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Ein Kontinent im Wandel

Sebastian Schoepp von der Süddeutschen Zeitung sieht Lateinamerika auf einem guten Weg
Klaus Jetz

Was die Welt von Lateinamerika lernen kann“, lautet der Untertitel von Sebastian Schoepps Sachbuch „Das Ende der Einsamkeit“. Der für Spanien und Lateinamerika zuständige Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“ gibt zwar einige Hinweise darauf, was die Welt seiner Meinung nach von Brasilien oder Bolivien lernen kann. Dennoch bleibt alles etwas im Dunkeln, die Untermauerung der These scheint etwas dürftig. Den eigentlichen Reiz seines Buches machen andere Inhalte aus: die thematische Vielfalt und Masse an Informationen, spannende Hintergrundberichte, glänzend geschriebene Reportagen, kurzweilige Interviews und interessante Exkursionen in die lateinamerikanische Literatur und Literaturgeschichte. 

Am besten kennt der Autor sich in Argentinien aus, in Buenos Aires hat er gelebt, über das „Argentinische Tageblatt“ hat er seine Magisterarbeit geschrieben, immer wieder ist er an den Rio de la Plata zurückgekehrt. Schoepps Reportagen führen uns aber auch ins Bolivien von Evo Morales, nach Ecuador und Venezuela. Breiten Raum widmet er der polarisierenden Behandlung der linken Regierungen, insbesondere der von Chávez, in den europäischen Medien und spricht sich für eine Entdämonisierung aus. Chávez habe seinen Höhepunkt längst überschritten, die Nachbarländer interessierten sich schon nicht mehr für „den nebulösen Weg der bolivarischen Revolution“, der „nichts anderes ist als der auf Klientelismus basierende Ansatz eines lückenhaften Staatskapitalismus“. Weitere Berichte, Reportagen führen nach Kolumbien, Mittelamerika, Mexiko und in die Karibik.

Doch der Reihe nach: Schoepp gibt zunächst einen kurzen Überblick über 200 Jahre lateinamerikanischer Geschichte und lässt vor allem das 20. Jahrhundert Revue passieren. Hier sieht er Chaos, Gewalt, Krisen, Pleiten, Putsche sowie Caudillos, Diktatoren, Drogenbarone, Generäle und Guerilleros am Werk. Im vergangenen Jahrzehnt aber sei es Lateinamerika gelungen, sein – so Schoepp – negatives Image abzuschütteln und für überwiegend positive Schlagzeilen zu sorgen: Die Wirtschaft sei saniert worden, die Armut bekämpft und der Mittelstand gestärkt worden. Die Finanzkrise sei fast spurlos an Lateinamerika vorübergegangen. Zudem seien vielerorts die Demokratien gefestigt und ehemalige Diktatoren abgeurteilt worden. Mehrere Länder versuchten sich an einer Aufarbeitung ihrer unseligen Vergangenheit.

Darüber hinaus, so eine gewagte These, seien rassistische Einstellungen, „die anscheinend unausrottbare Seuche der Alten Welt“, Lateinamerika fremd. Der Subkontinent sei vielmehr ein Schmelztiegel verschiedener Völker, die „nach einem jahrhundertelangen, konfliktreichen Integrationsprozess“ gelernt hätten, zusammenzuleben. Und dass der Machismo den Rückzug angetreten habe, macht der Autor an vier lateinamerikanischen Präsidentinnen fest, die im Jahr 2010 ihr Amt ausübten.

Für weitere positive Schlagzeilen sorge die Tatsache, dass die Indigenen in der Andenregion die Macht in Händen halten, ihre kulturellen Werte verteidigen und vielen Menschen in der Alten Welt positive Werte vermittelten. Demokratische Umwälzungen hätten auf friedlichem Wege stattgefunden, die Zeit der bewaffneten Aufstände und Revolutionen sei vorbei. Besonders auffällig dabei: Die progressiven Kräfte von heute sind oftmals die Unterdrückten, Eingekerkerten, die Folteropfer von gestern.

2001 lag Lateinamerika nach den Jahrzehnten der brutalen Diktaturen und den folgenden, nicht immer stabilen Demokratien am Boden, ausgezehrt von neoliberalen Wirtschaftsexperimenten, politischen Abenteuern, Aufständen und Massenexodus. Doch dann wendeten sich die USA von Lateinamerika ab und dem Nahen Osten zu. Die Tatsache, dass die Welt Lateinamerika vergessen habe, sei dem Subkontinent gut bekommen. Man habe sich auf seine eigene Stärke besonnen und neue Modelle erprobt, eine progressive solidarische Politik der Umverteilung, der Partizipation und Integration verfolgt. Lateinamerika habe also binnen eines Jahrzehnts seine Lektionen gelernt und sei durchaus auch Vorbild für die arabische Welt, die gerade mehrere Diktatoren gestürzt habe bzw. versuche, sie loszuwerden. 

Schoepp schreibt auch für mehrere lateinamerikanische Medien, kennt neben Argentinien auch Mittelamerika, vor allem Nicaragua, wo er für die konservative Tageszeitung „La Prensa“ arbeitete. Zudem ist er in Barcelona Dozent für angehende Journalistinnen und Journalisten aus Spanien und Lateinamerika. Sein Anliegen war es, die Vielfalt an Informationen zu bewältigen, den roten Faden herauszuarbeiten und Ordnung in die Dinge zu bringen. 

Nach Schoepp kann die Welt von Lateinamerika Stabilisierung und Demokratisierung, Wirtschaftswachstum, Armutsbekämpfung, Umverteilung, Diversity und Vergangenheitsbewältigung lernen. Aber warum diese Vorbildidee, diese fast philosophisch anmutende Vorstellung von einer Heil oder Unheil bringenden Welt, die auch von Peter Scholl-Latour stammen könnte? Schoepp hätte bei seinem Unterfangen ganz einfach danach fragen können, was den Wandel in den letzten zehn Jahren in Lateinamerika ausmacht, welche Entwicklungsmodelle verfolgt werden oder inwiefern die kulturelle Vielfalt und zugleich Einheit des Kontinents seine Stärke ausmachen. Eine solche weniger verfängliche Sicht auf eine Welt im Wandel hätte dem spannenden Buch keinen Abbruch getan. Schließlich kommen an Lateinamerika interessierte Leserinnen und Leser auf ihre Kosten. Aber was soll's? Vielleicht entsprang der Untertitel des Buches einfach nur einem überkreativen Hirn der Marketing-Abteilung des Verlages. 

Sebastian Schoepp, Das Ende der Einsamkeit. Was die Welt von Lateinamerika lernen kann, Westend-Verlag Frankfurt/M 2011, 282 Seiten, 17,99 Euro