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Nummer 23 wird geräumt

Fußballweltmeisterschaft und Olympische Spiele werfen ihre Schatten voraus

In Rio de Janeiro stehen mit Fußballweltmeisterschaft 2014 und Olympischen Spielen 2016 zwei Mega-events an, die die Stadt nachhaltig verändern werden. Massive Investitionen in Infrastruktur, Hotels und Sportstätten werden in den nächsten Jahren erfolgen. Angesichts des ohnehin gigantischen Investitionsbooms in Öl-, Gas- und Schwerindustrie in der Region verändert sich die Wohn- und Lebenssituation in der Stadt: Mieten steigen rasant, BewohnerInnen ärmerer Viertel müssen ihre Häuser räumen, wenn diese den geplanten Milliardenbauten im Wege stehen. Entschädigungen werden gezahlt, aber nicht immer ausreichend, und vor allem wird die mangelnde Transparenz seitens der Behörden kritisiert. Oft erfahren die Betroffenen nicht einmal, warum sie ihre Häuser räumen müssen.

Christian Russau

Früh am Morgen wollte sich Dona Zilda auf den Weg zur Arbeit machen. Dona Zilda, 51 Jahre alt, arbeitet als Putzfrau, ihr Mann war bei der Stadtreinigung, bis er vor 18 Jahren als berufsunfähig aus dem Dienst ausschied und seither eine Minirente erhält. Sie und ihr Mann haben vier Kinder, eines mit Downsyndrom, das von der Familie betreut wird. Eines ihrer Enkelkinder wird auch von Dona Zilda aufgezogen, wohnt bei ihnen in dem Häuschen im Morro da Coroa, in der Favela am Ausgang des vielbefahrenen Tunnels Santa Bárbara nahe des weltberühmten Sambódromos da Marquês de Sapucaí, wo alljährlich die pompösen Karnevalsaufzüge abgehalten werden. Mitte März war der diesjährige Karneval gerade vorbei und die BewohnerInnen der Millionenmetropole Rio de Janeiro gingen wieder ihrer alltäglichen Arbeit nach. Doch als Dona Zilda an diesem Morgen ihr Haus verließ, war da der Mann von der Präfektur vor ihrem Haus und sagte ihr, dass das Haus abgerissen werden müsse, und hat an ihr Haus groß die Nummer 23 mit einem Pinsel gemalt. Der Mann sagte ihr, sie werde eine Entschädigung bekommen und dass das Haus vermessen werde. Auf die Frage nach dem Warum wusste der Mann keine Auskunft zu geben.

Auch die in den folgenden Tagen von Dona Zilda und ihrem Mann getätigten Behördengänge gaben keine abschließende Erklärung über das Warum. Liegt ihr Haus in einer Risikozone, die bei schweren Gewittern erdrutschgefährdet ist? Oder sind bei den zehn im Morro da Coroa betroffenen Häusern Bauarbeiten der Stadt geplant? Dona Zilda vermutet, dass der Zugang zum nahe gelegenen Sambódromo erweitert werden soll, und dazu seien ihre Häuser im Weg. Aber genau weiß sie es bis heute nicht. Aber eine Entschädigung für ihr Haus in Höhe von 55 000 Reais hat sie nun im Juni bekommen und so konnte sie in der Favela im Morro da Falete, ein wenig abgelegener als zuvor, aber immer noch im zentrumsnahen Santa Teresa, ein neues Häuschen für sich und ihre Familie kaufen. „Damit haben wir Glück gehabt, die Nachbarn, deren Haus ebenfalls weichen muss, haben noch nichts bekommen, es wächst unter den Leuten das Misstrauen und der Neid“, erzählt Dona Zilda.

Im Sambódromo wurden die Bauarbeiten kurz nach dem Karneval aufgenommen. Das ganze Gelände soll erneuert und die Plätze von derzeit 60 000 auf 75 000 ausgebaut werden, neue Zufahrtsstraßen werden gebaut, angrenzende Bewohner des Stadtteils Catumbis mussten ihre Häuser räumen, auch die alte Brauerei Brahma musste weichen, um Platz zu machen für das neue Sambódromo. Spätestens zum nächsten Karneval muss alles fertig sein. Doch es ist nicht nur der nächstjährige Karneval, der die Behörden so antreibt. Im Sambódromo werden bei den Olympischen Spielen 2016 die Disziplinen Bogenschießen sowie der Marathon stattfinden. Und so wie im Sambódromo wird wegen der anstehenden Großevents – 2014 Fussballweltmeisterschaft und 2016 Olympische Spiele – überall in Rio gebaut. Neuesten Zahlen der Präfektur zufolge werden allein in Rio de Janeiro für WM und Olympia 11,5 Milliarden Reais investiert. Doch allein schon diese Zahlen werden durch einen vom vormaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva unterzeichneten Vertrag mit dem IOC über die von brasilianischer Seite in die Ausrichtung der Olympischen Spiele zu investierenden 29 Milliarden Reais konterkariert. Und Mitte Juni dieses Jahres wurde in Brasília eine Gesetzesvorlage verabschiedet, nach der laut der Tageszeitung Folha de São Paulo die Kosten für WM-Bauten nicht veröffentlichungspflichtig sein sollen.

Die für WM und Olympia in Rio anstehenden Milliarden können gleichwohl nicht über das gegenwärtige Ausmaß des allgemeinen Wirtschaftsbooms im Bundesstaat Rio de Janeiro hinwegtäuschen. Denn die Milliarden für die Megaevents sind nur ein Bruchteil dessen, was in Rio de Janeiro zur Zeit von öffentlicher und privater Hand insgesamt investiert wird. Öl- und Gassektor, Stahl- ebenso wie Chemieindustrie und Hafenprojekte sind im Rahmen des zigmilliarden schweren Programms zur Beschleunigung des Wirtschaftswachstums (PAC) vorgesehen. Der Präsident der Industriekammer (FIRJAN) von Rio de Janeiro, Eduardo Eugenio Gouvêa Vieira, bezifferte im April dieses Jahres die öffentlichen und privaten Investitionen für die Jahre 2011 bis 2013 im Bundesstaat Rio de Janeiro auf 181 Milliarden Reais (umgerechnet 79,1 Milliarden Euro). Dies entspricht bei einer Fläche von 43 700 Quadratkilometern, die der Bundesstaat hat, einer Investition von vier Millionen Reais pro Quadratkilometer – weltweiter Spitzenplatz. Der Löwenanteil geht dabei mit 88,3 Milliarden Reais als Investitionen in den Öl- und Gassektor, 14 Milliarden Reais in den Stahlwerksektor, 11,5 Milliarden Reais in den Logistikbereich und sieben Milliarden Reais für Atomkraftwerke.

Was haben diese massiven Wirtschaftsinvestitionen in der Region mit der Wohn- und Lebenssituation der BewohnerInnen zu tun? Arbeitsplätze sagen die einen, Vertreibung sagen die anderen. Denn dieser beispiellose Wirtschaftsboom im Bundesstaat Rio de Janeiro zieht gut bezahlte Businessangestellte ebenso wie gut situierte UnternehmerInnen an und alle wollen dort auch wohnen oder noch besser Immobilien besitzen. Die Folge: Die Preise und Mieten im Zentrum und in der sogenannten Zona Sul steigen und steigen, da können ärmere Bevölkerungsschichten kaum mehr mithalten. Laut der Tageszeitung O Globo sind die Mieten in Rio in den letzten drei Jahren für Einzimmerwohnungen stadtweit um 76 Prozent gestiegen; die Kaufpreise für die gleiche Wohnungsgröße erhöhten sich um 104,6 Prozent im gleichen Zeitraum. Und zentrumsnah und in der Zona Sul noch weitaus mehr. Wie kann eine Lehrerin bei einem Gehalt von 728 Reais eine Miete zahlen, die zentrumsnah nahezu ihr gesamtes Einkommen verschlingen würde? Ein Feuerwehrmann verdient rund 960 Reais im Monat – kein Wunder, dass es im Juni zu den größten Demonstrationen von Feuerwehrmännern kam, die je in der Geschichte von Rio stattfanden. Selbst für Ärzte, die im öffentlichen Dienst angestellt sind, dürfte es nicht leicht sein, bei einem Gehalt von 1260 Reais die aktuell weiter steigenden Mieten zu zahlen. Für Politiker mit einem Gehalt von 17 000 Reais im Monat dürfte Miete in Zentrumsnähe oder Zona Sul allerdings das geringste aller Probleme sein.

Und dieser Region – der große Bogen um Zentrum und Zona Sul – wurde Mitte Juni dieses Jahres ein besonderes Geschenk von der Stadt gemacht. Sogenannte „befriedende Polizeieinheiten“ (UPP) besetzten mit Mangueira die achtzehnte Favela, um die Präsenz des Staates dort nach jahrzehntelanger Abwesenheit wieder einzuführen und um die Drogenkriminalität einzubinden. Diese nunmehr achtzehn von UPP „befriedeten“ Stadtteile bilden den großen Bogen um Zentrum und die reiche Zona Sul und schließen dabei auch die zentralen WM- und Olympiastätten im Stadtgebiet mit ein. Kritische Stimmen werfen der Regierung von Rio denn auch gleich vor, alles nur auf die Großevents, die Sicherheit der reichen Viertel sowie auf die Augen der Weltöffentlichkeit abgesehen zu haben. Diese Kritik hat durchaus ihre Berechtigung, vergleicht man die Lokalisierung der UPP mit den für die Spiele neuralgischen Stadtteilen. Für den Sozialökonomen Allan Mesentier offenbart sich in Rio derzeit „die Perspektive der Durchführung der Megaevents WM und Olympia als Vorwand, um das Gebiet im Dienste der Politik der Expansion des Kapitals umzugestalten. Nicht umsonst wird zuerst der touristische Korridor durch die UPP geschützt“, so Mesentier. Dennoch zollen auch Kritiker dem Ansatz der UPP eine gewisse Anerkennung. „Vergleichen wir doch einfach die Situation mit der, wie es vorher war“, so der Gewaltforscher Ignacio Cano (vgl. Beitrag in dieser ila, S. 12). „Da konnte es doch nur besser werden“, erläutert Cano, fügt aber auch hinzu, dass das nicht bedeute, dass nun alles in Fragen von Kriminalität, Gewalt und Sicherheit sich zum Guten wende. Laut Cano könnten die UPP eine „einmalige Chance sein, die Lage in der Stadt zu ändern“. Seinen Schätzungen zufolge gibt es in ganz Rio de Janeiro an die 1000 von Drogengangs und sogenannten Mafiamilizen kontrollierte Stadtteile. Angesichts dessen fragt Cano, wie lange es wohl dauern würde, bis alle Favelas mit UPP-Einheiten befriedet würden. „Und die große Frage dabei wird sein“, so Cano, „schaffen wir mit den UPP etwas, was über 2016 hinausgeht?“

Was über 2016 mit Sicherheit hinausgehen wird, ist die zunehmende Vertreibung angestammter BewohnerInnen aus ihren Häusern, wenn sie den Interessen der Stadt für den großen Umbau für WM und Olympia im Wege stehen. Soziale Bewegungen haben angesichts drohender Vertreibungen im Internet einen „Zwangsvertreibungszähler“ eingerichtet (www.contadordedespejos.kit.net/). Zum 19. Juni 2011 wurden dort 2092 zwangsgeräumte Personen in Rio de Janeiro gezählt. Der US-amerikanische Stadtforscher Christopher Gaffney schätzt die wegen WM und Olympia noch anstehenden Räumungen in der Stadt auf 10 000 Menschen in 119 Favelas. Der weitaus größte Teil der Räumungen wird im Zusammenhang mit den Bus Rapid Transit – BRT – Schnellbusstraßenprojekten Transcarioca und Transoeste sowie den direkten Orten für die olympischen Bauten, deren Zufahrten und Parkplätzen vermutet. Viele der Bauvorhaben werden gerade erst in Angriff genommen, so dass die Betroffenen erst jetzt davon erfahren. Transparenz auf jeden Fall sieht anders aus. Dies meint die UNO-Sonderberichterstatterin für angemessenes Wohnen, Raquel Rolnik. Rolnik warf Ende April den Präfekturen der brasilianischen WM-Städte vor, für die anstehenden Infrastrukturmaßnahmen zur Fußball-WM Zwangsräumungen von BewohnerInnen vorzunehmen. Die Regierung von Rio de Janeiro wurde von Rolnik auch wegen Räumungen im Zusammenhang mit den 2016 anstehenden Olympischen Spielen explizit kritisiert. Rolnik charakterisierte das Vorgehen der WM-Städte als mögliche Menschenrechtsverletzung. „Ich bin besonders besorgt... über den Mangel an Transparenz, Beratung und Dialog, Mangel an fairer Verhandlung und die fehlende Einbeziehung der betroffenen Gemeinden“, sagte Rolnik. Auch die Entschädigungszahlungen für die Zwangsgeräumten seien zu gering, mahnte die UNO-Sonderberichterstatterin an. Angesichts dieses eklatanten Mangels an Transparenz, Dialog, Verhandlung und Partizipation sollten die Stadtregierungen alle im Zusammenhang mit Fußball-WM und Olympischen Spielen stehenden Räumungen umgehend stoppen, so Rolnik. Auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International nimmt derzeit die Vorgänge rund um WM-Räumungen näher unter die Lupe.

Sogar die Bundesstaatsanwaltschaft in Brasilien befürchtet „massive Umsiedlungen“ von ärmeren Bevölkerungsschichten wegen der geplanten Baumaßnahmen für die Fußball-Weltmeisterschaft 2014. Da die Fußball-WM ein Projekt mit Auswirkungen auf das ganze Land sei, müsse sich die Staatsanwaltschaft auf Bundesebene des Falles annehmen. Dazu habe die Bundesstaatsanwaltschaft Procuradoria Federal dos Direitos do Cidadão in der Hauptstadt Brasília eine Sonderarbeitsgruppe mit dem Namen „Megaevents und angemessenes Wohnen“ gegründet, um die Vorgänge rund um die Fußball-WM aus der Nähe zu verfolgen. Und die Staatsanwaltschaft im Bundesstaat São Paulo kündigte an, die Vorgänge um die sozialen Auswirkungen rund um die geplanten Baumaßnahmen zur Fußball-WM ebenfalls unmittelbar zu verfolgen. Dazu habe der Bundesstaatsanwalt in São Paulo, José Roberto Pimenta Oliveira, bereits im Januar dieses Jahres Amtsanfragen an diverse Bundes-, Landes- und Bezirksbehörden versandt, um „detaillierte Informationen über die Prozesse der Umsiedlung und Wiederansiedlung von Familien zu erhalten“. Diese Informationen seien von essenzieller Bedeutung, um die Legalität und Ordnungsmäßigkeit der Maßnahmen der Behörden zu überprüfen, so Staatsanwalt Pimenta Oliveira.

Für Dona Zilda und ihre Familie kommen diese Initiativen zu spät. Sie muss Ende Juni ihr Haus am Morro da Coroa räumen. Auf die Frage „Ist das jetzt gut ausgegangen oder nicht?“ sagt Dona Zilda: „Jetzt ist der Weg zur Arbeit viel weiter und umständlicher, der Weg zur Schule der Kinder ebenfalls, zum Arzt, zur Kirche, eine ganz wichtige Zeit in unserem Leben geht zu Ende.“ Das Haus war ein Symbol für sie, dass es im Leben aufwärts gegangen war, ein Symbol für alles, was sie in den letzten Jahrzehnten gemeinsam aufgebaut hatten. Sie versucht, der Sache etwas Positives abzugewinnen: Im neuen Haus werde genug Platz sein, dass ihre Tochter, die gerade geheiratet hat, mit einziehen kann. Dona Zilda will noch vor dem Abriss ein Abschiedsfoto vom alten Haus machen, damit etwas von dieser Zeit bleibt.