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Das Denkmal muss weg!

Osvaldo Bayers Film „Awka Liwen“

Mit dem 2010 erschienen Film „Awka Liwen“ schlägt der in Argentinien und Deutschland bekannte Historiker und Menschenrechtsaktivist Osvaldo Bayer ein weiteres, in der offiziellen Geschichtspolitik Argentiniens lange verschwiegenes Kapitel auf, das der Vertreibung und teilweisen Ausrottung indigener Bevölkerungsgruppen und deren Stellung in der heutigen argentinischen Gesellschaft. Im Januar 2012 zeigte er den Film in Marburg. Annika Hartmann und Steffen Lehnert sprachen dort mit Osvaldo Bayer.

Annika Hartmann

Thema des Dokumentarfilms und Ausgangspunkt des dahinterstehenden Projektes bildet die historische Aufarbeitung der sogenannten Campañas del desierto (dt. Wüstenfeldzüge), welche von der argentinischen Regierung sorgfältig geplant und mit Hilfe modernster Waffen und Technik zwischen 1878 und 1885 durchgeführt wurden. Die von der argentinischen Elite des 19. Jahrhunderts deklarierte Prämisse, die „Wüste zu erobern“ (Poblar el desierto), ist rückblickend, wie Bayer selbst im Film sagt, reinster Euphemismus. Denn das Land südlich von Buenos Aires war weder eine Wüste noch unbewohnt. Stattdessen wurden die fruchtbaren Gebiete Patagoniens unter anderem von Mapuches, Tehuelches und Ranqueles bewohnt, die während der Feldzüge des Landes beraubt, vertrieben und Opfer von Massakern wurden.

Ausgehend von den Militärkampagnen dokumentiert der von der Heinrich-Böll-Stiftung finanzierte Film von Osvaldo Bayer, Mariano Aiello und Kristina Hille die Geschichte der damaligen Bewohner Patagoniens, von ihrer Vertreibung bis hin zur gegenwärtigen Situation. Der Ton des von der argentinischen Regierung und der Abgeordnetenkammer zum „nationalen Interesse“ erklärten Films mit Osvaldo Bayer als aufklärend-deutendem Erzähler ist dabei ganz klar pädagogisch; der Film soll enthüllen und entmystifizieren. Dabei werden sowohl historische Dokumente, aus denen auch hier zitiert wird, animierte Bilder und erklärende Beiträge von verschiedenen ExpertInnen eingespielt. Der Film nimmt dabei die Deutungsmuster aus Bayers 1972 bzw. 1974 erschienenem Klassiker „La Patagonia Rebelde“ (dt. Aufstand in Patagonien, Aschaffenburg 2010, Besprechung in ila 346) auf. Wiederum sind es Fragen nach Landbesitz, die Bayer in „Awka Liwen“ thematisiert und die für ihn als Hauptmotiv für die gewaltsame Vertreibung der indigenen Bevölkerungsgruppen im späten 19. Jahrhundert gelten. Denn finanziert wurden die militärischen Kampagnen nicht nur durch Steuergelder, sondern vor allem durch Kredite von Viehzüchtern, die durch den geplanten Verkauf der Ländereien gedeckt wurden. Großgrundbesitzer wie die Familie Martínez de Hoz, die die einflussreiche Sociedad Rural Argentina gründete und später ca. 2 500 000 ha Land erhielt, galten dabei bei argentinischen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts als „junge, unternehmerische Rasse“, die das zuvor „ungenutzte“ Land „aufwerten“ sollten. Die Kontinuität dieser gesellschaftlichen Konfliktlinien zeichnet der Film bis in die Gegenwart nach, indem er beispielsweise den Agrarkonflikt im Jahr 2008 und die Landnahme durch den Konzern Benetton in Patagonien thematisiert.

Die Konzentration des Films auf wirtschaftliche Faktoren als Ursache für die Militärkampagnen erscheint allerdings verkürzt, schließt diese doch ebenso wichtige geostrategische Aspekte wie die Grenzkonflikte mit Chile aus. Auch ist, wie Bayer im Film erklärt, der hinter den Militärkampagnen stehende Rassismus nicht lediglich als eine „Art der Rechtfertigung, um sich die Territorien der indigenen Mitbürger anzueignen oder diese direkt zu versklaven“ zu deuten, sondern muss als untrennbarer Bestandteil argentinischer Gründungsmythen verstanden werden.

So besitzt der in Lateinamerika populäre Witz, dass die Mexikaner von den Azteken, die Peruaner von den Inkas, die Argentinier aber von den Schiffen abstammen würden, einen historisch verwurzelten Kern, weist er doch auf zentrale und wirkungsmächtige Leitmotive argentinischer Gründungsmythen hin: auf die Dichotomie von Zivilisation und Barbarei und die Idee eines „europäischen, weißen“ Argentinien. Die Orientierung im 19. Jahrhundert an den europäischen Nationen zeigte sich nicht nur am Lebensstil, sondern fand ihren Ausdruck vor allem in der argentinischen Bevölkerungspolitik. Gewollt waren (nord-) europäische Immigranten, die nicht nur als Arbeitskräfte dienen, sondern eben auch das südamerikanische Land mit ihrer europäischen Lebensweise „zivilisieren“ sollten. In das große argentinische „Zivilisations- und Modernisierungsprojekt“ wurden die pueblos originarios nicht integriert, welche, wie Bayer im Interview betont, innerhalb des im 19. Jahrhunderts vorherrschenden evolutionistischen Diskurses als „Wilde“ und „Barbaren“ bezeichnet wurden. 

Auf die Feldzüge und die gewaltsame Vertreibung der indigenen Bevölkerungsgruppen folgte, wie der Film auch zeigt, eine Politik der Invisibilización, des Verdrängens sämtlicher indigener Kulturelemente innerhalb der argentinischen Gesellschaft: Indigene Männer wurden zur Arbeit in Viehzucht- und Agrargütern gezwungen und Frauen wie Kinder wurden als Dienstpersonal an argentinische Oberschichtfamilien regelrecht verteilt. Zum „Schutz“ europäischer, „zivilisierter“ ImmigrantInnen entstanden marginalisierte „Missionsdörfer“ und Reservate, die die Indigenen immer mehr aus der argentinischen Gesellschaft verdrängten. Die zunehmende Verelendung der Indigenen wurde ihnen als „Minderwertigkeit“ angelastet und ihnen deshalb eine Reihe von Bürgerrechten entzogen. Die Zwangsassimilation an die europäische Kultur und die Verdrängung der Indigenen führte im 20. Jahrhundert dazu, dass sie immer mehr aus dem kollektiven Gedächtnis verschwanden und sich die Idee durchsetzte, die indigene Bevölkerung sei während der spanischen Conquista ausgerottet worden. 

Die historischen Kontinuitäten vom Verschweigen und Verleumden der indigenen Wurzeln sind bis heute deutlich spürbar, wie der Film durch vielerlei Bezüge zur Gegenwart pointiert aufzeigt: Da findet sich beispielsweise der Verweis auf Clarín, Argentiniens größte und einflussreichste Tageszeitung, die noch im Jahr 2008 historische Bilder indigener Frauen als „exotisch“ betitelte und damit diesen Teil der argentinischen Geschichte immer noch als fremd und ausländisch begreift. Auch die Diskriminierung von nicht-europäisch wirkenden Personen mit dunkler Hautfarbe ist bis heute Teil des Alltags, sie zeigt sich unter anderem daran, dass Indigene und deren Nachfahren der Polizei verdächtiger erscheinen als ihre europäisch aussehenden MitbürgerInnen. Angesichts neuer anthropologischer Studien, die zeigen, dass mindestens 63 Prozent der argentinischen Bevölkerung indigener Abstammung ist, ist die heutige Diskriminierung nicht nur „traurig“, wie Bayer im Film sagt, sondern in höchstem Maße widersprüchlich.

Doch die Fassade des „weißen, europäischen“ Argentiniens scheint langsam zu bröckeln. Argentinische und ausländische HistorikerInnen widmen sich mehr und mehr diesem Thema, die argentinischen Gründungsmythen, deren Repräsentanten und der genozidale Charakter der „Feldzüge“ werden diskutiert und hinterfragt. In der öffentlichen Erinnerungskultur jedoch sind die „großen Helden“ noch immer, im wahrsten Sinne des Wortes, „monumental“ vertreten wie Bayer im Interview erklärt: „Mittlerweile versteht man [die Feldzüge] als fürchterliches Verbrechen, jedoch gibt es … immer noch Denkmäler für Roca1 in ganz Patagonien und das größte Denkmal in Buenos Aires ist nicht etwa das von San Martín, den wir nach Retiro [Stadtteil im Nordosten von Buenos Aires, Anm. der Verfasserin] schickten. Währenddessen befindet sich Roca dort, 90 Meter von der Plaza de Mayo entfernt, das Regierungsgebäude betrachtend, als würde er sagen ‚Huhu, hier bin ich'.“

So sitzt für Bayer der noch während der Militärdiktatur als großer Nationalheld gefeierte Julio Argentino Roca vollkommen zu Unrecht auf seinem hohen Ross, und zwar nicht nur, weil Roca, wie Bayer mit einem Lächeln erzählt, wegen einer Krankheit niemals reiten konnte, sondern vor allem, weil dieser eine militärische Lösung der „Indianerfrage“ vehement vertrat und die Feldzüge Ende des 19. Jahrhunderts anführte. 

Bayer selbst setzt sich seit den 60er-Jahren für eine Sichtbarmachung des indigenen Erbes in der argentinischen Erinnerungskultur ein. So versuchte er, eine Umbenennung der Stadt Coronel Rauch in der Provinz Buenos Aires zu erwirken. Oberst Frederico Rauch hatte an den militärischen Expansionskampagnen in den späten 1820er-Jahren teilgenommen und war für sein hartes, grausames Vorgehen gegen die Ureinwohner der Pampa bekannt. Die Umbenennung scheiterte nicht nur, sie brachte Bayer sogar für 73 Tage ins Gefängnis. Damaliger Innenminister unter der Regierung José María Guidos war Juan Rauch, Nachfahre von Federico Rauch. 

Rund 40 Jahre später startete Bayer eine neue Initiative: Regelmäßig veranstaltete er Informationsabende am Denkmal für Julio A. Roca, hielt Vorträge in ganz Argentinien und gründete eine Organisation (Monumento a la Mujer Originaria) für die Ersetzung des Roca-Monuments durch ein Denkmal zu Ehren der indigenen Völker, symbolisiert durch die indigene Frau, die „tatsächlich [ein Denkmal] verdient hat, denn in ihrem Körper hat sich der criollo, der Mestize, entwickelt, welcher der Soldat unserer Unabhängigkeit war“. 

Die Schaffung eines „Gegendenkmals“ macht nach dem Kulturwissenschaftler Jan Assmann das Erinnern an prägende Ereignisse innerhalb des kollektiven Gedächtnisses erst möglich. Das ist notwendig und wichtig, da die „großen Meistererzählungen“ die Geschichte der indigenen Bevölkerung bislang nicht als Teil der argentinischen Geschichte begriffen haben. Die kritische Neubewertung der „Wüstenfeldzüge“, ihrer Akteure und der dahinter stehenden Motive schlägt in der öffentlichen Debatte hohe Wellen und bedeutet auch den Kampf gegen die alten Kader der Militärdiktatur. So haben ausgerechnet die Enkel des unter Hausarrest stehenden José Alfredo Martínez de Hoz, Ex-Wirtschaftsminister unter General Videla, das Filmteam von „Awka Liwen“ wegen Verleumdung verklagt.

Für Bayer ist es bereits ein Erfolg, dass der Film nicht, wie „Patagonia Rebelde“ zuvor, verboten wurde. Doch die Krisen der letzten Jahrzehnte und die Aufarbeitung der Militärdiktatur haben zu einem Bewusstseinswandel geführt, der auch einen kritischen Blick auf den Umgang mit der eigenen Geschichte einschließt. Zwar sitzt Julio A. Roca immer noch hoch zu Ross, doch das Monument ist mittlerweile von Farb- und Teerklecksen überhäuft, die weiße Weste des „Zivilisationsbringers“ ist befleckt.

  • 1. Julio Argentino Roca, Kriegsminister während der Präsidentschaft Avellaneda (1874-1880) und Umsetzer der Wüstenfeldzüge, später selbst zweimal Präsident von Argentinien (1880-1886 und 1898-1904)

Annika Hartmann (Interview & Text) und Steffen Lehnert (Interview) sind Mitglieder der LAMA (Lateinamerikagruppe Marburg)