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Haben alle gewonnen?

Komplexe Ergebnisse der Volksbefragung in Ecuador

„Gewonnen haben alle“, meinte Fander Falconí, der ehemalige Außenminister der Regierung Correa und bis heute ein führender Kopf der Regierungspartei Alianza País, nach der Volksbefragung am 7. Mai in Ecuador. Für alle zehn von der Regierung vorgeschlagenen Fragen stellte der Nationale Wahlrat eine Stimmenmehrheit fest. Damit hat der Präsident zum fünften Mal in Folge eine Abstimmung gewonnen, für die traditionell instabilen politischen Verhältnisse in dem Andenstaat eine bemerkenswerte Tatsache. Auf der anderen Seite war es diesmal eine dünne Mehrheit und keineswegs der strahlende Sieg, den Rafael Correa zur Stabilisierung seiner Herrschaft angestrebt hatte und gebraucht hätte. Von daher mag man auch von einem Erfolg der Opposition von linken und indigenen Bewegungen sprechen, die zum Nein aufgerufen hatten. Weder inhaltlich noch strategisch konnte die consulta zu einer Lösung der Probleme der „Bürgerrevolution“ beitragen.

Frank Braßel

Die Volksbefragung beinhaltete ein buntes Sammelsurium an Fragen, blendete gleichzeitig notwendige strategische Debatten aus. Letztlich reagierte Correa mit der Initiative auf zwei massive Attacken gegen seine Regierung: – den Polizeiaufstand vom 30. September 2010 und – eine massive Kampagne der Rechten gegen den vermeintlichen Anstieg der Kriminalität im Land. Am 30. September hatte die Polizei landesweit gestreikt und den Präsidenten bei einem Besuch im Polizeihauptquartier von Quito mit Gewalt festgehalten, wobei Correa mit seinem arroganten und theatralischen Agieren die Zuspitzung des Konflikts mit zu verantworten hatte. Doch war die Aktion landesweit geplant, hatte Unterstützung beispielsweise der Parlamentsgarde, kleinerer Teile der Armee und rechter politischer Kräfte. Hintergrund des Putschversuches war vermutlich das Bemühen der Regierung, gegen die massive Korruption in der Polizei und ihre langjährige Verwicklung in Menschenrechtsverletzungen vorzugehen. Zwar stieg Correas Sympathiekurve nach dem 30. September an, doch zeigte sich die Labilität seines Regimes, das nur nach längeren Verhandlungen mit der Armeeführung die für ecuadorianische Verhältnisse brutale Niederschlagung der Polizeirevolte durchsetzen konnte.

Seit Herbst 2010 lancierten die ecuadorianische Rechte und ihre Medien eine aggressive Kampagne gegen die aus ihrer Sicht unzureichenden Maßnahmen der Regierung Correa zur Eindämmung der Kriminalität im Lande. Es kann nicht bezweifelt werden, dass es Probleme mit Verbrechen und deren Verfolgung sowie mit der Vorbeugung in Ecuador gibt, doch sind die Verhältnisse weit von denen etwa in El Salvador oder Rio de Janeiro entfernt. Der Andenstaat war lange ein Idyll in Sicherheitsfragen, mit der Wirtschaftskrise gegen Ende des vergangenen Jahrtausends und der darauf folgenden Dollarisierung hat sich diese Situation leider im Vergleich zu anderen Ländern auf dem Kontinent „normalisiert“. Angeführt vom Bürgermeister Guayaquils, Jaime Nebot, der sichtbarsten Figur der rechten Opposition, bestimmte das Sicherheitsthema über Wochen die Schlagzeilen, meist in völlig unsachlicher Form. So brachte die führende Tageszeitung El Comercio täglich ganzseitige Artikel, deren Schlagzeilen reißerisch den Anstieg des einen oder anderen Delikts anprangerten, während die im Text zitierten Statistiken das Gegenteil belegten. Doch es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Straftaten und insbesondere ihre unzulängliche Verfolgung Sorgen und Ärger in der Bevölkerung hervorrufen.

Von daher enthielt die consulta drei Fragen zum Straf- und Justizsystem, die Inhalte der rechten Stimmungsmache Nebots aufnahmen. So wurde entschieden, dass sowohl die Untersuchungshaft als auch die Zeit, nach der Tatverdächtige dem Untersuchungsrichter vorgeführt werden müssen, verlängert werden kann – aus menschenrechtlicher Perpektive sehr bedenkliche und nicht verfassungskonforme Maßnahmen. Außerdem wurde ein neues Übergangsgremium der Justizüberwachung und -reform geschaffen, das in den ersten 18 Monaten maßgeblich vom Entscheid des Präsidenten abhängen wird. Diese Abkehr von der klassischen Gewaltenteilung ist umso beunruhigender, als Correa seine eigene Rechtsinterpretation pflegt. Im Wahlkampf vor der consulta hat er persönlich angeordnet, Personen inhaftieren zu lassen, die ihm vermeintlich den Stinkefinger gezeigt oder ihn in öffentlichen Foren kritisiert hätten. Er hat Journalisten mit Millionenklagen überzogen und unter seinem Regime sind etwa 200 AktivistInnen der sozialen und Indígenabewegung aufgrund friedlicher Protestaktionen des „Terrorismus“ angeklagt worden. Wenn demnächst dem Präsidenten genehme Personen die Richter ernennen und abberufen können, ist das beunruhigend, wobei die Notwendigkeit einer radikalen Justizreform nicht in Frage steht.

Die meisten anderen Fragen hatten eher propagandistischen Charakter und bestätigten in erster Linie bereits existierende Gesetzes- oder Verfassungsprinzipien wie das Verbot der Beteiligung von Banken an Medien, die Strafandrohung bei Verstößen gegen die Sozialversicherungspflicht, die strafrechtliche Verfolgung im Fall von rechtswidrig erworbenem Eigentum oder die – nicht weiter spezifizierte – Einrichtung eines Medienkontrollgremiums. Zudem wurde in verschiedenen Kantonen das Verbot des Stier- und Hahnenkampfes sowie des Glücksspiels durchgesetzt.

Mit diesem kruden Gemisch der Volksbefragung wollte Rafael Correa den politischen Rückhalt der Regierung verdeutlichen und an die glorreichen Erfolge seiner vergangenen Wahlkämpfe anknüpfen. Dies ist nicht gelungen. Nur eine einzige Frage – zur Verlängerung der Untersuchungshaft – erhielt mit 50,4 Prozent eine knappe absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Trotz der Wahlpflicht war ein gutes Fünftel der 11,1 Millionen Wahlberechtigten am 7. Mai daheim geblieben, zwischen zehn und zwölf Prozent der abgegebenen Stimmen waren ungültig oder Enthaltungen. Die Ja-Stimmen hatten nur – je nach Frage – eine Mehrheit zwischen knapp drei und zehn Prozent der abgegebenen Stimmen. Weit enfernt von den erhofften 20 oder 30 Prozent Vorsprung wie bei den Verfassungsreferenden von 2007 und 2008, trotz einer umfassenden Wahlkampagne von Alianza País und Regierung sowie der Omnipräsenz des Präsidenten.

Noch bedrohlicher muss für Alianza País die geographische Verteilung der Ergebnisse erscheinen. Das Ja gewann insbesondere in der Küstenregion, traditionelle Hochburg der populistischen Rechten, mit deren Führer Nebot es faktisch ein stillschweigendes Übereinkommen gegeben hat. Das Ja gewann zwar auch in den Zentralprovinzen des Hochlandes, doch in der Hauptstadt Quito zeigten sich Einbußen in den bislang kritisch unterstützenden Mittelschichtsgruppen. Die Mehrheit der Andenprovinzen und des Amazonasgebiets stimmte gegen die Fragen des Referendums, bei dem es weniger um dessen Inhalte als vielmehr um die Haltung zur Regierung ging. 

Die Geographie gibt in diesem Fall Hinweise auf die jeweilige soziale Basis und ihre Erwartungen gegenüber der Regierung. Die ecuadorianische Küstenregion ist Heimat des Agrobusisness, regiert von einem Mix aus klientelistischen und mafiotischen Strukturen. Traditionell dominiert hier die Rechte, nun Alianza País, die die Rhetorik der starken Hand gegenüber der Delinquenz übernommen, zudem mit diversen Sozialprogrammen eigene klientelistische Strukturen geschaffen hat. Gleichzeitig bleibt die extrem ungleiche soziale Struktur unangetastet, so dass auch relevante Wirtschaftssektoren sich der Präsidentenbewegung angeschlossen haben und sie vor Ort häufig kontrollieren. 

Demgegenüber dominieren in den Anden und dem Amazonasgebiet die indigenen Gruppen und Organisationen, die sich mit linken Bewegungen und kritischen Intellektuellen um den ehemaligen Vorsitzenden der Verfassunggebenden Versammlung Alberto Acosta energisch und erfolgreich mit ihrer Kritik am Referendum und der Regierungspolitik zu Wort gemeldet haben. Obwohl die CONAIE, die stärkste indigene und soziale Bewegung Ecuadors, unter heftigen inneren Spannungen und Führungskrisen leidet, bleibt doch ihre Basis intakt, da diese auch von einer „linken“ Regierung in teils dramatischer Form Rassismus und Repression spürt und durch die geplante Ausbeutung der natürlichen Ressourcen im Bergbau- und Erdölsektor ihre Existenzgrundlage gefährdet sieht. Die Ergebnisse der Abstimmung dürften ihrem Widerstand Auftrieb geben.

Rafael Correa ist geschwächt aus der consulta hervorgegangen, zudem bereits vorher diverse Unterstützer aus der Bewegung Alianza País ausgestiegen waren. Hierbei ist die in Quitos kritischer Intellektuellenschicht verankerte Ruptura 25 mit der jungen Juristin und Abgeordneten María Paola Roma an der Spitze am relevantensten, die sich gegen „Tendenzen zur Machtkonzentration beim Präsidenten“ und den „Abbau von Mechanismen der Partizipation“ ausgesprochen hatte. 

Die Frage nach GewinnerInnen und VerliererInnen der Volksbefragung läßt sich wahlarithmetisch analysieren, aber auch politisch, wobei sich in allererster Linie der Verlust einer großen Chance feststellen lässt. Die Fragen waren mehr auf ein populistisches Spektakel hin orientiert als auf die Debatten über einen neuen Entwicklungsweg, wie ihn die Verfassung von 2008 vorsieht. Wie kann man die eklatanten sozialen Unterschiede in dem Andenstaat überwinden? In welcher Form sollte die extrem ungleiche Landverteilung und die von der Verfassung geforderte Entprivatisierung des Wassers vorangetrieben werden? Soll das Öl im ITT-Gebiet auch unter der Erde bleiben, wenn die Industriestaaten mit Deutschland an der Spitze sich ihrer Verantwortung entziehen sollten? Wie könnte ein Wirtschaftsabkommen mit der EU aussehen, das kein Freihandelsvertrag ist? Welche Formen von Partizipation führen zu einer Vertiefung der Demokratie? All diese Fragen blieben ungestellt und von daher auch unbeantwortet. 

Es gibt wenig Anzeichen, dass Präsident Correa eine Debatte solcher Fragen und damit auch den Dialog mit seinen linken KritikerInnen wünscht. „Jede Revolution hat ihre Verräter, Illoyale, Opportunisten, Konterrevolutionäre, das sollte uns nicht überraschen“, reagierte er auf die Kritiker, die inzwischen die Reihen von Alianza País verlassen haben. Demgegenüber fordern der eingangs zitierte Falconí oder Zentralbankchef Diego Borja ein Zugehen auf die Indígenabewegung, die Gruppe um Alberto Acosta und Ruptura 25.

Doch die Realpolitik scheint einen anderen Weg zu nehmen. Als erste Richtungsentscheidung nach der Volksbefragung kann die Ernennung eines neuen Landwirtschaftsministers gewertet werden: ein Mann der Zuckerindustrie, die Produktion und Verarbeitung wie kein anderer Sektor monopolisiert. Das ist wohl mehr ein Hinweis auf Agrartreibstoffe für den Export als auf die Förderung der Ernährungssouveränität und Demokratisierung der Wirtschaft.