwungenen Gehorsam. Der Sozialpsychologe Peter Brückner, dessen Arbeiten für mich zum Wertvollsten gehören, was die 68er-Bewegung theoretisch geleistet hat, sprach später von der „Zerstörung des Gehorsams“ als der großen historischen Leistung der Revolte – daraus resultierte wohl der enorme Hass, der den 68ern in Deutschland entgegenschlug, sowohl von denen, die Gehorsam einforderten, als auch jenen, die stets gehorchten!

So leistete die Bewegung tatsächlich das, was Dutschke und andere als zentrales Anliegen formulierten, nämlich, dass zum Kampf für Veränderung immer auch der um Selbstveränderung gehörte. Doch die Subjekte der Revolte wollten natürlich weit mehr als die autoritären Strukturen des postfaschistischen Staates aufbrechen und die politischen Kosten des US-Krieges in Vietnam hochtreiben. Sie kämpften für die Revolution und einen freiheitlichen Sozialismus. Darin waren sie, wie wir alle wissen, weniger erfolgreich. Als 1968/69 absehbar wurde, dass es mit der Revolution kurzfristig nichts würde, versuchten manche AktivistInnen den Systemwechsel „strategisch“ anzugehen und bauten autoritäre Kaderparteien auf. Andere integrierten sich ins System, teilweise ideologisch verbrämt als „Marsch durch die Institutionen“. Wenngleich ich nicht unterschätzen würde, dass dadurch demokratische Veränderungen in Schulen, Universitäten, Justiz, Gesundheitswesen, Medien, Kirchen, Gewerkschaften vorangetrieben wurden, war das natürlich nicht die Revolution. 

Für Rudi Dutschke, der nach dem Attentat vom April 1968 mehrere Jahre brauchte, bis er einigermaßen wiederhergestellt war, aber blieb die Revolution das Ziel – ein Ziel, das in immer weitere Ferne rückte. So saß er, gesundheitlich noch immer angeschlagen, in seinem dänischen Exil und stürzte sich in die Arbeit, vor allem seine Dissertation, eine kritische Analyse des bolschewistischen Konzepts von Partei und Revolution.3 1975 schrieb er in sein Tagebuch: „Der sozialen Revolution kann ich gegenwärtig nur dienen durch eine Verschärfung der wissenschaftlichen Arbeit. Und zur richtigen Zeit wieder eingreifen‚ in Bereitschaft sein, ist alles.“ (zit. nach Reinicke, S. 206) Eingreifen sollte er bald wieder, er reiste ab 1976/77 immer häufiger nach Deutschland, sprach auf Veranstaltungen, warb für den Aufbau einer sozialistischen Partei. Er lernte die Anti-AKW-Bewegung kennen, sah in deren dezentralen Strukturen eine spannende Perspektive, setzte dann Hoffnungen in die sich bildenden Grünen. Am 24. Dezember 1979 starb er im Alter von 39 Jahren an den Spätfolgen des Attentats – er ertrank nach einem epileptischen Anfall in der Badewanne.

Helmut Reinickes Buch ist in der „Bibliothek des Widerstands“ des Laika-Verlages erschienen, deren Konzept die Kombination von Buch und Film ist. Dem Band liegen zwei DVDs mit insgesamt vier Filmen über Rudi Dutschke bei, wobei insbesondere „Aufrecht gehen“ (BRD 1988, 78 Minuten) zu empfehlen ist. Und natürlich „Zu Protokoll Rudi Dutschke“ (BRD 1967, 41 Minuten), das legendäre Interview von Günter Gaus mit Rudi aus dem Jahr 1967. Da waren Talkshows noch nicht erfunden, und es wurde im Fernsehen wirklich kontrovers über Inhalte geredet.

Dorothee Weitbrecht: Aufbruch in die Dritte Welt. Der Internationalismus der Studentenbewegung von 1968 in der Bundesrepublik Deutschland, V & R unipress, Göttingen 2012, 421 Seiten, 39,90 Euro

Thomas Neuner: Paris, Havanna und die intellektuelle Linke. Kooperation und Konflikte in den 1960er Jahren, UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2012, 390 Seiten, 44,- Euro

Helmut Reinicke: Rudi Dutschke. Aufrecht gehen – 1968 und der libertäre Kommunismus, LAIKA-Verlag, Hamburg 2012, 320 Seiten geb., + 2 DVDs mit den Filmen „Aufrecht gehen“ (Helga Reidemeister, BRD 1988, 78 Minuten), „Dutschke, Rudi, Rebell“ (Jürgen Miermeister, BRD 1998, 36 Min.), „Rudi Dutschke – Sein jüngstes Portrait“ (Wolfgang Venohr, BRD 1968, 55 Min.), „Zu Protokoll Rudi Dutschke“ (Günter Gaus, BRD 1967, 41 Min.), 29,90 Euro

  • 1. Auf dem SDS-Kongress im September 1968 kritisierte Sigrid Rüger den mackerhaften Diskussionsstil des führenden Frankfurter SDS-Theoretikers Hans-Jürgen Krahl und bewarf ihn mit einer Tomate. Der von SDS-Frauen gegründete „Aktionsrat zur Befreiung der Frauen“ gilt als eine Keimzelle der neuen Frauenbewegung in der BRD.
  • 2. Im Kursbuch 18 (Oktober 1969) mit dem Schwerpunktthema „Cuba“ ist eine Zusammenfassung dieser Debatte von Sergio de Santis erschienen.
  • 3. Dutschke, Rudi: Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen, Berlin 1974