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Das Kriterium der Zungen

Anthologie zu argentinischen Autorinnen der Gegenwart
Britt Weyde

„Disco“ heißt eine argentinische Supermarktkette. Ein solcher Konsumtempel entsteht beim Lesen der Kurzgeschichte „Das Tor zum Himmel“ unmittelbar vor dem inneren Auge. Der Autorin Alejandra Laurencich gelingt es, im Gedankenstrom der Erzählerin während ihres Einkaufs, der durch Selbstdisziplin und -zermaterung gekennzeichnet ist, ein Portrait der polarisierten Klassengesellschaft Argentiniens zu entwerfen. Der erste Beitrag der Anthologie Die Nacht des Kometen. Argentinische Autorinnen der Gegenwart katapultiert die LeserInnen in das aktuelle Argentinien nach der letzten großen Wirtschafts- und Politikkrise im Jahr 2001. Das einst so prosperierende und stolze Land war von Militärdiktatur und neoliberaler Ausverkauf systematisch heruntergewirtschaftet worden. Die Folgen davon kommen in einigen Erzählungen des Sammelbandes schmerzlich zur Sprache.

Insgesamt ist die Themenpalette der 14 Kurzgeschichten jedoch viel breiter. Herausgeberin Marion Dick, Lektorin und Übersetzerin, versammelt in ihrer Anthologie Autorinnen zwischen 28 und 82 Jahren, die Hälfte davon ist jünger als 40 Jahre. Etablierte Namen (wie z.B. Liliana Heker, von der die Titelgebende Geschichte „Die Nacht des Kometen“ stammt, oder Angélica Gorodischer, siehe ila 335 zu „Literatur aus Argentinien“) stehen neben Namen, die zumindest in Deutschland absolut unbekannt sein dürften. In ihrer Einleitung schreibt die Herausgeberin über den Hintergrund der Anthologie: Es handele sich um „zeitgenössische Autorinnen, die einen engen Bezug zum gegenwärtigen Argentinien haben und das literarische Leben in ihrem Land beeinflussen oder es in der Vergangenheit wesentlich mitgeprägt haben.“ Das scheint ein ziemlich allgemeines Kriterium zu sein. Vielleicht mag die Auswahl schwer gefallen sein, sie ist aber letztlich gelungen, denn die Lektüre der 14 Kostproben macht durchweg Lust auf mehr.

Die eingenommenen Erzählperspektiven sind vielfältig, auch im Hinblick auf Dramaturgie und Stil unterscheiden sich die Erzählungen beträchtlich. „Die Dauer der Greta Bo“ von Carla Imbrogno (1978) ist zum Beispiel collagenhaft, das Sujet jedoch eindeutig: Der Protagonistin tut sich nach dem Ende einer Beziehung sprichwörtlich der Boden unter den Füßen auf. Sie verharrt monatelang in einer Asphaltspalte und versucht einen Umgang mit ihrem emotionalen Müll zu finden. Dabei fallen geistreiche Sätze über Liebe, Beziehungsmuster und Sex: „Von Anfang an geirrt würde ich nicht sagen, vielmehr habe ich das Kriterium der Zungen stur bis in die letzte Konsequenz verfolgt. (…) Beim Küssen gehorchen die Münder der Eingebung. Statistisch gesehen bedeutet ein guter Kuss einen guten Fick.“

Um eine andere Art von Beziehung geht es in „Auftragsverbrechen“ von Mónica Müller (1947), nämlich um das ambivalente, wenn nicht gar zutiefst abhängige Verhältnis der Ich-Erzählerin zu den Kakerlaken in ihrer Wohnung. In ihrer obsessiven Beschäftigung mit dem Ungeziefer geht sie letztlich höchst empathisch mit einer ihrer neuen Mitbewohnerinnen um.

Die bei der Mehrzahl der vertretenen Autorinnen wahrnehmbare Gender-Perspektive wird in „Silhouetten“ von Estela Smania (1942) mit am deutlichsten. Es geht um zwei Frauen und ihre Körper: der eine alt, der andere jung. Bei beiden steht der Bauch im Zentrum der Aufmerksamkeit. Im Leben der Frauen scheinen Einschränkungen und Beschränkungen zu überwiegen, ganz gleich, ob sie nun alt und Demenzgeplagt oder jung und angenervt vom kalten, abwesenden „Partner“ sind.

„Die heitere Zivilisation der Hauptstadt“ von Samanta Schweblin (1978) hingegen nimmt keine explizit weibliche Perspektive ein, vielmehr handelt es sich um eine universell gültige Parabel auf eine totalitäre Gesellschaft: Der Büroangestellte Gruner kommt von einem Provinzbahnhof nicht fort, da er über kein Kleingeld verfügt. Doch er ist nicht allein mit seiner misslichen Lage. Das Bahnwärterpärchen kümmert sich mit fürsorglicher, zugleich erdrückender Aufmerksamkeit um ihn und Gruner wird noch verblüffende Entdeckungen machen. 

In „Alicia“ von Ángela Pradelli (1959) wird die „Liebe“ eines Bankangestellten zu einer Schaufensterpuppe erzählt, die er auf dem Bürgersteig findet und mit nach Hause nimmt. Er umsorgt und umhegt sie, bringt ihr Dessous mit, trägt sie buchstäblich auf Händen. Die Frau eines Kollegen, die ihn immerhin gelegentlich sonntags bekocht, findet er dagegen „unausstehlich“. Seine Alicia ist die perfekte Partnerin. Wenn die Leserin dies zunächst naiv oder Mitleid erregend findet, so ahnt sie doch, dass diese Liaison auf Dauer nicht gut gehen kann. Die brutale Erkenntnis stellt sich aufgrund einer Parallele zur realen Welt am Ende der Geschichte ein: Gerade dieses Frauenideal, das der Protagonist hoch hält – passiv, ohne Widerworte, absolutes Objekt –, liegt der misogynen Gewalt in Lateinamerika, und nicht nur dort, zugrunde. 

Geschlechterkrieg, Mittelklassenaktivismus sowie ein Mutter-Tochter-Verhältnis vor dem Hintergrund des Krisensommers 2001 werden wunderbar ironisch in der Erzählung „Zeitgenössische Variation des Guerillakriegs“ von Pola Oloixarac (1977) verquickt. Das tut schon fast weh, wie die Mutter der Erzählerin – und nicht nur sie – demontiert wird. Aber lest selbst.

Marion Dick (Hrsg.), Die Nacht des Kometen. Argentinische Autorinnen der Gegenwart, edition 8, Zürich 2010, 19,00 Euro