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Wer ist der eigentliche Feind?

Die Menschenrechtsaktivisten von Comité Cerezo über die komplexe Realität im mexikanischen Drogenkrieg

In seinem offiziellen Diskurs macht der mexikanische Staat seit etwa sechs Jahren die organisierte Kriminalität für den dramatischen Anstieg der Gewaltverbrechen im Land verantwortlich. Doch die Menschenrechtsorganisation Comité Cerezo – Trägerin des Aachener Friedenspreises 2012 – rückt das politische Szenario in ein ganz anderes Licht, in dem die Fronten zwischen Staat und Mafia verschwimmen: „In Wahrheit begeht der Staat diese Verbrechen, sei es durch Unterlassung oder als Auftraggeber.“ Im Rahmen der Preisverleihung hielten die Brüder Alejandro und Antonio Cerezo im September mehrere Vorträge in Deutschland und gingen dabei der komplexen Frage nach, wer von der Gewalt profitiert und ein Interesse daran haben könnte, sie am Leben zu erhalten.

Viola Campos

Allein von Januar 2011 bis Mai des laufenden Jahres registrierten die MenschenrechtlerInnen von Comité Cerezo 38 gewaltsame Entführungen mit Verschwindenlassen, 29 Hinrichtungen, 158 politisch motivierte Festnahmen sowie 128 weitere Übergriffe auf VertreterInnen sozialer Bewegungen in Mexiko. Die Organisation hat sich insbesondere der Dokumentation von Verbrechen gegenüber MenschenrechtsverteidigerInnen und Mitgliedern sozialer Bewegungen verschrieben, eine Arbeit, die in Mexiko kaum existent ist. 2001 hoben die drei Brüder Alejandro, Antonio und Héctor Cerezo, als Antwort auf ihre willkürliche Festnahme im selben Jahr, bei der sie beschuldigt wurden, Sprengkörper in drei Bankfilialen gelegt zu haben, das gleichnamige Komitee aus der Taufe. Mit der Begründung, dass nicht etwa ihre Taten, sondern ihre Art zu denken mit den kriminellen Gruppen übereinstimme, die dem mexikanischen Staat gegenüber feindlich gesinnt seien, wurden sie physisch und psychisch gefoltert und anschließend in Hochsicherheitsgefängnissen weggeschlossen.

Außerhalb der Gefängnismauern kämpften zwei weitere Geschwister der Inhaftierten sowie befreundete StudienkollegInnen um ihre Freilassung und bauten das Comité Cerezo auf, wobei sie von den Internationalen Friedensbrigaden (pbi) unterstützt wurden, die sie im Bereich der Menschenrechte ausbildeten. Nach drei Jahren stellte sich der erste Erfolg ein: Alejandro Cerezo wurde in allen Anklagepunkten für unschuldig erklärt und aus dem Gefängnis entlassen. Doch Hector und Antonio mussten jeweils eine siebeneinhalb Jahre lange Haftstrafe absitzen, die nach eigenen Angaben mehr politisch als juristisch begründet war. Die Brüder Cerezo sehen ihre Freiheitsberaubung im Zusammenhang mit den Studentenprotesten von 1999-2000 in Mexiko-Stadt. Auch sie waren damals an dem einjährigen Streik an der größten staatlichen Universität UNAM beteiligt und betrachten sich als politische Gefangene und Sündenböcke.

Seit ihrer Gründung waren die Mitglieder der Menschenrechtsorganisation immer wieder Anfeindungen, Bespitzelungen, Aggressionen sowie mehreren Morddrohungen ausgesetzt, weshalb einige von ihnen Schutzmaßnahmen der Interamerikanischen Menschenrechtskommission in Anspruch nehmen müssen. In den vergangenen elf Jahren hat das Comité Cerezo u.a. zwei Menschenrechtsschulen gegründet, außerdem hält es regelmäßig Seminare für Opfer von Menschenrechtsverbrechen sowie deren Angehörige ab und beteiligt sich an der Ausarbeitung von Gesetzesentwürfen. Zudem veröffentlicht es die Zeitschrift Revueltas, ein Raum für die literarische Auseinandersetzung mit dem Thema Menschenrechte.

In seiner Ansprache zur Verleihung des Aachener Friedenspreises am 2. September 2012 gab das Comité Cerezo zu bedenken, dass insbesondere im Ausland oft die Wahrnehmung überwiege, dass in Mexiko Frieden herrschte, bevor die Regierung von Felipe Calderón im Dezember 2006 den Drogenkartellen und der organisierten Kriminalität den Kampf ansagte. Infolgedessen kam es auf den Straßen zu einem massiven Einsatz von Heer und Marine, die polizeiliche Aufgaben übernahmen. Mehr als 50 000 Angehörige der mexikanischen Streitkräfte sind schätzungsweise an dieser Operation beteiligt, und seitdem scheint das Land in einer endlosen Gewaltspirale gefangen zu sein. Laut Regierungsangaben ist die organisierte Kriminalität für den Tod von über 42 000 Menschen verantwortlich, andere Schätzungen gehen von 50 000 bis 70 000 Opfern aus, auch das Phänomen der Binnenflucht hat drastisch zugenommen. 

„Es gibt indes noch einen anderen Aspekt dieser durch Gewalt und Schrecken geprägten Realität, den man gerne unterschlägt und allgemein nicht als Krieg bezeichnet und oft unterschätzt: In Mexiko gab es schon lange vor 2006 Armut, Elend und eine extrem ungleiche Verteilung des Reichtums“, erklärte Alejandro Cerezo auf der Preisverleihung. Nach Angaben des Nationalen Rates für die Auswertung Sozialer Entwicklungspolitik (CONEVAL) leben etwas mehr als 90 von den ca. 113 Millionen MexikanerInnen in Armut. „Verdient nicht diese wachsende Ungleichheit einen ebenso entschiedenen Einsatz des mexikanischen Staates wie den zur Bekämpfung der Kriminalität? Können wir angesichts dieser sozialen Schieflage wirklich behaupten, dass vor 2006 in unserem Land Frieden herrschte?“ 

Laut dem Komitee führt der Staat gegen den größten Teil der Bevölkerung Krieg, um dieses extrem ungleiche Wirtschaftssystem aufrechtzuerhalten. Das Perverseste an dieser Strategie sei allerdings der rechtfertigende Diskurs der Regierung: „Man hat sich einen internen Feind geschaffen, den es zu vernichten gilt, nämlich das organisierte Verbrechen, und das kann überall, zu jeder Zeit und jedeN BürgerIn treffen. Um diesen inneren Feind zu bekämpfen, hat man Sondergesetze geschaffen, welche sowohl unsere Verfassung als auch den internationalen Menschenrechtskodex verletzen.“

Für das Comité Cerezo ist die mexikanische Realität weitaus komplexer, als die simple Schwarz-Weiß-Malerei der Regierung vermuten lässt. Um das Gesamtbild zu erfassen, sei es notwendig, die Beziehung zwischen Wirtschaft, Politik und politischen Akteuren zu berücksichtigen, betonte Alejandro auf der von alerta, der ila und der Rosa-Luxemburg Stiftung NRW veranstalteten Mexiko-Tagung am 15. September in Köln. Auf die Frage, wem die Gewalt diene, erklären die Menschenrechtler, sie diene dem Staat in seiner Rolle als Garant eines weltweiten neoliberalen Projektes. Er sei nämlich durch Hilfeunterlassung oder als Auftraggeber in die meisten Fälle von Menschenrechtsverletzungen involviert. In den letzten Jahren habe in Mexiko aber vor allem eine dritte Form von Menschenrechtsverbrechen zugenommen, bei der der Staat Gruppen von Zivilpersonen oder einzelne Zivilpersonen unterstützt, ausbildet und befehligt, damit sie die Zielpersonen angreifen und er sich somit jeglicher Verantwortung entziehen kann. Das Problem liege nicht bei einzelnen Individuen, die unmenschliche und grausame Taten begehen, sondern bei den systematischen Menschenrechtsverbrechen, hinter denen eine Politik, ein Schema zu erkennen sei.

Ein Beispiel hierfür ist Michoacán, der Bundesstaat in Mexiko, in dem die meisten Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen von MenschenrechtlerInnen registriert wurden. Unmittelbar nachdem Gruppen von Paramilitärs die LandbesitzerInnen dort ermordet oder vertrieben hatten, begann die Avocadoindustrie deren Ländereien zu nutzen. Ähnliches passiert zurzeit im Süden Mexikos, in Oaxaca, wo ein Megaprojekt zur Erzeugung von Windenergie geplant ist. Kaum hatte sich die ansässige Gemeinde gegen das Projekt gewehrt, wurde sie Opfer von Morddrohungen seitens der örtlichen Polizei, des transnationalen Unternehmens und einzelner Gruppen, auch die Anführerin der Widerstandsbewegung wurde inzwischen festgenommen. Ein weitaus komplexerer Fall spielt sich wiederum im Valle de Juárez, im Bundestaat Chihuahua ab. In dieser Grenzregion zu den Vereinigten Staaten wird seit 2008 eine Reihe von Megaprojekten geplant, vorneweg die größte Brücke zwischen den USA und Mexiko, weiter industrielle Korridore, sogenannte Modellstädte bis hin zu Gefängnissen als Arbeitszentren, in denen die Insassen billige MaquilaarbeiterInnen ersetzen sollen. 

Als Paradebeispiel für politisch motivierte Menschenrechtsverbrechen gegen AktivistInnen gilt hier die Familie Reyes Salazar, von der sechs Mitglieder systematisch ermordet wurden, die in erster Linie gegen die Militarisierung des Bundestaates und die damit verbundenen, willkürlichen Festnahmen von ZivilistInnen ohne Haftbefehl protestierten. Ende 2010 setzte in Chihuahua der sogenannte Plan Todos somos Juárez (Wir alle sind Juárez) ein, eine Kopie des kolumbianischen Medellín-Plans zur Aufstandsbekämpfung. Laut Nationalem Statistik- und Geographieinstitut (INEGI) Mexikos wurden zwischen 2005 und 2010 bis zu 45 Prozent der Bevölkerung zweier Gemeinden im Valle de Juárez gewaltsam vertrieben. Doch während die Regierung behauptet, dass zwei rivalisierende Drogenkartelle für die extreme Gewalt und die Massenflucht in dieser Grenzregion verantwortlich sind, gibt es keine Statistiken, die belegen, dass der Drogenhandel dort im gleichen Zeitraum zugenommen hat. Sie belegen jedoch, dass mehrere Unternehmen sich dort niederlassen.

Seit den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts haben sämtliche mexikanischen Parteien, ohne Ausnahme, ein neoliberales Projekt vorangetrieben und gingen dabei nach Ansicht von Antonio Cerezo sowohl auf legale als auch illegale Weise vor. Im Jahr 1994 setzten die ersten Privatisierungen von Unternehmen ein, doch vor allem die Veränderung des Artikels 27 über den Landbesitz rief eine breite soziale Mobilisierung hervor. Das Aufkommen der zapatistischen Bewegung ist eines ihrer prominentesten Beispiele. Zur Kontrolle des gesellschaftlichen Widerstandes schufen die Regierungen daraufhin entsprechende rechtliche Rahmenbedingungen, die MenschenrechtsaktivistInnen und soziale Bewegungen kriminalisieren. Gleichzeitig nahmen auch die illegalen Formen der Politikimplementierung zu wie die grausame paramilitärische Operation in Acteal, Chiapas, 1997. 

Das Comité Cerezo bezeichnet die organisierte Kriminalität sogar als modernen Paramilitarismus: „Heutzutage nennen sich die paramilitärischen Gruppen Zetas, la Familia oder los Caballeros Templarios. Wenn behauptet wird, dass die Kämpfe in Mexiko zwischen den Drogenbanden ausgefochten werden, fragen wir uns, ob diese Gruppen, die im Drogenhandel tätig sind, nicht eher die Marionetten von höheren und weitaus komplexeren Interessen sind.“ Terror und soziale Kontrolle seien die Hauptingredienzen des mexikanischen Staates, um ein bestimmtes gesellschaftliches Modell im Land durchzusetzen. Dabei solle die organisierte Bevölkerung und nicht das organisierte Verbrechen unterdrückt werden. Auch der zukünftige Präsident Mexikos, Enrique Peña Nieto, hege keine Absicht, etwas daran zu ändern. Die geplanten Reformen in den Bereichen Arbeit, soziale Sicherheit, Energie und Finanzen würden den eigentlichen Staatsfeind Neoliberalismus weiter vertiefen.

 Mehr Informationen über die Menschenrechtsorganisation Comité Cerezo auf www.comitecerezo.org