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Mapuche aus Beton

Der chilenische Dichter David Aniñir über die Lebensrealität der Mapuche in der Großstadt
Laura Winkler

Deine erste Gedichtsammlung trägt den Titel Mapurbe. Was ist ein Mapurbe?

Das frage ich mich mittlerweile selbst. Der Begriff entstand während meiner Arbeit als kultureller Aktivist und Leiter der kulturellen Organisation colectivo odiokrata. Das ist eine Organisation meines Viertels, einer población, mit einer anarchistischen, antisystemischen Ausrichtung. Um unsere Arbeit als jugendliche kulturelle Organisation der „pobla“ zu erweitern, begannen wir, einige neue Konzepte zu entwickeln. Wir organisierten Rockkonzerte, kulturelle und soziale Aktionen. Wir waren damals junge Leute mit einer ganzen Reihe von verschiedenen Identitäten, die zum Teil etwas diffus waren, eigentlich war es ein Schmelztiegel von Identitäten, aus dem Slum, aus Armut, Kriminalität, Unterdrückung, alles Erfahrungen, die wir in unserer Kindheit und Jugend gemacht hatten. Unsere Aktionen waren immer von einem gewissen „Mapuchismus“ geprägt, ohne uns dabei allerdings als Mapuche zu verstehen. Auf unsere Veranstaltungen luden wir immer auch Mapucheanführer ein, ihre Forderungen und Klagen einzubringen. Wir begannen, in Aktionen und Organisationen die Mapuche zu unterstützen. Das war in den Jahren 1996-1998, als gerade viel passierte in der Mapuchebewegung, zum Beispiel unsere peñis1, die im Gefängnis saßen.

Und irgendwann merkten wir: Wir sind Mapuche! Aus Spaß begannen wir, uns Mapunky zu nennen, das ergab sich in unseren Gesprächen so. Und so entstand auch der Name Mapurbe, einfach so, ohne viel nachzudenken. Ich begann damals zu schreiben, ich schrieb für mich, ohne mich als Poeten anzusehen, ich war ein „Prä-Poet“ und ich bin es auch heute noch. Wenn ich mit dem Rucksack unterwegs war, verkaufte ich Abschriften davon, und diese ersten Gedichte tragen viele Erlebnisse von der Straße in sich, die Erfahrungen eines jungen Mapuche aus dem Armenviertel der Stadt, der seine Identität als indigenes Wesen, als Mapuche, verarbeitet und auslebt. Meine erste Auswahl an Gedichten, die zwischen 1998 und 2005 entstanden, nannte ich Mapurbe, weil ich fand, dass es gut klang.

Für mich ist der Mapurbe ein Mapuche, der in der Stadt geboren und aufgewachsen ist und von dort aus sein Zugehörigkeitsgefühl, seine Identität als Mapuche, bildet und artikuliert. Es ist eine tiefe Reflexion darüber, warum wir in der Stadt leben, und hier kommen komplexe historische Prozesse ins Spiel.

Welche historischen Prozesse spielen eine Rolle? Und wie beeinflussen sie dich heute?

Schon unsere Eltern sind Produkte von Enteignung, Exodus, erzwungener Negation ihrer Kultur und territorialer Usurpation, dem das Volk der Mapuche in systematischer Weise ausgesetzt war. Die sogenannte Befriedung Araukaniens in Chile und die Wüstenkampagne in Argentinien2 waren in Wirklichkeit grausame militärische Feldzüge, ein Massaker, das sich in verschiedenen Episoden der Geschichte wiederholt, z.B. in den 40er-, 50er- und 60er-Jahren, als unsere direkten Vorfahren, unsere Väter und Großväter sich gezwungen sahen, in die Städte zu ziehen. In den 90er-Jahren begann die Bewegung der territorialen, politischen und kulturellen Forderungen, nicht nur bei den Mapuche, sondern in ganz Lateinamerika, in Chiapas, Ecuador und Bolivien, und unser Gefühl, ein Volk zu sein, blühte wieder auf.

Ich glaube, das kulturelle Gedächtnis ist ein zentraler Aspekt, der eine Art kollektives Gewissen erschafft. Und die Annäherung an diese Reflexion durch die Poesie und nicht nur auf rationale Weise, war ein wichtiger Schritt, um zu begreifen, was der Mapuche heutzutage ist. Wir Mapuche aus der población, aus Santiago, haben sehr viele Konflikte, weil wir immer Mapuche zweiter Klasse waren, damals als die territorialen Forderungen begannen und nur von den Mapuche gesprochen wurde, die aus den dörflichen comunidades kamen und ihre traditionelle Kleidung trugen .

Der traditionelle Mapuche definiert sich stark über sein Land und seine comunidad. Muss ein urbaner Mapuche diese Lücken kompensieren?

Natürlich. Und dieser urbane Mapuche versucht, eine Leere zu füllen. Von wissenschaftlicher Seite hat man viel von dem sozialen Bruch gesprochen, unter dem viele Mapuche leiden. Es gab historische, soziologische und ethnologische Ansätze und auch literarische, aber es fehlte etwas. Mapurbe nähert sich dieser Reflexion auf poetische Weise. Der Prototyp dessen, was man als Mapuche bezeichnete, passte unserer Meinung nach nicht zu den Diskursen politischer und territorialer Forderungen, weil alles sich an den Aktionen ausrichtete. Das Bild, das man mit dem Konflikt verband, waren die Territorialforderungen und Landbesetzungen. Natürlich besteht der Mapuchekonflikt im Süden fort, aber auch die Mapuchebewegung in der población wurde stärker und geeinter.

Was unterscheidet eigentlich den städtische Mapuche vom städtischen Chilenen in der población?

Einerseits einen uns natürlich dieselben Entbehrungen, Schwächen und Stärken, Erlebnisse im Viertel und das Erleben sozialer Gewalt, wir haben einen gemeinsamen Feind. Aber es gibt einen Unterschied. Wir Mapuche besitzen ein historisches Gedächtnis, gehören zu einem Volk, das für sein Land, seine Rechte, sein Fortleben gekämpft hat. Die Zugehörigkeit zu einem Volk entsteht aus diesem kulturellen Gedächtnis, für mich sind die Erlebnisse der Eltern und Großeltern bis heute aktuell. 

Du schreibst und sprichst zum Großteil auf Spanisch. Welche Rolle spielt die Sprache für die Kultur der Mapuche?

Wie viele städtische Mapuche spreche ich nur wenig mapudungu. Wenn etwas kaputt ist, muss es wieder aufgebaut werden, und das ist bei den Mapuche der Fall. Den Mapuche ist wiederholt Gewalt angetan worden und man sagt immer, dass eine Volk ohne Sprache aufhört zu existieren. Die ersten städtischen Mapuche litten unter dem Verlust ihrer Sprache, sie hörten auf, mapudungu zu sprechen, weil sie deswegen diskriminiert wurden. Jetzt beherrschen wir die Sprache nur schlecht, aber in Schulen gibt es mittlerweile Programme, das mapudungu wiederaufleben zu lassen. Für mich ist die Sprache genauso wichtig wie die anderen Aspekte, z.B. die territorialen Forderungen.

Schreibst du deine Gedichte für eine bestimmte Leserschaft? 

Ehrlich gesagt bin ich ziemlich egozentrisch, wenn ich schreibe, denke ich an niemand anders als an mich. Manchmal schreibe ich zwar für eine gewisse Person, die mich inspiriert hat, aber das Schreiben an sich ist für mich ein Bedürfnis, ein komplett egoistisches Bedürfnis. Ich möchte nicht, dass meine Poesie nur deshalb gewürdigt wird, weil sie von einem Mapuche ist, ich möchte, dass sie als Poesie gewürdigt wird. Ich will meine indigene Herkunft auch nicht ausnutzen, wie es viele tun. Das ist ganz einfach, sie tragen traditionelle Kleidung, sprechen ein bisschen mapudungu und fertig.

Natürlich geht es bei mir um Themen der Mapuche und natürlich sehe ich mich selbst als Mapuche, also ist meine Poesie auch in gewisser Weise mapuche. Aber davon abgesehen schreibe ich vom Leben in der Stadt und im Viertel, dem Herumlaufen auf den Straßen, der Musik, dem Rock, der menschlichen Misere, der Marginalisierung, also von vielen universellen Themen, und das alles mit einer Prise Sarkasmus und Ironie. Ich schreibe davon, wie ich im Leben stehe und wie ich die Welt sehe. Ich zeige gerne grundsätzliche menschliche Probleme und Konflikte auf, nicht nur die der Mapuche.

Wie reagieren die traditionellen Mapuche auf deine Gedichte?

Anfangs war es ein Schock für die konservativeren Mapuche. Weil wir aus der Stadt kommen, sprechen viele von uns ihre Sprache nicht und die Mapuche auf dem Land, die manchmal sehr puritanisch und konservativ sind, verachteten uns deswegen. Aber ich glaube, seitdem hat ein Prozess stattgefunden, das Konzept des Mapurbe hat uns in den comunidades und auch in den Universitäten Respekt eingebracht. Und es muss auch gesagt werden, dass die großen Proteste und Mobilisierungen in der Stadt stattgefunden haben und nicht in den ländlichen Gebieten. Der Puritanismus geht mir auf die Nerven, aber ich glaube, die meisten Mapuche haben diese Radikalität überwunden und verstanden, dass wir nach vorne schauen müssen und dass wir Mapuche nur etwas erreichen können, wenn wir als vereintes Volk auftreten.

 

  • 1. Mapudungu für „Bruder“, wird aber auch im weiteren Sinn unter Angehörigen der Mapuche verwendet.
  • 2. pacificación de la araucanía und campaña al desierto sind Bezeichnungen für die Militärkampagnen Chiles und Argentiniens, mit denen Ende des 19. Jahrhunderts das traditionelle Land der Mapuche enteignet wurde.

Das Interview führte Laura Winkler im Oktober 2012 per Skype.